Psychisch krank im Land des Glücks: Bhutan entdeckt die Psychiatrie – auf seine ganz eigene Art und Weise

Laird Harrison

Interessenkonflikte

8. Oktober 2019

Dr. Chencho Dorji aus Thimphu im asiatischen Bhutan war 19, als sein Bruder Wahnvorstellungen entwickelte und sich die Familie an traditionelle Heiler wandte. „Sie haben alles versucht, was es für sie gab“, erzählt er. „Beschwörungen, Riten, schamanische Praktiken.“ Aber nichts half.

Schließlich musste die Familie den verstörten jungen Mann im Zimmer einschließen. Als seine Eltern sich Jahre später nicht mehr um ihn kümmern konnten, streunte er in den Straßen umher.

 
Sie haben alles versucht ... Beschwörungen, Riten, schamanische Praktiken. Dr. Chencho Dorji
 

Solche Geschichten hört man aus dem Himalaya-Königreich immer häufiger. Zum Teil wird dies auf die rasante Urbanisierung und Entwicklung zurückgeführt, die in einigen Bevölkerungsgruppen Depressionen und andere psychische Erkrankungen immer häufiger werden lässt.

Bhutan öffnet sich langsam dem Westen – auch medizinisch

Im Jahr 2008 erregte Bhutan international Aufmerksamkeit, als es vorschlug, das „Bruttosozialglück“ statt des Bruttosozialprodukts als Bewertungsmaßstab für seinen Erfolg zu verwenden. Die Vorstellung, dass eine Regierung nicht nur materiellen Reichtum, sondern auch körperliche und geistige Gesundheit, soziale Bindungen und sogar Spiritualität schätzen sollte, hat vielleicht ironischerweise den Tourismus und die Entwicklung beflügelt, die sich nachteilig auf die kollektive geistige Gesundheit des winzigen Staates auswirken könnten.

„Wir müssen uns sehr dranhalten, um die Welt einzuholen“, sagt Dorji, der, nachdem traditionelle Heilmethoden seinem Bruder nicht hatten helfen können, an einer westlich orientierten medizinischen Hochschule promovierte. „Aber wir haben auch einen Großteil der Lasten erworben, die mit der Globalisierung verbunden sind.“

 
Wir müssen uns sehr dranhalten, um die Welt einzuholen. Dr. Chencho Dorji
 

Nach dem Medizinstudium ließ er sich in Sri Lanka zum Psychiater ausbilden und kehrte schließlich 1999 als erster Psychiater des Landes nach Bhutan zurück, dessen Kultur sich damals in einer Übergangszeit befand. Die Regierung des zurückgezogenen Königreichs erlaubte den Bürgern erstmals den legalen Zugang zu Fernsehen und Internet – ein Vorbote der bevorstehenden schnellen gesellschaftlichen Transformation.

Viele Veränderungen machten das Leben besser. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich zwischen 2003 und 2018 fast verdreifacht. Die Armutsrate ist entsprechend gesunken und die Alphabetisierung nimmt zu.

Aber das Land steckt in einer Art Identitätskrise, die Dorji und andere Personen in gehobenen soziokulturellen Positionen nur schwer bewältigen können.

Steigender Wohlstand, mehr psychische Erkrankungen

„Wir lebten für uns in den Bergen und wussten nicht, was wir nicht hatten“, sagt Needrup Zangpo, Geschäftsführer der Bhutan Media Foundation. „Jetzt sehen wir das alles.“ Die weltumspannenden Medien machen die Kinder der Bauern mit Bildern von glänzenden schnellen Autos, Gadgets und Geräten verrückt und schockieren sie mit immer neuen Darstellungen von Gewalt und Pornografie, sagt Zangpo.

Bhutans Jugend strömt jetzt in die Universitäten und in die Städte, aber es gibt nicht genügend Bürojobs für Angestellte und Akademiker. Die Arbeitslosenquote für junge Menschen mit Bachelor-Abschluss lag 2016 bei 67%.

„Auf einem Bauernhof arbeitet jeder mit, und am Abend finden alle ihren Platz am Kamin, und die Familie ist zusammen“, sagt Dorji. „Es gibt diesen schönen Traum vom besseren Leben in den Städten, aber ich sehe inzwischen auch, dass die Stadtbewohner gar nicht so glücklich sind.“

 
Wir lebten für uns in den Bergen und wussten nicht, was wir nicht hatten. Needrup Zangpo
 

Laut Dorji orientiert sich der Lebensstil vieler Familien in ganz Bhutan immer mehr am Westen. Zunehmend arbeiten beide Elternteile außerhalb des Hauses oder des Dorfes, und die Kinder werden mit Computerspielen oder Fernseher zuhause allein gelassen. Einstmals verschlafene Städtchen werden jetzt von Lärm, Staub, Verkehr und Kriminalität geprägt.

