
Prof. Dr. Jan Galle
Durch den Klimawandel werden bekannte Krankheiten an Relevanz gewinnen und neue zutage treten, prognostizieren Ärzte in einer NEJM-Ausgabe zum Thema Klimamedizin. Einen Vorgeschmack auf die künftigen Probleme geben Nierenkrankheiten unbekannter Ursache: Zunächst nur in Zentralamerika beobachtet, haben sie sich mittlerweile weltweit verbreitet [1].
„Das Ausmaß dieser ungeklärten Nephropathien ist beunruhigend, denn seit einigen Jahren treten sie in sämtlichen Kontinenten vermehrt auf, in Nord- und Südamerika, Afrika, Indien und dem Mittleren Osten“, bestätigt Prof. Dr. Jan Galle, Direktor der Klinik für Nephrologie am Klinikum Lüdenscheid, im Gespräch mit Medscape.
„Möglicherweise bestehen Zusammenhänge mit einem Krankheitsbild, das ebenfalls mit Hitze einhergeht, dem prärenalen Nierenversagen.“ Dessen Kennzeichen: Obwohl die Nieren eigentlich gesund sind, sinkt die Filtrationsrate, und zwar deshalb, weil die Perfusion gedrosselt ist. Die Ursache liegt vor der Niere, meist ist das Blutvolumen vermindert, bei hohen Temperaturen durch Flüssigkeitsmangel.
Besonders anfällig sind alte Menschen, was sich erschreckend während des „Jahrhundertsommers“ 2003 zeigte: „Sie tranken dieselbe Menge, die sonst zwar ausreichte, nicht aber in dieser Ausnahmesituation. Wegen ihres eingeschränkten Durstgefühls bemerkten sie das jedoch nicht“, erläutert Galle. So seien Tag für Tag Defizite geblieben, die sich schließlich zu einer ausgeprägten Dehydration summierten. Experten schätzen, dass es rund 70.000 zusätzlichen Todesfällen in Europa gab, darunter 9.400 in Deutschland, 350 in Österreich, 1.050 in der Schweiz, 19.500 in Frankreich, 20.100 in Italien und 15.100 in Spanien.
Rätselhafte Nephropathien in Mittelamerika
Im Unterschied zu diesem eigentlich reversiblen Nierenversagen werden die chronischen Nierenkrankheiten unbekannter Ursache (CKDu) vor allem bei Landarbeitern in den Tropen und Subtropen registriert. Wie Dr. Cecilia Sorensen von der Universität Colorado in Aurora und Dr. Ramon Garcia-Trabanino vom Zentrum für Hämodialyse in San Salvador berichten, war erstmals in den 1990er-Jahren aufgefallen, dass immer mehr Beschäftigte auf Zuckerrohrplantagen in El Salvador an irreversibler Niereninsuffizienz starben.
„Diese Menschen gehören zu den Ärmsten der Armen, sie werden ausgebeutet, besitzen keinerlei Rechte und können sich nicht gegen unzumutbare Anforderungen zur Wehr setzen“, beschreibt Galle die Situation. Tatsächlich ernten sie 5 bis 6 Tonnen Zuckerrohr pro Tag, tragen schwere Kleidung, und das bei Temperaturen von oft über 40°C, berichten die Autoren.
Bald stellte sich heraus, dass CKDu in vielen agrarisch geprägten und gleichzeitig heißen, feuchten Gegenden Zentralamerikas auftritt. So entstand die Bezeichnung „Mesoamerikanische Nephropathie“.
Das Phänomen trug entscheidend dazu bei, dass chronische Nierenkrankheiten (CKD) allgemein sich dort zum Hauptgrund für Klinikaufenthalte und Tod entwickelten. So stieg die Mortalitätsrate durch CKD in Guatemala im vergangenen Jahrzehnt auf 83%, und sowohl in Nicaragua wie in El Salvador sind Nephropathien heute die zweithäufigste Todesursache – alarmierende Statistiken nach Ansicht von Sorensen und Garcia.
Fest stehe zwar, dass CKDu mittlerweile weltweit vorkommen, genaue Zahlen fehlen allerdings, weil die Gesundheitssysteme gerade in betroffenen Regionen unzulänglich sind, so dass die Erkrankungen nicht entdeckt oder nicht gemeldet werden.
Hitzewellen an Hotspots der Erkrankung
„Sogar nach fast drei Jahrzehnten bleiben diese Nephropathien rätselhaft, da sie nicht mit den klassischen CKD-Ursachen wie Bluthochdruck und Diabetes in Einklang zu bringen sind“, schreiben Sorensen und Garcia. Die Wissenslücken erschweren es, Ausbrüchen vorzubeugen, die Progression zu verlangsamen und spätere Stadien zu behandeln.
Immerhin mehren sich Hinweise, dass Hitzestress, zumal durch den Klimawandel, maßgeblich zur Pathogenese beiträgt. Gestützt wird diese Vermutung dadurch, dass sich an vielen CKDu-Brennpunkten seit wenigen Jahrzehnten Hitzewellen mit Erhöhung der Luftfeuchtigkeit drastisch häufen, während die Durchschnittstemperatur global um knapp ein 1°C gestiegen ist.
Starke Hitze greift offenbar allmählich und subklinisch, aber akut die Nieren an, durch Ischämie, oxidativen Stress und Leerung der intrazellulären Energiespeicher. Die Nierenfunktion lässt nach, was entweder direkt in eine CKD mündet oder Schäden durch andere Umwelteinflüsse verschlimmert.
