Frankfurt – Viele Demenzkranke bewegen sich in Kliniken nur wenig, zeigt eine Analyse mit Bewegungssensoren aus Köln. Auch bei kognitiv eingeschränkten Geriatrie-Patienten ist das offenbar der Fall. Das ist das Ergebnis von 2 Studien aus Köln und Heidelberg, die auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) in Frankfurt präsentiert worden sind [1].
„Generell kann man sagen, dass bei Demenzerkrankungen die Mobilität erst ganz am Schluss abnimmt und sehr, sehr lange erhalten bleibt. Und deshalb bietet sich der Ansatz an, viel Training zu absolvieren, weil die Mobilität da ist –man kann damit auch auf andere Funktionen Einfluss nehmen, z.B. auf das Gedächtnis, aber auch auf das Verhalten“, sagte Dr. Tim Fleiner vom Institut für Bewegungs- und Sportgerontologie in Köln.
Es gibt Hinweise, dass Bewegung bei Demenzkranken positive Effekte hervorrufen kann, bestätigte auch Prof. Dr. Johannes Pantel, Altersmediziner am Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt. „Zu Sport oder Bewegung bei manifester Demenz gibt es meistens kleinere Studien über kurze Zeiträume. Wenn man streng nach Cochrane geht, würde man sagen, die Evidenz ist noch relativ schwach, aber was sich abzeichnet, ist, dass tatsächlich ein Einfluss auf das Verhalten und Erleben der Patienten besteht.“
Inaktive Patienten
In Einrichtungen wie einer psychiatrischen Klinik sitzen allerdings viele Patienten offenbar hauptsächlich herum. In Köln wurden insgesamt 64 Patienten auf einer geschlossenen Station mit Bewegungssensoren ausgestattet. Die Teilnehmer waren prinzipiell bewegungsfähig – trotzdem waren sie im Schnitt nur eine gute Stunde täglich zu Fuß unterwegs, den Rest der Zeit verbrachten sie im Sitzen oder Liegen.
Manche Patienten legten zwar beachtliche Strecken zurück, aber apathische Patienten bewegten sich wie erwartet deutlich weniger. Die Bewegungszeit war dabei unabhängig von verabreichten sedierenden Medikamenten. „Wir sehen durch den Einsatz von Bewegungssensoren, dass unsere Patienten in der Demenzversorgung sehr inaktiv sind“, sagte Fleiner.
Fleiner will das als Weckruf für die Kliniken verstanden wissen, auch wenn die konkreten Zahlen sich nicht verallgemeinern ließen: „Jede Einrichtungsform hat ganz eigene Bedingungen: Aktivierungsmaßnahmen oder Routinen, die sich dann auf das Verhalten auswirken.“
20 kognitiv eingeschränkte Patienten kamen im Schnitt in einer Heidelberger Studie sogar nur auf etwa 1.500 Schritte täglich. „Funktionalitätsverluste aufgrund sedentären Verhaltens während stationärer Aufenthalte, verursacht durch bisher undefinierte Faktoren, haben einen Selbstständigkeitsverlust und Pflegebedürftigkeit zur Folge“, schreibt die Sportwissenschaftlerin Nacera Belala von der Universität Heidelberg zusammen mit ihren Kollegen in ihrer Posterpräsentation auf dem Geriatrie-Kongress.
In der Studie wurde ebenfalls überprüft, ob Krankenhaus-Routinen für die wenige Bewegung verantwortlich sind. „Das aufgezeigte sedentäre Verhalten, das durch Krankenhaus-Routinen verstärkt zu werden scheint, stellt ein Problem dar und sollte mittels einer Lebensstil-integrierten und funktionellen Trainingsintervention häufiger unterbrochen werden“, fordern die Wissenschaftler. Ein entsprechendes Programm ist in Entwicklung.
Was bringt mehr Bewegung?
Fleiner hat in Köln eine Intervention in einer Studie getestet: Dabei wurden Demenzpatienten an 3 Tagen pro Woche viermal täglich für jeweils kurze Zeit, etwa 20 Minuten lang, aktiviert. Auf dem Plan standen z.B. Ergometer-Training oder Kraftübungen mit Gewichtsmanschetten. „Wir sehen in der Klinik, dass Patienten, die wir tagsüber viel aktivieren, nachts besser schlafen“, erklärte Fleiner. „In der Studie hat sich beispielsweise gezeigt, dass das hohe Maß an körperlicher Aktivität dazu führt, dass bei gleichem Level an beruhigender Medikation die Verhaltenssymptome zurückgehen.“
Auch andere Auswirkungen ließen sich in Studien nachweisen, sagte der Frankfurter Altersmediziner Pantel. „Die Effekte reichen von Stress-Reduktion über psychologische Effekte bis hin zur hirnphysiologischen Ebene, wo zum Beispiel unterschiedliche Einflüsse auf den Hirnstoffwechsel diskutiert werden.“
Grundsätzlich kann der Altersmediziner positive Auswirkungen von Bewegung auf Demenzkranke aus eigener Erfahrung bestätigen. „Wenn man aber evidenzbasiert argumentiert, braucht man sicher noch größere Studien, und wir wissen auch noch nicht, welche Art von Bewegung ideal ist und wie lange sie dauern muss. Oder ob es Symptomcluster gibt, die besonders gut darauf ansprechen – das ist alles noch vage.“
Ob sich solche Ansätze prinzipiell in Kliniken verwirklichen lassen würden, sei sicherlich abhängig von der jeweiligen Ausstattung: „Sie brauchen Personal, Räumlichkeiten, einen Gymnastikraum oder Fitnessgeräte – oder man geht nach draußen, das ist aber in der Regel immer abhängig vom Personal, das zur Verfügung steht.“
Machen Kliniken inaktiv?
Demenzpatienten sind dabei allerdings nur eine Gruppe von Patienten, denen mehr körperliche Aktivität im Krankenhaus möglicherweise nützt, glaubt Fleiner: „Das Krankenhaus kennt man als Ort, wo man gleich den Pyjama anzieht und sich verwöhnen lässt. Aber wenn die Krankheit nicht zu Mobilitätseinschränkungen führt, dann kann man sich bewegen. Und da müssen wir hinkommen, dass wir in der Klinik sofort mehr Wert legen auf körperliche Aktivität.“
Initiativen wie die aus Großbritannien kommende Bewegung „End PJ Paralysis“ – was man mit „Stoppt die Schlafanzug-Starre“ übersetzen könnte – fordern, besonders ältere Patienten so schnell wie möglich aus ihren Schlafanzügen in Straßenkleidung zu bringen. Außerdem sei in Kliniken viel mehr darauf zu achten, dass nur im Bett liegt, wer unbedingt muss.
Denn Inaktivität und Bettruhe können der Genesung möglicherweise entgegenwirken. Die Hoffnung ist, durch mehr Bewegung die Erholung zu fördern, Funktionsverluste abzuwenden und Krankenhausaufenthalte zu verkürzen.
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Diesen Artikel so zitieren: Geriater gegen die „Pyjama-Paralyse“: Kliniken sollen Demenzkranken mehr Aktivitätsangebote machen - Medscape - 20. Sep 2019.
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