Im April 2018 machte ein Review im Lancet zur Wirkung von Antidepressiva Furore: Ein internationales Konsortium unter Leitung von Dr. Andrea Cipriani, University of Oxford, stellte für 21 Medikamente fest, dass sie besser wirksam seien als ein Placebo [1]. Doch nun haben Wissenschaftler der Cochrane Collaboration den Review in einer Re-Analyse überprüft, vor allem hinsichtlich der Frage, wie gut die eingeschlossenen Studien gemacht waren [2]. Erstautor ist Dr. Klaus Munkholm vom Nordic Cochrane Center Kopenhagen.
Ihr Fazit: Viele Studien weisen Mängel auf – und diese Tatsache wurde in der ursprünglichen Arbeit nicht ausreichend berücksichtigt. Bei einer kritischeren Betrachtung aller Studien ergebe sich aus dem Review kein Nachweis, dass Antidepressiva besser wirken als Placebos, so Munkholm und Kollegen.
Haben die Autoren Verzerrungen ausreichend berücksichtigt?
Die Veröffentlichung von Ciprianis Team gilt als umfassendster Review zu Antidepressiva und schließt 522 Studien ein. Als Endpunkte wurde die Zahl an Patienten, bei denen sich depressive Symptome um mehr als 50% verbesserten (response) sowie die Zahl an Personen, welche eine Studie abgebrochen hatten (drop-out), definiert. Nach dem Fazit von Cipriani und Kollegen waren alle 21 Präparate bei Erwachsenen mit schwerer depressiver Störung wirksamer als Placebo.
Der Review erreichte eine große Verbreitung über die Medien. „Oft wurde er als Beleg angeführt, dass damit die Zweifel an der Wirksamkeit von Antidepressiva beseitigt sind“, schreiben die Cochrane-Forscher. „Auch einige Autoren des Reviews haben in der Presse betont, dass Antidepressiva wirksam sind und dass der Nutzen die Nebenwirkungen aufwiegt.“
Prof. Dr. Tom Bschor, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie der Schlosspark-Klinik in Berlin und Sprecher der AG Psychiatrie in der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, erinnert sich an ähnliche Reaktionen in der deutschen Fachwelt: „Viele meinten, nun habe sich die Diskussion um die Wirksamkeit von Antidepressiva endgültig erledigt.“
Soviel Euphorie machte die Cochrane-Forscher offenbar auch misstrauisch. Deshalb haben sich Munkholm und Kollegen die Basis des Cipriani-Reviews genauer angesehen und alle Ergebnisse nachgerechnet. Sie verglichen diverse Angaben auch mit klinischen Studienprotokollen.
Dabei prüften sie insbesondere die Frage, ob es in eingeschlossenen Studien systematische Verzerrungen gab (bias), etwa durch die Auswahl der Studienteilnehmer, und ob Cipriani und Kollegen diese Verzerrungen angemessen berücksichtigt haben. In einem Handbuch gibt die Cochrane Collaboration dazu Handreichungen für Autoren von Reviews.
Oft blieb unklar, ob die Verblindung funktionierte
Zum Ergebnis: Nach Ansicht der Cochrane-Wissenschaftler seien Standards des Handbuchs an etlichen Stellen nicht eingehalten worden. Ciprianis Team hätte beispielsweise nicht ausreichend getestet, ob die Autoren einzelner Studien ihre Verblindung überprüft hätten: also, dass weder Teilnehmer noch Versuchsleiter wissen, welcher Patient ein Placebo und welcher ein Antidepressivum erhielt.
Wegen der deutlichen Nebenwirkungen haben Studien zu Antidepressiva häufig als Problem, dass Patienten merken, ob sie ein Medikament oder ein Placebo erhalten. Dann ist ihre Einschätzung, ob sich die Symptome verbessert haben, erheblich verzerrt, wenn nicht sogar fast unbrauchbar.
Früher wurden deshalb Placebos mit ähnlichen Nebenwirkungen wie Antidepressiva gegeben. Dies gilt aber heute als unethisch.
