Paris – Die neue ESC/EAS-Leitlinie „Dyslipidämie“ verfolgt in den meisten Risikokategorien einen aggressiveren Ansatz mit neuen, niedrigeren Zielwerten für die LDL-Reduktion als bisher.
Sie ist am 31. August auf dem ESC-Kongress 2019 vorgestellt und zugleich online im European Heart Journal publiziert worden [1,2].
„Die Hauptdevise in dieser Leitlinie lautet: Je niedriger, desto besser. Und obwohl dies bereits allgemein seit einiger Zeit empfohlen wird, wollen wir noch einmal darauf hinweisen, dass es wirklich um sehr niedrige LDL-Spiegel geht“, kommentierte Prof. Dr. Colin Baigent, Co-Vorsitzender der Leitlinien-Task Force, von der britischen University of Oxford gegenüber Medscape.
„Wir wollten es auch möglichst simpel halten und empfehlen somit bei den Patienten mit dem höchsten Risiko die weitestmögliche LDL-Absenkung, ohne wirklich eine Untergrenze festzuschreiben.“
Die Leitlinien geben ein LDL-Ziel von weniger als 1,4 mmol/l (< 55 mg/dl) für Patienten mit sehr hohem Risiko und ein noch niedrigeres Ziel von weniger als 1,0 mmol/l (< 40 mg/dl) für Patienten mit dem höchsten Risiko und multiplen Ereignissen in jüngster Vergangenheit aus.
Baigent fügte hinzu: „Für Patienten mit sehr hohem Risiko (> 10% Todesrisiko über 10 Jahre) haben wir einen LDL-Zielwert von 1,4 mmol/l und eine Reduktion um mindestens 50% empfohlen. Dies ist viel aggressiver als die bisherigen Leitlinien, die ein Ziel von 1,8 mmol/l oder eine Reduktion um 50% vorgegeben hatten.“
„Der Unterschied zwischen dem „Und“ und dem „Oder“ mag als geringfügige Veränderung erscheinen, doch könnte diese für einige Patienten einen großen Unterschied bedeuten. Wenn beispielsweise ein Hochrisikopatient einen unbehandelten LDL-Wert von 1,5 mmol/l aufweist, der damit knapp über dem Zielwert von 1,4 mmol/l liegt, führt die neue Empfehlung zu einer Absenkung um 50% zu einem mit 0,75 mmol/l viel niedrigeren LDL-Spiegel.“
„Wir haben uns dazu entschieden, weil wir wissen, dass sich die Risikoverringerung direkt proportional zum Ausmaß der LDL-Absenkung verhält. Eine gute Risikoreduktion erfordert eine maximale LDL-Reduktion.“
Die neuen LDL-Zielwerte für alle kardiovaskulären Risikokategorien sind:
Für Hochrisikopatienten (10-Jahres-Risiko für einen kardiovaskulär bedingten Tod > 10%) wird eine LDL- Reduktion um mindestens 50% gegenüber dem Ausgangswert und ein LDL-Ziel von unter 1,4 mmol/l (< 55 mg/dl) empfohlen.
Bei Hochrisikopatienten, die bei maximaler tolerierter Statintherapie innerhalb von 2 Jahren 2 kardiovaskuläre Ereignisse erlitten haben (nicht unbedingt vom gleichen Typ), kann ein LDL-Ziel von unter 1,0 mmol/l (< 40 mg/dl) in Betracht gezogen werden.
Für Patienten mit hohem Risiko (10-Jahres-Risiko für einen kardiovaskulär bedingten Tod 5-10%) strebt man eine LDL-Reduktion um mindestens 50% gegenüber dem Ausgangswert und einem LDL-Ziel von unter 1,8 mmol/l (< 70 mg/dl) an.
Für Personen mit mittlerem Risiko (10-Jahres-Risiko für einen kardiovaskuläre bedingten Tod 1-5%) gilt ein LDL-Zielwert von unter 2,6 mmol/l (< 100 mg/dl).
Bei Personen mit geringem Risiko (10-Jahres-Risiko für einen kardiovaskulär bedingten Tod < 1%) verfolgt man ein LDL-Ziel von unter 3,0 mmol/l (< 116 mg/dl).
„Wir empfehlen zudem, dass die Patienten aggressiv mit hochdosierten Statinen und mit der Möglichkeit, Ezetimib und PCSK9-Hemmer hinzuzufügen, behandelt werden, um diese Ziele zu erreichen. Dies ist eine weitere große Veränderung gegenüber den bisherigen Leitlinien“, sagte der Co-Vorsitzende Prof. Dr. François Mach vom Universitätsspital in Genf.
„Wir wollten einen Schritt weiter gehen als die USA. Wir waren der Ansicht, dass die Evidenzen einen aggressiveren Ansatz unterstützen, denn seit der Veröffentlichung der letzten US-Leitlinien sind weitere Evidenzen hinzugekommen“, sagte Mach.
