Ärzte für die Digitalisierung zu begeistern, ist schwer. Regelungen sollen nun mehr Sicherheiten schaffen und den Weg für den Wandel ebnen. Im Juli wurde das Digitale-Versorgung-Gesetz vom Bundeskabinett beschlossen. Franz Knieps, Vorstand des BKK-Dachverbandes, begrüßt das Gesetz. Aber er mahnt auch mehr Datenschutz an. Gleichzeitig versucht er die Vorbehalte vieler Ärzte gegenüber der Big-Data-Medizin zu entkräften. Aber wie gelingt das?
Medscape: Herr Knieps, was kommt nun mit diesem Gesetz und der zunehmenden Digitalisierung auf die Ärzte zu?
Knieps: Bisher war die Medizin weit davon entfernt, eine standardisierte Wissenschaft zu sein. Das ändert sich jetzt rasant. Durch bildgebende Diagnostik und Befundauswertung hat sich mehr Standardisierung ergeben, als wir uns je hätten vorstellen können.
Radiologische und dermatologische Befunde zum Beispiel können jetzt nicht mehr auf die Diagnose-Algorithmen verzichten, weil die künstliche Intelligenz in der Befundauswertung oft präziser ist als der Mensch. Die Ärzte müssen sich also bewegen.
Medscape: Viele Ärzte sind gegenüber Big Data misstrauisch, was den Datenschutz angeht. Manche wollen lieber bei den guten alten Karteikarten bleiben. Wie kann man ihnen die Ängste nehmen?
Knieps: Wir haben heute in Europa einen hohen Standard beim Datenschutz auf der Basis des Grundrechtes auf informationelle Selbstbestimmung. Nach der EU Datenschutzgrundverordnung kann sich niemand einfach irgendwelcher Daten bemächtigen.
Medscape: Aber stehen die Datenhüter nicht unter Druck, weil die Gesundheitsdaten von Patienten sehr begehrt sind?
Knieps: Das stimmt. Viele versuchen, an der Grundverordnung zu drehen. Institutionen und die Forschung wollen an die Daten rankommen – ohne die Restriktionen der Grundverordnung. Auch die Industrie hat erkannt, dass Daten inzwischen eine eigene Währung sind.
Problematisch für uns ist, dass Unternehmen die Daten einsammeln und in den USA verarbeiten und nutzen wollen, wo sie anderen Datenregimen unterliegen als hierzulande.
Das Problem ist, dass das Digitale-Versorgung-Gesetz beim Thema Datenschutz keine klaren Grenzen gezogen, sondern einen Vorbehalt eingelegt hat. Das heißt, es gibt noch keine Regelung. Über den Schutz der Daten aus der elektronischen Patientenakte soll erst später gesprochen werden. Ich fordere, dass auch hier die informationelle Selbstbestimmung gilt!
Medscape: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat hier also mit dem neuen Gesetz auch Wirtschaftspolitik betrieben statt Gesundheitspolitik?
Knieps: Da dürften die entsprechenden Lobbyisten ordentlich an der Türe des Gesundheitsministeriums gerüttelt haben, um bei Bundesgesundheitsminister Spahn zu intervenieren. Und das sind nicht nur deutsche Firmen.
Der Pharma-Hersteller Roche aus der Schweiz zum Beispiel hat 2018 mit der Firma Flatiron den größten Datenanalysten der USA gekauft, für 1,9 Milliarden Dollar. Roche gibt ja nicht so viel Geld aus, um der Menschheit einen Gefallen zu tun. Sondern die Firma erwartet – in 10 Jahren, vielleicht auch eher – die Hälfte ihres Umsatzes mit Datenmanagement zu machen. Wir müssen verhindern, dass unsere Daten einfach dorthin abfließen und solche Firmen damit das große Geld machen.
Medscape: Aber die Forschung braucht die Daten, oder?
Knieps: Das stimmt. Mit den Daten zu forschen ist ja auch in Ordnung. Forschung ist ein öffentlicher Bereich, da wird ein öffentliches Gut erzeugt. Soll aber mit Daten Geld verdient werden, liegen die Dinge anders.