Obwohl die Inzidenz psychischer Erkrankungen in Bhutan geringer ist als etwa in den USA, hat es einen alarmierenden Anstieg bei den diagnostizierten psychischen Erkrankungen gegeben: Die Zahl der behandelten Fälle stieg von etwas über 2.000 im Jahr 2008 auf fast 3.700 im Jahr 2018. Dieser Zuwachs könnte teilweise auf eine größere diagnostische Aufmerksamkeit im Zuge der Verwestlichung des Landes zurückzuführen sein, doch selbst dann sind die Zahlen noch bemerkenswert.

Bhutan ist nicht das einzige Land, in dem es zu einer Zunahme der psychischen Erkrankungen bei gleichzeitig steigendem Wohlstand kommt. Die am weitesten entwickelten Länder weisen insgesamt eine relativ höhere Rate an Schizophrenie, selbstverletzendem Verhalten und Depressionen auf als die am wenigsten entwickelten Länder.

Bruttosozialglück statt Bruttosozialprodukt

Was das Land auszeichnet, ist, dass seine Führer sich seit Jahrzehnten um einen Weg bemühen, solche Gefahren zu vermeiden. Inspiriert von den buddhistischen Idealen des Mitgefühls haben sie mit ihrem groben nationalen Glücksprinzip versucht, ein „harmonisches Gleichgewicht zwischen materiellem Wohlbefinden und den geistigen, emotionalen und kulturellen Bedürfnissen unserer Gesellschaft“ zu verankern.

Obwohl das Konzept weltweit die Fantasie vieler Menschen beflügelte, sollte es nicht als Prahlerei missverstanden werden, sagt Dorji. „Wir sind nicht die glücklichsten Menschen der Welt, aber wir wollen es gern sein. Es ist nur ein Ziel, das wir uns gesetzt haben.“

 
Wir sind nicht die glücklichsten Menschen der Welt, aber wir wollen es gern sein. Dr. Chencho Dorji
 

Nach eigenen Schätzungen gelingt dies dem Land insgesamt. Von 2010 bis 2015 steigerte das Land sein Bruttosozialglück um 1,7%, wobei 91,2% der Befragten angaben, dass sie glücklich waren. Die Regierungsumfrage, die mehrere Elemente des Glücks betrachtete, ergab in den meisten Fällen Verbesserungen bei Lebensstandard, Gesundheit und Bildung. Aber es wurde auch ein Rückgang in den Bereichen „psychisches Wohlbefinden“ und „gesellschaftliche Lebendigkeit“ verzeichnet. Im Jahr 2015 klagten mehr Bhutaner über den Kampf gegen negative Emotionen wie Wut, Angst, Sorge, Egoismus und Eifersucht als noch 2010.

Traditionelle Ansätze und moderne Pharmakotherapie kombiniert

Um den wachsenden Herausforderungen durch psychische Erkrankungen begegnen zu können, haben die bhutanischen Ärzte an ihren traditionellen Ansätzen festgehalten und sie zugleich um Behandlungen aus entwickelten Ländern erweitert. Nachdem Dorji über Jahre der einzige praktizierende Psychiater des Landes war, wird er nunmehr von 3 weiteren unterstützt. Und er hat gesehen, welchen Unterschied die allopathische Medizin machen kann.

Psychotrope Medikamente wie Antipsychotika, Anxiolytika, Antidepressiva, Stimmungsstabilisatoren und Antiepileptika sind nun auch in Bhutan erhältlich. Dorji konnte bei seinem eigenen Bruder eine Schizophrenie diagnostizieren und ihm wirksame antipsychotische Medikamente verschreiben. „Jetzt ist er ein nützliches Mitglied der Familie“, sagt Dorji. „Manche Zustände haben biologische Ursachen, und die moderne Wissenschaft hat uns einige Antworten gegeben.“

Der hohe Medikamentenverbrauch im Jigme Dorji Wangchuck National Referral Hospital in Thimphu, wo 3 der Psychiater arbeiten, überrascht manchen westlichen Besucher. „In dieser Geschichte mit östlicher und westlicher Medizin treten manche buddhistischen Ärzte westlicher auf als der Westen selbst“, so Dr. Trina Nahm-Mijo, Professorin für Psychologie, Tanz und Frauenstudien am University of Hawaii Community College in Hilo, Hawaii, die zuvor im Jigme Dorji Wangchuck Krankenhaus arbeitete.