„Der US-Ansatz von ‚Fire and Forget‘ geht uns nicht weit genug“, fügte er hinzu. „Die Patienten müssen ständig überwacht und ihre LDL-Werte immer kontrolliert werden, um diese so niedrig wie möglich zu halten. Ohne ein solches Monitoring neigen die Patienten dazu, ihre Statine nicht mehr einzunehmen.“
„Das neue 1,4-mmol/l(55 mg/dl)-Ziel für Hochrisikopatienten ist leicht zu rechtfertigen, wenn man sich die Daten aus den neuesten Metaanalysen und Studien mit hochdosierten Statinen und PCSK9-Hemmern ansieht“, stellte Baigent fest. „Die allermeisten Patienten können dieses Niveau mit hochdosiertem Statin plus Ezetimib erreichen. Dies ist eine günstige und sichere Kombination. PCSK9-Hemmer müssen nur bei sehr wenigen Patienten eingesetzt werden.“
Keine Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärprävention
Die andere wichtige Änderung in den neuen Leitlinien betrifft die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärprävention.
„Wir haben sichergestellt, dass die Empfehlungen für ähnliche Risiken auch ähnlich sind, unabhängig davon, ob ein Patient schon ein kardiovaskuläres Ereignis erlebt hat oder nicht“, erklärte Baigent. „Wir haben nicht länger zwischen Primär- und Sekundärprävention unterschieden, sondern das Risiko für beide Fälle als gleich angesehen.“
„Während Patienten aus der Sekundärpräventionsgruppe normalerweise einem höheren Risiko ausgesetzt sind, könnte ein Patient der Primärprävention immer noch ein hohes Risiko haben, wenn er mehrere Risikofaktoren aufweist. Die Daten zeigen, dass die Vorteile von Statinen keinen Unterschied zwischen Primär- und Sekundärprävention machen. Vielmehr ist das Ausmaß des Risikos entscheidend“, sagte er.
Die einzige Ausnahme hiervon sind ältere Menschen. „Während wir die Empfehlung für den Einsatz von Statinen bei älteren Menschen im Allgemeinen verstärkt haben, mussten wir eine etwas schwächere Empfehlung für Primärpräventionspatienten im Alter über 75 aussprechen“, stellte er fest.
Schwerpunkt auf Sicherheit von Statinen
Die Leitlinie weist einen neuen Abschnitt auf, der sich der Sicherheit einer aggressiven LDL-Absenkung und der Statine widmet. „Es sind keine Nebenwirkungen eines sehr niedrigen LDL-Spiegels bekannt“, heißt es dort.
Auf Statinen befindet sich der Hinweis: „In seltenen Fällen verursachen Statine schwere Muskelschäden (Myopathie oder in den schwersten Fällen Rhabdomyolyse). In der Bevölkerung ist die Ansicht verbreitet, dass Statine häufig zu weniger schweren Muskelbeschwerden führen. Eine solche „Statin-Intoleranz“ wird von Allgemeinärzten häufig beobachtet und kann schwierig zu managen sein. In Placebo-kontrollierten randomisierten Studien konnte jedoch recht deutlich gezeigt werden, dass eine echte Statin-Intoleranz selten ist und dass bei den allermeisten Patienten eine Form der Statintherapie (z.B. durch Änderung des Statins oder Reduzierung der Dosis) generell durchführbar ist.“
„Wir wollen eine deutliche Botschaft an die Patienten und Ärzte richten, um zu erreichen, dass die Patienten in den meisten Fällen bei den Statinen bleiben“, sagte Mach.
Risikostratifizierung mit Kalzium-Scoring, Lp(a) und ApoB
Die Leitlinien empfehlen auch erstmals den Einsatz neuer Tests, um die Identifizierung von Patienten mit erhöhtem Risiko einfacher zu machen. Dazu gehören sowohl das Koronararterien-Kalzium-(CAC)Scoring als auch Biomarker-Tests.
„Das Kalzium-Scoring im CT kann hilfreich sein, um zu einer Therapieentscheidung für Patienten zu kommen, die ein mittleres kardiovaskuläres Risiko haben“, heißt es in der Leitlinie. „Ein solcher Wert kann bei den Diskussionen über das therapeutische Vorgehen hilfreich sein, wenn der LDL-Zielwert eines Patienten nicht allein durch Lebensstilanpassungen erreicht wird und die Entscheidung zu einer LDL-senkenden Medikation ansteht.“
Mach sagte dazu: „Wenn Patienten einen sehr niedrigen Kalzium-Score aufweisen, können wir mit Sicherheit sagen, dass sie ein sehr geringes kardiovaskuläres Risiko haben. Dies ist eine neue Empfehlung für Europa, welche die Leitlinie mit den USA in Einklang bringt.“
Die Leitlinien weisen auch darauf hin, dass die sonografische Evaluation der Karotiden oder Femoralarterien in diesen Fällen wichtige Zusatzinformationen bieten kann.
