Menschen über 60 sind teilweise sexuell aktiver als 20- bis 30-Jährige – doch in der Arztpraxis bleibt das Thema ein Tabu

Antje Sieb

Interessenkonflikte

16. September 2019

Frankfurt – „Sexualität ist auch im Alter noch ein Thema, wird aber viel zu wenig wahrgenommen.“ Das konnte die Züricher Internistin Dr. Annette Ciurea in ihrem Vortrag auf dem Geriatrie-Kongress auch mit Zahlen aus Deutschland belegen [1]. Die kürzlich veröffentlichte Berliner Altersstudie hat mehr als 1.500 Senioren über 60 befragt und entsprechende Daten geliefert. Demnach nimmt die sexuelle Aktivität im Alter zwar generell ab, die Tendenz geht anstelle von Geschlechtsverkehr eher in Richtung Austausch von Zärtlichkeiten.

Sexualität ist aber etwas höchst Individuelles: Denn 30% der 60- bis 80-Jährigen sind nach den Studiendaten immer noch sexuell aktiver als der Durchschnitt der 20- bis 30-Jährigen. Dabei war die sexuelle Aktivität auch von anderen Faktoren abhängig wie dem Alter: etwa vom Vorhandensein eines Partners und vom Geschlecht. Menschen in Beziehungen und Männer waren jeweils aktiver.

Ähnlich sieht es bei sexuellen Gedanken und Phantasien aus: Auch sie werden mit den Jahren seltener, aber 27% der Älteren denken immer noch häufiger an Sex als der Durchschnitt der Jüngeren. „Sexualität ist Bestandteil erfolgreichen Alterns und trägt zum Wohlbefinden bei“, fasst Ciurea zusammen.

 
Sexualität ist auch im Alter noch ein Thema, wird aber viel zu wenig wahrgenommen. Dr. Annette Ciurea
 

Alter erhöht die Hürden

Allerdings führe der Alterungsprozess auch zu Hürden für ein erfülltes Sexualleben, so Ciurea. Bei Männern brauche die Erregung, Erektion und Ejakulation mehr Zeit, bei Frauen sei nachlassende Erregung oder die fehlende Lubrifikation der Vagina ein Thema. „Die biologischen Faktoren spielen eine Rolle; wichtiger für die sexuelle Zufriedenheit sind aber Dinge wie die Qualität der Beziehung oder Optimismus“, schließt Ciurea unter anderem aus der Zürcher Women 40+ Healthy Ageing Studie.

Manche körperlichen Probleme ließen sich auch durchaus behandeln: Als Stichworte nannte die Referentin PDE-5-Inhibitoren sowie lokale Östrogene. Und auch sonstige Medikamente könne man auf Nebenwirkungen hinsichtlich der Sexualität überprüfen. „Der Alterungsprozess allein macht nicht so viel aus, es ist wichtig, wie man damit umgeht“, meint die Referentin.

Demenz und Pflegebedürftigkeit

Bei kognitiv eingeschränkten oder pflegebedürftigen Patienten ist Sexualität oft ein problematisches Thema. Zuhause hat der Partner vielleicht Schwierigkeiten mit sexuellen Bedürfnissen oder mit unangemessenem Verhalten eines Patienten, in Institutionen werden Pflegekräfte damit konfrontiert. Und bei der Heimpflege gibt es kaum Privatsphäre für Patienten. „Mehr Bewusstsein für Privatsphäre ist nötig”, fordert die Wiener Geriaterin Dr. Athe Grafinger. Soweit das möglich sei, könnten Pflegende etwa klopfen und abwarten, bevor sie ein Zimmer betreten.

In Deutschland kontrovers diskutiert wird auch der Einsatz von Sexual-Assistentinnen und -assistenten, in der Schweiz Berührerinnen oder Berührer genannt: Menschen, die sexuellen Bedürfnisse von Heimbewohnern erfüllen. Auch den Einsatz von Pflegerobotern für solche Zwecke können sich Wissenschaftler theoretisch vorstellen.

 
Die biologischen Faktoren spielen eine Rolle; wichtiger ... sind aber Dinge wie die Qualität der Beziehung oder Optimismus. Dr. Annette Ciurea
 

Wir reden zu wenig über Sexualität

Zentral für alle diese Probleme sei allerdings die Bereitschaft, das Thema anzusprechen – auch von ärztlicher Seite. „Wir reden zu selten darüber”, sagt Ciurea, und wenn, dann ginge häufig die Initiative vom Patienten aus, und nicht vom Arzt.

Wer erörtert zum Beispiel vor einer Hüftoperation mit dem betroffenen Patienten, welchen Einfluss die Operation auf sein Sexualleben haben wird, oder gar, welche Positionen danach beim Geschlechtsverkehr empfehlenswert sein könnten?

Das sind Fragen, die beispielsweise eine niederländische Studie gestellt hat. 78% der befragten Mediziner hatten mit ihren Patienten vorab das Thema Sex gar nicht angeschnitten. Bei älteren Patienten kam das Thema zudem seltener auf den Tisch als bei jüngeren.

 
Der WHO-Report ‚Alter und Gesundheit‘ umfasst insgesamt 260 Seiten – gerade einmal 1 Seite ... widmet sich dem Thema Sexualität. Dr. Annette Ciurea
 

Ciurea führt im Vortrag weitere Beispiele an, dass das Thema bisher ein Schattendasein führt. „Der WHO-Report ‚Alter und Gesundheit‘ umfasst insgesamt 260 Seiten – gerade einmal 1 Seite, zwischen Kognition und Immunsystem, widmet sich dem Thema Sexualität.”

Auf dem diesjährigen Geriatrie-Kongress ist es immerhin ein Keynote-Vortrag, der sich damit befasst. „In Deutschland ist das noch viel zu wenig Thema” sagt auch Kongresspräsident Prof. Dr. Hans Jürgen Heppner von der Universität Witten-Herdecke „Deshalb haben wir eine Vortragende aus der Schweiz und eine Vorsitzende aus Österreich.”

Ciurea versucht auch die Frage zu beantworten, wann es sinnvoll sei, das Thema Sexualität zu thematisieren: im Akutfall etwa bei allem, das die Sexualität betreffen könne, vom Blasenkatheter über kardiovaskuläre Probleme bis hin zu verschiedenen Medikamenten. Auch in der Memory Clinic könne das Thema angemessen sein: etwa bei mit der Demenz auftretenden Verhaltensstörungen wie Aggression, weil sie die Wahrscheinlichkeit für sexuell unangemessenes Verhalten erhöhten.

Und auch der Eintritt in eine Institution sei eine Gelegenheit nachzufragen, wie wichtig Sexualität einem Patienten sei. Auf Anmerkungen von männlichen Geriatern aus dem Publikum, dass sie es auch wegen der Me-too-Debatte schwierig fänden, Frauen auf ihre Sexualität anzusprechen, reagierte Ciurea verständnisvoll: „Ich finde es auch leichter, mit einer Frau darüber zu reden.”

 

Kommentar

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