Bei Mäusen jedenfalls induzieren wiederkehrende Hitze und Dehydration eine chronische Entzündung und tubuläre Schäden, die denen bei CKDu ähneln. Zusätzlich dürften Agrochemikalien, Schwermetalle, Infektionen und genetische Veranlagung relevant sein, außerdem gesundheitliche Nachteile, die sich aus Armut, schlechter Ernährung und den sozialen Folgen eines unterprivilegierten Standes ergeben.
Kliniken und Pflegeheime benötigen Hitzeschutz
Nach Auffassung von Sorensen und Garcia lässt sich an den CKDu jedenfalls unmissverständlich ablesen, dass durch den Klimawandel bekannte Krankheiten mehr denn je um sich greifen und neue entstehen.
Wie sorgfältig medizinische Fachkräfte in Zukunft auf Hitzefolgen achten sollten, illustriert Galle mit einem Negativbeispiel, einem Unglück, das derzeit vor einem US-Gericht verhandelt wird: „Leitende Angestellte eines Altenheims in Florida müssen sich wegen Totschlags verantworten. 2013 waren dort 12 Bewohner an Überhitzung gestorben, nachdem durch den Hurrikan Irma die Klimaanlage ausgefallen war.“ Bei einigen sei einem Zeitungsbericht zufolge Körpertemperaturen von fast 43 Grad Celsius gemessen worden.
„Zwischen 2000 und 2016 war eine zusätzliche Zahl von schätzungsweise 125 Millionen Erwachsenen Hitzewellen ausgesetzt – ein Trend, der mit großer Wahrscheinlichkeit andauern wird“, warnen die NEJM-Autoren.
Epidemiologischen Studien zufolge steigen bei hohen Temperaturen die Raten von Mortalität, Klinikaufenthalten, Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen ferner von Geburtskomplikationen und psychischen Störungen, Notfallambulanzen müssen mehr Hilfesuchende aufnehmen.
Dass es die erhöhten Temperaturen sind, die all diese medizinischen Probleme im wahrsten Sinn des Wortes anheizen, bleibe aber verdeckt, weil in den Unterlagen irrtümlich oft nur die primäre Diagnose notiert werde, bemängeln die Autoren.
Nephropathien – Musterbeispiele für Klimakrankheiten
Sie schlagen vor, CKDu als Indikatorkrankheit des Klimawandels heranzuziehen, der ja theoretisch jedes Organ in Mitleidenschaft ziehen könne. Denn CKDu zeigen Aspekte, die für andere Hitze-sensitive Krankheiten charakteristisch sind und damit auch die Medizin angehen.
Erstens: Mit dem Anstieg von Temperatur und Luftfeuchtigkeit steigt die Prävalenz, zum Beispiel werden Allergien und Asthma-Exazerbationen zahlreicher, weil immer mehr Pollen fliegen, oder Infektionen nehmen überhand, weil Erreger-übertragende Insekten günstigere Umweltverhältnisse finden.
Zweitens: Die Krankheiten dominieren ausgerechnet in Regionen, wo benachteiligte Menschen nur unzureichend behandelt werden.
Und Drittens: Es erkranken unverhältnismäßig viele sozial und ökonomisch gefährdete Personen. Als Angestellte erhalten sie die Kündigung, sobald sie nicht mehr genügend Leistung bringen. Bewerben sie sich für eine Stelle, werden sie nach einem betriebsinternen Gesundheitscheck abgelehnt. Oft bringt die Arbeitslosigkeit eines einzelnen plus die Arztkosten die ganze Familie in Not. Die Weltgesundheitsorganisation WHO fürchtet, der Klimawandel könnte bis 2030 mehr als 100 Millionen Menschen in extreme Armut treiben.
Schließlich weisen die Autoren darauf hin, dass ein hoher Krankenstand und eine verringerte Produktivität nicht nur die Wirtschaft der jeweiligen Länder, sondern über eine Kaskade von Folgen auch die Lebensmittelversorgung weltweit beeinträchtigen könnten. Allein im Jahr 2017 seien global betrachtet 153 Milliarden Arbeitsstunden durch Hitze-Exposition verloren gegangen, 80% davon in der Landwirtschaft. Diese Defizite werden vor allem in den Tropen und Subtropen mit weiterer Erwärmung zunehmen.
Hitzschlag und Nierenversagen trotz großer Trinkmengen
Sorensen und Garcia appellieren daher speziell an Angehörige des Gesundheitswesens, rasch zu handeln. Sie raten zum Aufbau von Frühwarnstationen, zu Forschungsprojekten über Fach- und Ländergrenzen hinweg, zur Kommunikation mit den Entscheidungsträgern und zu Verbesserungen im Arbeitsrecht.
„Die Arbeitsbedingungen anzupassen halte ich für wesentlich. Denn der Hitzestress kann so stark werden, dass ihn selbst junge gesunde Menschen trotz adäquatem Verhalten nicht mehr kompensieren können“, bekräftigt Galle.
Besonders eindrücklich habe ihm das in seiner Berufspraxis der Fall eines etwa 25-jährigen Bauarbeiters vor Augen geführt: „An einem glühend heißen Julitag 2003 hatte er in Würzburg eine Mainbrücke asphaltiert, bis er mit Hitzschlag und Nierenversagen ins Krankenhaus gebracht werden musste. Und das, obwohl er acht Liter getrunken hatte.“ Sollte sich die Erderwärmung weiter steigern, müssten Arbeitsmediziner, eventuell auch Gewerkschaften und Berufsgenossenschaften aktiv werden, um rechtzeitig Vorsorge zu treffen und solche Vorfälle zu verhindern.
Medscape Nachrichten © 2019 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Erwärmt sich das Klima weiter, drohen neue Krankheiten – Rätselhaftes Nierenversagen als Indikatorerkrankung? - Medscape - 13. Sep 2019.
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