 
Manche Zustände haben biologische Ursachen, und die moderne Wissenschaft hat uns einige Antworten gegeben. Dr. Chencho Dorji
 

Nahm-Mijo fand heraus, dass selbst die nicht medikamentösen Behandlungen, die in der Klinik angewendet wurden, stark auf westlichen Konzepten basierten, nämlich auf der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) und nicht auf der Achtsamkeitstherapie, die ihren Ursprung im Buddhismus hat. In der KVT lernen die Patienten, irrationale negative Gedanken zu erkennen und ihnen vernünftigere entgegenzusetzen. Bei der Achtsamkeit hingegen erfährt man, Emotionen wertfrei wahrzunehmen, ohne auf sie zu reagieren. Beide Ansätze haben sich zur Behandlung von Erkrankungen wie Depressionen und chronischen Schmerzen als wirksam erwiesen.

Bei seiner Arbeit in Bhutan behandelte Nahm-Mijo viele Patienten mit der Sandspieltherapie. Dabei erstellen die Patienten mithilfe von Figuren in einem kleinen Sandkasten eine Art Diorama, das ihre Gedanken, Konflikte und die Umgebung der Betroffenen widerspiegelt. Es ist ein Ansatz, der sich verschiedener Elemente aus buddhistischen Heilpraktiken, der Psychologie nach C.G. Jung und der Spieltherapie bedient.

 
In dieser Geschichte mit östlicher und westlicher Medizin treten manche buddhistischen Ärzte westlicher auf als der Westen selbst. Dr. Trina Nahm-Mijo
 

„Es ist ein sehr buddhistischer Ansatz, weil er die Patienten dort abholt, wo sie stehen, und dann geht man gemeinsam in den Schattenbereich, wo all das verdrängte Zeug schlummert“, berichtet Nahm-Mijo. Ihre Kollegen in Bhutan gucken manchmal seltsam, doch bekunden sie zugleich auch ihre Bereitschaft, alles zu lernen, was ihren Patienten helfen kann, sagt sie.

Lange Reisen bis zum Krankenhaus erschweren Nachsorge

„Ein Grund für die Abhängigkeit von pragmatischen, kurzfristigen Ansätzen im Jigme Dorji Wangchuck-Krankenhaus ist, dass viele Patienten lange Reisen dorthin unternehmen, um eine Diagnose und eine Therapie zu erhalten, sich aber die Wiedervorstellung für einen Nachsorgetermin nicht leisten können“, weiß Melissa Milbert, Psychotherapeutin und Lehrbeauftragte an der Khesar Gyalpo University of Medical Sciences in Thimphu. „Ich habe Patienten, die tagelang unterwegs sind.“

Aber trotz der erneut gestiegenen Prävalenz erscheint ihr die KVT in Bhutan weniger wirksam als in Pittsburgh, Pennsylvania, wo sie 5 Jahre lang praktizierte, bevor sie nach Bhutan zog. Die KVT wurde vornehmlich von weißen, bürgerlichen Amerikanern entwickelt, während ein bhutanesischer Landwirt möglicherweise nicht den kulturellen Kontext hat, um die eigenen Gedanken in gleicher Weise zu untersuchen und zu reflektieren.

 
Ich habe Patienten, die tagelang unterwegs sind. Melissa Milbert
 

Das Konzept der Achtsamkeit sei Patienten in Bhutan vertrauter, aber das könne sich auch nachteilig auswirken, so Milbert. Denn viele ihrer Patienten mussten an der Achtsamkeitsmeditation in der Schule teilnehmen, was nicht selten als lästige Pflicht empfunden wurde. „Also muss ich es ein wenig anders verpacken.“

Die buddhistische Tradition bleibt ein wichtiger Teil der psychiatrischen Versorgung in Bhutan. Karma Gyeltshen, früher Mönch und heute akademischer Leiter am Royal Thimphu College in der Nähe von Thimphu, weiß, dass in den im ganzen Land verbreiteten Klöstern Depressionen und Ängste gelindert werden könnten. Dies geschehe durch die Gelassenheit, die dort herrsche, sowie durch die Gebete und Meditationen, die gelehrt würden. „Wenn es einem Bhutaner nicht gut geht, wird er eine Klinik aufsuchen“, sagt er. „Aber genauso wichtig ist es, ein Kloster zu besuchen.“

Mindestens eine Studie stützt die Vorstellung, dass Spiritualität und der Glaube an ein Karma vor psychischen Erkrankungen schützen.

