München – Die Diskussion drehte sich vor allem um Details. Dass die Telemedizin die hausärztliche Medizin grundlegend verändern werde, war auf dem Europäischen Gesundheitskongress in München zwischen Ärzten, KV-Vertretern und Unternehmern unstrittig. „(Haus-) ärztliche Versorgung der Zukunft – reell, virtuell oder hybrid?“, so der Titel der Veranstaltung [1].
„Bei uns kommt der Arzt zum Patienten“
Zu Gast: Dr. Andy Fischer, der Geschäftsführer des Schweizer Unternehmens Medgate und ein Pionier der Telemedizin. Er nahm für sein Unternehmen und seine Idee in Anspruch, dass Arzt-Patienten-Verhältnis wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. „Wir machen Medizin wieder wie früher“, sagte Fischer. „Bei uns kommt der Arzt zum Patienten, nicht umgekehrt.“ Die Gesundheitsversorgung werde dezentralisiert, statt sie in den Praxen zu konzentrieren. Diese Lösung sei besser, näher am Patienten und billiger, so Fischer.
Seit Jahren bietet Medgate ärztliche Beratung per Telefon oder Videokonsultation an. Rund um die Uhr können die Patienten mit einem der rund 300 Telemedizin-Ärzten Kontakt aufnehmen oder in eine der Mini-Kliniken gehen, wo sie eine Medizinische Fachkraft untersucht und gegebenenfalls online einen Arzt dazu schaltet.
Arbeitsunfähigkeits(AU)-Bescheinigungen, Rezepte oder Überweisungen werden ebenfalls elektronisch ausgestellt. „Das Konzept hat ein enormes Potential“, sagte Fischer, „denn wir können die Patienten-Journey durch das System steuern.“
48% der anrufenden Patienten konnten aus digitaler Distanz versorgt werden, so die Medgate-Statistik, und zwar für 5 bis 15% geringere Nettogesundheitskosten als die herkömmliche Versorgung.
„Die Leute erwarten eine Versorgung 24/7“
So weit wie in der Schweiz ist man in Deutschland noch lange nicht – auch nicht, wenn es sich um Modellprojekte handelt, wie bei dem Projekt docdirekt der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg. Das betonte Dr. Rita Bangert-Semb, Allgemeinmedizinerin und Ärztin bei docdirekt.
Die Bertelsmann Stiftung habe in einer Studie gezeigt, wie dringlich es sei, die Telemedizin in Deutschland voran zu bringen. „Andernfalls überlassen wir die Patienten dem Internet, und das Internet übernimmt keine Verantwortung für seine Tipps“, sagte Bangert-Semb.
Docdirekt steht allen gesetzlich Versicherten in Baden-Württemberg offen. Die Anrufer geben einer medizinischen Fachkraft (MFA) ihre Daten und eine kurze Beschreibung der Beschwerden. Die MFA macht darauf einen Termin mit dem Patienten, bei dem sich die passende Ärztin zurückmeldet – wenn der Patient sich online (z.B. per App) gemeldet hat, kann die Konsultation auch per Video laufen.
Ergänzt wird das Angebot durch eine Reihe von „patientennah erreichbaren Portalpraxen“ (PEP-Praxen), in die der Teledoktor seinen Patienten schicken kann, wenn persönlicher Kontakt nötig ist. AU-Bescheinigungen oder Rezepte können aber noch nicht online ausgestellt werden.
Auch die beschränkten Öffnungszeiten des Baden-Württembergischen Projektes lassen zu wünschen übrig. „An einer Erreichbarkeit von 24/7 geht kein Weg vorbei“, meint Bangert-Semb. „Wenn wir diesen Service nicht anbieten, wird das Wasser sich seinen Weg suchen. Denn die Patienten suchen die 24/7 Versorgung, aber finden bei uns nur Angebote wie in den 50er-Jahren.“
„5G gehört an jede Milchkanne!“
Dr. Jörg Berling, zweiter Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Niederachsen (KVN), sprach sich indessen für eine Hybridlösung aus, will sagen für die Kopräsenz digitaler und analoger Angebote in einer Hausarztpraxis, „jedenfalls für einige Jahre“, so Berling.
Das größte Problem für eine weiter reichende Digitalisierung der Versorgung sieht der KV-Mann in der knappen Arztzeit. Denn auch die telemedizinische Versorgung braucht Zeit – die der Arzt nicht hat. „Das ist das eigentliche Problem“, so Berling. Außerdem sei der Leitungsausbau im Flächenland Niedersachsen noch löchrig. „Die Infrastruktur muss aber stimmen, 5G ist an jeder Milchkanne nötig!“, betonte Berling.
Wer junge Ärzte aufs Land holen wolle, müsse dafür sorgen, dass auch auf den Dörfern die digitalen Versorgungsangebote zu den Patienten gelangen können. Schließlich kritisierte Berling auch das knappe Honorar, das für telemedizinische Anwendungen gezahlt wird: „Die Honorare sind pro Praxis und Quartal auf 500 Euro gedeckelt. Da ist eine Videosprechstunde nicht gerade reizvoll.“
Um die Landbevölkerung in Niedersachsen auf Dauer hausärztlich zu versorgen, setzt die KVN mit ihren 11 Bezirksstellen auf den Kontakt zu den Kommunen, um gemeinsam passende lokale Lösungen zu erarbeiten.
Es sei also hierzulande noch eine Menge zu tun, um zu den Schweizer Verhältnissen aufzuschließen, so die Referenten des Podiums. Nicht zuletzt deshalb, weil deutsche Ärzte verpflichtet sind, in ihren Praxisräumen zu praktizieren – auch telemedizinisch.
„Warum nicht Telemedizin-Sitze schaffen?“, schlug Fischer vor. „Dann könnten die Tele-Ärzte von zuhause arbeiten.“ In der Schweiz hat sich diese Frage von ganz allein beantwortet, sozusagen durch die Macht des Faktischen, meinte Fischer: „Bei uns arbeiten schon 60 Prozent der Tele-Ärzte von zuhause.“
Medscape Nachrichten © 2019
Diesen Artikel so zitieren: Die Schweiz macht´s vor: Telemedizin für den Hausarzt – der Arzt kommt zum Patienten - Medscape - 8. Okt 2019.
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