Manche Patienten mit Verdacht auf Schädel-Hirn-Trauma (SHT) und normalem CT-Befund zeigen pathologische Veränderungen im MRT. Nur sind MRT-Screenings aus ökonomischen Gründen nicht bei allen Personen mit SHT-Verdacht möglich. Das saure Glia-Faserprotein (GFAP, glial fibrillary acidic protein) könnte sich als Marker eignen, um Patienten zu identifizieren, die eine erweiterte Untersuchung benötigen.
Zu diesem Ergebnis kommt Dr. John K. Yue vom Department of Neurological Surgery der University of California San Francisco, zusammen mit Kollegen in The Lancet Neurology [1]. Basis ihrer Veröffentlichung war eine prospektive Kohortenstudie.
„Bekanntlich zeigt GFAP eine Schädigung von Zellen im zentralen Nervensystem an“, sagt Prof. Dr. Götz Thomalla im Gespräch mit Medscape. Er ist Leitender Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Neurologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). „Welche Relevanz hohe Werte für das klinische Ergebnis haben, bleibt jedoch offen.“
Thomalla kritisiert: „Als Endpunkt verwenden die Autoren MR-Auffälligkeiten, ohne auf deren klinische Relevanz einzugehen.“ Man wisse zwar aus früheren Studien, dass sichtbare Auffälligkeiten im MRT wie Mikroblutungen oder strukturelle Anomalien häufiger mit klinischen Beschwerden einhergingen. Im Einzelfall bleibe aber deren Bedeutung für mögliche Komplikationen offen.
Auch der optimale Zeitpunkt der Messung sei problematisch, denn die besten Ergebnisse erziele man 9 bis 16 Stunden nach der Verletzung. „Wir hätten aber eher Bedarf an Möglichkeiten zur Triage nach ein bis zwei Stunden“, ergänzt Thomalla. „Für die akute Diagnostik ist dies zu spät.“
Aktuell arbeitet er beim SHT mit klinischen Algorithmen. Anhand der Symptome, der Glasgow Coma Scale oder bei Vorliegen eines Hochrasanztraumas wird über das weitere Vorgehen entschieden. Auch eine orale Antikoagulation in der Vorgeschichte gilt als Risikofaktor.
„Sind Patienten beschwerdefrei und finden wir nichts im CT, sehen wir keinen Grund, routinemäßig ein MRT zu machen“, ergänzt Thomalla. Sein Fazit: „Die Studie ist ein wichtiger Schritt, um zu zeigen, dass beim SHT eine erweiterte Diagnostik mit Biomarkern aus dem Blut generell möglich ist.“ Weitere Studien müssten jetzt die klinische Relevanz, aber auch den zeitlichen Aspekt klären.
SHT: Hohe Inzidenz – schwierige Diagnose
Zum Hintergrund: Die Inzidenz von SHT liegt in Deutschland bei etwa 325 Fällen pro 100.000 Einwohner und Jahr. „Jedes Jahr kommen weltweit Millionen von Patienten nach einer Kopfverletzung in die Notaufnahme“, schreibt Dr. Fiona Lecky von der University of Sheffield in einem begleitenden Editorial [2].
Die meisten von ihnen hätten leichte Beschwerden wie Bewusstseins- und Wahrnehmungsstörungen, Amnesie, Erbrechen sowie Kopfschmerzen. Doch in der modernen Notfallversorgung fehlten Möglichkeiten, den Schweregrad von SHT zu ermitteln und gegebenenfalls erforderliche therapeutische Maßnahmen abzuleiten.
„Derzeit ist das einzige Standard-Diagnosetool der CT-Gehirnscan“, ergänzt Lecky, doch sei dieser „bei mehr als 90% der Patienten mit SHT-Symptomen negativ“. Routinemäßige MRTs bewertet sie als zu teuer und zu zeitaufwändig.
Bei Patienten mit SHT korrelieren intrakranielle Verletzungen, die im CT sichtbar sind, mit höheren Plasmakonzentration des GFAP. Die FDA hat bereits einen Test auf Basis mehrerer Biomarker zugelassen, um Patienten zu identifizieren, die per CT untersucht werden sollten. Doch wer braucht darüber hinaus ein MRT?