Ein Mann dreht während eines Besuchs in einem bhutanischen Buddhistenkloster in Thimphu die Gebetsmühlen.

Der „National Happiness Survey“ im Jahr 2015 stellte einen Rückgang solcher spirituellen Praktiken in Bhutan fest. Viele von Milberts Klienten begannen mit Pujas, religiösen Ritualen, die im Buddhismus nach Möglichkeit täglich ausgeführt werden, als spiritueller Ansatz gegen ihr psychisches Leiden. Milbert stellte fest: „Sie landen nicht in der Psychiatrie auf der Suche nach westlicher Medizin, es sei denn, die Pujas sind gescheitert.“

 
Wenn es einem Bhutaner nicht gut geht, wird er eine Klinik aufsuchen. Aber genauso wichtig ist es, ein Kloster zu besuchen. Karma Gyeltshen
 

Die Ärztin Nime Deme vom Institute of Traditional Medicine Services in Thimphu sieht die Entwicklung in die umgekehrte Richtung laufen. „Viele Patienten werden zuerst in der Klinik behandelt“, sagt sie. „Geht es ihnen dabei nicht besser, kommen sie hierher.“

Nime Deme, Ärztin am Institute of Traditional Medicine Services in Thimphu, Bhutan.

So wie die bhutanische Staatsreligion vom tibetischen Buddhismus abstammt, ähnelt die traditionelle bhutanische Medizin stark der traditionellen tibetischen Medizin. Bei den meisten psychischen Erkrankungen beginnt Nime Deme mit einer Kräuterbehandlung. Sollte das nicht helfen, bietet sie heiße Kompressen an, gefolgt von der Goldenen-Nadel-Therapie (Serkhap), welche der Akupunktur ähnelt. Aber sie verordnet den Patienten für zuhause auch die Meditation. „Vielen Patienten geht es damit besser“, sagt sie.

Patienten im Wartebereich des Institute of Traditional Medicine Services.

Nach und nach gelingt es Bhutan, die unterschiedlichen Elemente in seiner psychologischen/psychiatrischen Versorgung miteinander in Einklang zu bringen. Sowohl die traditionelle als auch die allopathische Medizin werden vom staatlichen Gesundheitsdienst kostenlos angeboten, und ihre jeweiligen ärztlichen Vertreter arbeiten zusammen, manchmal sogar in den gleichen Räumlichkeiten.

 
Die traditionelle Medizin hat viele Vorteile. Die allopathischen Ärzte richten hingegen mitunter mehr Schaden an. Dr. Chencho Dorji
 

Dorji erkennt einen Nutzen in den vielfältigen Ansätzen. „Die traditionelle Medizin hat viele Vorteile“, sagt er. „Die Befragungen und Methoden dringen weniger tief in die Psyche des Patienten ein. Die verwendeten Medikamente sind vornehmlich Kräuter, die preiswert sind und wenige Nebenwirkungen haben. Die allopathischen Ärzte richten hingegen mitunter mehr Schaden an.“

Er hat Teams aus traditionellen Heilern, Mönchen, Schamanen und Psychotherapeuten zusammengestellt, um sich über Diagnosen auszutauschen und die für jeden Fall beste Behandlungsmethode zu finden.

Bei der Schizophrenie zum Beispiel habe aus seiner Sicht die allopathische westliche Medizin die besten Erfolgsaussichten. Bei psychosomatischen Störungen sieht er eher die traditionellen Methoden im Vorteil. „Für diese Patienten geht es weniger darum, ob die Krankheit besser wird, als vielmehr darum, ob sie mit dem, was sie bekommen, zufrieden sind“, sagt er. „Sie liegen zwar nicht im Bett, aber sie denken, dass sie krank sind. Das ist auch eine Möglichkeit, seinen Verantwortlichkeiten zu entkommen.“

Um die Flut psychischer Erkrankungen in Bhutan wirklich einzudämmen, glaubt Dorji, dass das Land Wege finden muss, seine spirituelle Tradition wiederzubeleben. „Es sind schöne Konzepte damit verbunden“, sagt er, „die Vergänglichkeit, das Mitgefühl, die Herzlichkeit, das friedliche Miteinander und das Aufeinander-angewiesen-sein. Wir müssen unser traditionelles buddhistisches Wissen nur nutzen.“

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

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