Wenn eine Pharmafirma meine Daten haben will, um an einem neuen Krebsmedikament zu forschen, dann will ich bitte gefragt werden. Der Kern des europäischen Weges ist: Für alle Forschung werden die Daten pseudonymisiert und anonymisiert. Für private, in der Regel produktorientierte Forschung, braucht es zudem die Einwilligung der Patienten.
Medscape: Auch die Patienten selbst werden künftig zu Datensammlern. Das Digitale-Versorgung-Gesetz erlaubt die Verschreibung von Gesundheits-Apps. Bei den Herstellern dürfte Goldgräberstimmung herrschen. Denn die Apps werden sehr teuer sein.
Knieps: Ich setze da auf die große Konkurrenz, die zweifellos besteht. Zudem dürfte es nur wenige Apps geben, die tatsächlich Versorgungswirksamkeit entfalten werden. Auch funktionieren Apps nur bei einem großflächigen Einsatz. Sie nützen nichts, wenn sie nur von 200 Patienten benutzt werden, weil kein Hersteller sie dann fortentwickeln würde. Und wenn dann der Preis für die App sehr hoch läge, würde sie nie ein Produkt für viele Anwender werden. Weder Ärzte noch Kostenträger würden eine solche App wollen. Also gilt der englische Spruch: „Value for money und money for value.“
Medscape: Werden nicht immer wieder neue und teure Produkte auf den Markt kommen, weil die Apps nur eine kurze Halbwertzeit haben?
Knieps: Das befürchte ich auch. Am Anfang ist die Gefahr der Abzocke tatsächlich sehr groß. Allerdings muss jedes Produkt, das neu auf den Markt kommt, beim BfARM darlegen, dass es einen größeren Nutzen hat als andere. Apps, die das nicht nachweisen können, bekommen keine Zulassung. Aber es stimmt: Wir gehen, was die Apps angeht, zunächst in eine Periode der Unsicherheit.
Medscape: Die Ärzte ziehen sich aus den ländlichen Gegenden zurück. Kann die Digitalisierung helfen, die daraus entstehenden Versorgungslücken abzumildern?
Knieps: Jedenfalls hilft die Digitalisierung allein nicht. Die Kommunen müssen zusätzlich veränderte Mobilitätskonzepte für den öffentlichen Nahverkehr anbieten. Die Verantwortlichen werden mehr im Sinne der Patienten planen müssen. Aber auch die Ärzte müssen sich auf den Weg machen zu den Patienten – zum Beispiel mit mobilen Angeboten in stillgelegten Praxen oder Gemeindehäusern.
Dann wäre zum Beispiel montags die Gynäkologin vor Ort, dienstags die Internistin und donnerstags der Zahnarzt. Gemeinsam mit digitalen Angeboten, wie zum Beispiel der Online-Sprechstunde, kann so die Versorgung auf dem Land unterstützt werden.
Medscape: Dann besuchen die Ärzte die Ortschaften wie der Fischwagen?
Knieps: Genau. Was andere Dienstleister längst machen, muss die Medizin auch tun. Aber eben nicht nur! Hinzu kommen eben die neuen Möglichkeiten durch die Digitalisierung. Das Ärztenetz in Bünde/ Westfalen zum Beispiel hat schon länger mit 20 Pflegeeinrichtungen Verträge über wöchentliche Videosprechstunden abgeschlossen.
Das Digitale-Versorgung-Gesetz verschafft nun den Patienten das Recht auf solche digitalen Leistungen, zum Beispiel Apps. Und den Ärzten verschafft es eine kalkulierbare Honorierung.
Medscape: Und was erwarten Sie von der Landarztquote?
Knieps: Ich erwarte nie, dass ein Instrument alle Probleme lösen wird. Mancher Student, der über die Quote einen Studienplatz erhalten hat, wird später als Hausarzt auf dem Land seine Freude haben. Andere werden sich rauskaufen, weil das Landarztdasein nichts für sie ist. In den letzten 10 Jahren habe ich keine Maßnahmen gesehen, die die Probleme allein hätte lösen können. Wir brauchen Maßnahmenpakete mit Ideen, die einander ergänzen.
Medscape Nachrichten © 2019
Diesen Artikel so zitieren: Apps zur Therapie und Daten für Pharmafirmen: Die Chancen und Schwächen des Digitale-Versorgung-Gesetzes - Medscape - 2. Okt 2019.
Kommentar