Zu den Biomarkern heißt es dort: „ApoB ist als Bestandteil atherosklerotischer Lipoproteine ein gutes Maß für deren Gesamtlast und hilft somit bei der Risikobewertung für Personen, deren LDL-Bestimmung die tatsächliche Belastung womöglich unterschätzen lässt, wie z.B. bei Personen mit hohen Triglyzeriden, Diabetes mellitus, Adipositas oder sehr niedrigem LDL-Wert.“
Sie empfiehlt auch die einmalige Bestimmung von Lp(a) (Lipoprotein(a)) bei allen Individuen. „Eine einmalige Lp(a)-Messung kann Menschen mit genetisch bedingten, sehr hohen Lp(a)-Werten und einem lebenslangen erheblichen kardiovaskulären Risiko identifizieren“, heißt es darin. „Der Wert kann auch bei der weiteren Risikostratifizierung von Patienten mit hohem Risiko, positiver Familienanamnese für kardiovaskuläre Erkrankungen in jungen Jahren sowie zur Festlegung von Behandlungsstrategien für Personen mit einer grenzwertigen Risikoeinstufung herangezogen werden.“
„Wir empfehlen die Bestimmung der Triglyzerid-Werte, und basierend auf der REDUCE-IT-Studie ist es sinnvoll, hochdosierte reine Eicosa-Pentaensäure (EPA) bei Hochrisikopatienten mit Triglyzerid-Werten zwischen 1,5 und 5,6 mmol/l (135–499 mg/dl) trotz Statinbehandlung einzusetzen“, sagte Baigent.
Von US-Experten gut angenommen
In einer Stellungnahme für Medscape äußerten sich auch 2 US-Experten positiv über die neuen europäischen Leitlinien.
Dr. Steve Nissen von der Cleveland Clinic in Ohio sagte: „Das sind sehr durchdachte Leitlinien. Die Europäer haben bei solchen Leitlinien weniger Scheuklappen als die Amerikaner.“ Und weiter: „Ich bin sehr zufrieden mit der Aussage ‚The lower the better‘ und den empfohlenen LDL-Zielen. Die neuesten US-Leitlinien konzentrieren sich mehr auf die empfohlenen Schwellenwerte für eine Behandlung, aber der Grundsatz ‚Je weniger desto besser‘ entspricht im Grunde genau meiner Überzeugung.“
„Obwohl die Frage nach spezifischen LDL-Zielwerten in den Studien nicht behandelt wurde, hat jede für sich jedoch gezeigt, dass ein niedrigerer LDL-Wert mit einer stärkeren Reduzierung des Risikos verbunden ist. Die europäischen Leitlinien haben die Daten in ihrer Gesamtheit berücksichtigt, was ich für den richtigen Ansatz halte. Hut ab dafür“, fügte er hinzu.
Dr. Deepak Bhatt vom Brigham and Women's Hospital in Boston kommentierte: „Es gibt sehr viele gute Inhalte in diesen Leitlinien. Der Autorengruppe gebührt ein großes Lob dafür, dass sie so viele neue und umsetzbare Empfehlungen vorgelegt hat.“
Bhatt sagte weiter, dass er der überwiegenden Mehrheit der Empfehlungen zustimme, „insbesondere der stärkeren Berücksichtigung von Bildgebung und Biomarkern bei Patienten mit niedrigem/mittlerem Risiko und der stärkeren Betonung der LDL-Absenkung durch Mehrfachtherapien bei Hochrisikopatienten“.
In Bezug auf die Empfehlungen zur Bildgebung wies er darauf hin, dass dies ein noch umstrittener Bereich sei.
„Diese Leitlinien bestätigen wirklich die Ansätze zur Risikostratifizierung von Patienten und zur Personalisierung von Therapien, was eine große konzeptionelle Veränderung bedeutet“, sagte Bhatt. „Ich bin sicher, dass es einige geben wird, die Einwände erheben, da es keine randomisierten Daten gibt, die das unterstützen, aber in Wirklichkeit wollen die Patienten diese Tests und bekommen sie in vielen Fällen auch, sodass der Zug bereits abgefahren ist. Wir können genauso gut versuchen, sie in unsere Behandlungsalgorithmen zu integrieren, und zwar so, dass es von der Leitlinie gestützt wird. Ich glaube, dass das akzeptiert werden würde“, fügte er hinzu.
Bhatt stimmte auch der Auffassung zu, dass eine Lp(a)-Messung dabei helfen würde, eine neue Kohorte von Hochrisikopatienten zu identifizieren, die bislang oft übersehen wird. „Das wird globale Auswirkungen haben.“
Weiter begrüßte er die Aussagen zur Sicherheit der Statine. „Es ist gut, dass hier herausgestellt wird, dass die Sorge um eine Statin-Intoleranz übertrieben ist. Die allermeisten Patienten können mit Statinen behandelt werden, wenn man ein wenig am speziellen Statinpräparat und an der Dosierung spielt.“
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
Medscape Nachrichten © 2019 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: „Je niedriger, desto besser“: Neue ESC/EAS-Leitlinie empfiehlt noch aggressivere LDL-Senkung mit Statinen und PCSK9-Hemmern - Medscape - 12. Sep 2019.
Kommentar