„Zu prüfen, ob die Verblindung dauerhaft funktioniert, ist eigentlich einfach“, erläutert Bschor: „Man fragt am Ende der Studie die Teilnehmer und die Studienärzte, ob eher das Medikament oder das Placebo gegeben wurde. Wenn die Trefferquote über 50 Prozent liegt, hat die Verblindung nicht richtig funktioniert.“
Doch in 98% aller Studien sei diese Methode nicht konsequent angewandt worden, schreiben die Cochrane-Autoren. Cipriani und Kollegen hätten ihre eingeschlossenen Arbeiten viel kritischer einstufen müssen. In den wenigen Studien mit Überprüfung der Verblindung war der Effekt von Antidepressiva tatsächlich geringer.
Eine weitere Kritik bezieht sich auf unvollständige Ergebnisse. Dem Cochrane-Handbuch zufolge sollten Studien alle Outcomes, die sie untersucht haben, auch veröffentlichen. Fehlen Angaben, liegt der Verdacht nahe, dass diese Ergebnisse weniger in das Bild gepasst haben und deshalb weggelassen wurden (reporting bias).
Schon ein fehlendes Outcome sei ein Anlass zur Skepsis, so die Cochrane-Experten. Doch Cipriani und Kollegen stuften Veröffentlichungen nur als kritisch ein, falls beide Outcomes (response und drop-out-Rate) fehlten.
Keine Hinweise für die klinische Praxis
Schließlich, so die Cochrane-Forscher, berücksichtige der Review nicht angemessen, dass viele Studien zu Antidepressiva gar nicht veröffentlicht werden – vor allem solche, die einen geringeren Effekt feststellen. Es gibt Möglichkeiten, auch diesen „publication bias" rechnerisch miteinzubeziehen. Doch dies hätten Cipriani und Kollegen nicht ausreichend getan. „Dies ist ein Hinweis, dass die Effektstärke wahrscheinlich zu hoch bewertet wurde“, heißt es von den Cochrane-Auitoren.
Sie fassen zusammen, dass Cipriani et al. zu unkritisch mit den 522 Studien umgegangen seien. Ihr Fazit: Berücksichtige man die Schwächen der Studien angemessen, dann „ist der Review keine Grundlage für eine endgültige Schlussfolgerung zur Wirksamkeit von Antidepressiva, auch nicht, ob sie wirksamer sind als ein Placebo“ – und liefere keine Hinweise für die klinische Praxis.
Auch Patienten sollten informiert werden, dass die Evidenz für Antidepressiva noch unklar ist – insbesondere vor dem Hintergrund der oft erheblichen Nebenwirkungen.
Geringe Effektstärke bei Antidepressiva
Bschor teilt die Kritik der Cochrane-Autoren an vielen Stellen zwar. „In der Summe scheint sie aber doch etwas zu streng“, relativiert der Experte. Für das Problem der mangelnden Verblindung etwa gebe es heute einfach noch keine Lösung.
Richtig sei aber, dass der Review nicht das Ende der Diskussion um Antidepressiva sein könne: „Die durchschnittliche Effektstärke beträgt auch laut Cipriani und Kollegen nur 0,3 – das ist ein schwacher Effekt.“
Umgekehrt sei der Placebo-Effekt per se nichts Schlechtes, sondern auch therapeutisch nutzbar: „Man kann da durchaus ehrlich mit dem Patienten sein, darf ihm aber auch nicht die Hoffnung nehmen, dass ihm das Medikament hilft – denn das würde den Placebo-Effekt zunichtemachen.“
Bschor, der auch das Buch „Antidepressiva. Wie man die Medikamente bei der Behandlung von Depressionen richtig anwendet und wer sie nicht nehmen sollte“ veröffentlicht hat, plädiert für einen flexiblen Umgang mit diesen Wirkstoffen. „Sie sind eine von mehreren Therapiemöglichkeiten. Aber wenn ein Patient sehr skeptisch ist, starke Nebenwirkungen spürt oder schon zuvor nicht darauf angesprochen hat, sollte man den Einsatz überdenken.“
Die Cochrane-Autoren schließen ihre Re-Analyse mit einem Appell an Wissenschaft und Politik: „Um wirklich zuverlässige Aussagen zum Nutzen und Schaden von Antidepressiva zu bekommen, brauchen wir große, unabhängige, langfristige und besser verblindete Studien mit Teilnehmern, die nicht zuvor schon einmal Antidepressiva erhalten haben, und mit Outcomes, die für Patienten wirklich relevant sind."
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Diesen Artikel so zitieren: Ist es nun belegt, dass Antidepressiva besser als Placebo wirken, oder nicht? Ein Cochrane-Review meint nein … - Medscape - 16. Sep 2019.
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