Um diese Frage zu beantworten, analysierten Yue und seine Coautoren Daten von TRACK-TBI (Transforming Research and Clinical Knowledge in Traumatic Brain Injury). In diese prospektive Kohortenstudie wurden 450 SHT-Patienten in 18 US-Traumazentren mit Maximalversorgung eingeschlossen.
Sie hatten normale Befunde im CT und einen Glasgow Coma Scale Score zwischen 13 und 15 Punkten, sprich ein leichtes SHT. Innerhalb von maximal 24 Stunden nach der Verletzung wurde eine Blutprobe entnommen und im Labor untersucht. Und nach 7 bis 18 Tagen folgte ein MRT.
Hinzu kamen 209 gesunde Personen als Kontrollen. Die Plasma-GFAP-Konzentrationen wurden mit einem speziellen Assay bestimmt.
Unterscheidung verschiedener Patientengruppen mit dem GFAP
Zwischen dem 26. Februar 2014 und dem 15. Juni 2018 wurden 450 Patienten mit normalen Kopf-CT-Scans (von denen 330 unauffällige MRT-Scans und 120 positive MRT-Scans hatten), 122 orthopädische Patienten mit Verletzungen, aber ohne SHT, und 209 gesunden Kontrollen rekrutiert.
Als primären Endpunkt definierte Yues Team den Bereich unter der ROC-Kurve für GFAP bei Patienten mit CT-negativen und MRT-positiven Befunden im Vergleich zu Patienten mit CT-negativen und MRT-negativen Befunden innerhalb von 24 Stunden nach der Verletzung.
Receiver Operating Characteristic, kurz ROC, ist ein statistisches Verfahren, mit dem sich die Aussagekraft von Laborparametern vergleichen lässt. Hier wurde 0,777 angegeben. „Das heißt, mit GFAP lassen sich Patienten mit CT-unauffälligem, MRT-positivem Kopftrauma unterscheiden“, erklären die Autoren im Artikel.
Die mittlere GFAP-Konzentration im Plasma war bei Patienten mit CT-negativen und MRT-positiven Befunden am höchsten (414,4 pg/ml), gefolgt von Patienten mit CT-negativen und MRT-negativen Befunden (74,0 pg/ml), orthopädische Kontrollen (13,1 pg/ml) und gesunden Teilnehmern (8,0 pg/ml).
„GFAP wird fast nur in Astrozyten exprimiert. Es könnte helfen, Patienten mit Gehirnerschütterungen zu identifizieren, bei denen Neurologen ein SHT sonst nicht erkennen würden“, schreiben die Autoren. Sie hoffen auf „objektivere Informationen in Echtzeit“.
Stärken und Schwächen der Studie
Als Stärke nennen Yue uns seine Coautoren nicht nur die Größe ihrer Kohorte. Sie verweisen auf ihren leicht verfügbaren Assay zur Diagnostik am Patientenbett – auch ohne Kliniklabor im Hintergrund. Dem stehen mehrere Einschränkungen gegenüber.
„Wir fanden heraus, dass die beste Leistung zur Erkennung von Anomalien bei einer Blutentnahme zwischen neun und 16 Stunden nach der Verletzung auftrat, was den Nutzen unseres Point-of-Care-Tests stark einschränken könnte“, heißt es im Artikel. Auch entspreche das mediane Alter von 36 Jahren in TRACK-TBI nicht den Patienten im üblichen klinischen Alltag.
Lecky hofft im Editorial: „Wenn diese Ergebnisse aus der TRACK-TBI-Studie reproduzierbar sind und ihre klinische Bedeutung nachgewiesen werden kann, könnte eine Charakterisierung mit GFAP zu besseren Patientenergebnissen führen.“
Medscape Nachrichten © 2019 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Schädel-Hirn-Trauma: Biomarker liefert Hinweise, bei wem trotz unauffälligem CT ein MRT sinnvoll sein könnte - Medscape - 4. Sep 2019.
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