Polypille fürs Herz: Studie im Iran findet Nutzen bei breiter Anwendung in Sekundär- und Primärprävention

Kurt-Martin Mayer

Interessenkonflikte

29. August 2019

Ausgehend von Großbritannien diskutieren Mediziner weltweit seit gut 15 Jahren das Konzept einer „Polypille“, einer Kombination von 3 und mehr Wirkstoffen, die vor allem vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen schützen soll. Besonders in Schwellen- und Entwicklungsländern war das Interesse von Anfang an groß. Jetzt belegt eine im Iran durchgeführte Studie, dass der Einsatz eines derartigen Medikaments sowohl in einer relativ unselektierten breiten Population der Primär- als auch der Sekundärprävention offenbar die Häufigkeit kardiovaskulärer Ereignisse signifikant reduziert.

Im Lancet berichten Prof. Dr. Reza Malekzadeh, Innere Medizin und Gastroenterologie Universitätsklinik Teheran, und seine Kollegen von ihrer randomisierten Studie mit Teilnehmern der Golestan-Kohorte, 50.045 Bewohnern der iranischen Provinz Golestan im Alter zwischen 40 und 75 Jahren [1].

In seiner Einschätzung zeigt sich PD Dr. Guido Schmiemann, Institut für Public Health und Pflegeforschung Universität Bremen, beeindruckt von der Größe der Studie. Den Hauptvorteil der Polypille sieht er darin, dass sie natürlich „die Adhärenz verbessert, wenn die Patienten weniger verschiedene Medikamente einnehmen müssen“.

Doch reiche die Arbeit von Malekzadeh und seinen Kollegen nicht, um zum Beispiel für Deutschland den Einsatz eines derartigen Kombinationspräparats in der Primärprävention zu empfehlen.

Rund 3.400 Personen erhielten Polypille

Zwischen Februar 2011 und April 2013 nahmen Malekzadeh und seine Kollegen 6.838 Personen in einem Alter ab 50 Jahren in die Studie auf. Ungefähr jeder Zehnte (n=737) hatte bereits eine Diagnose einer kardiovaskulären Krankheit. Von diesen wiederum nahmen rund 75% (n=588) am Beginn der Studie ein Herz-Kreislauf-Medikament ein.

Von den 6.838 Studienteilnehmern erhielten 3.417 lediglich Anweisungen zu einem gesünderen Lebensstil, 3.421 wurden darüber hinaus angewiesen, täglich eine Polypille einzunehmen. Der Frauenanteil betrug 51,5% in der Verumgruppe und 49,1% in der Vergleichsgruppe.

2 Arten von Polypillen kamen zum Einsatz. Zunächst erhielten Teilnehmer eine Kombination aus:

  • Hydrochlorothiazid (12,5 mg),

  • Acetylsalicylsäure (ASS, 81 mg),

  • Atorvastatin (20 mg) und

  • Enalapril (5 mg).

Teilnehmer, die in der Follow-up-Phase anhaltenden Husten entwickelten, wurden auf eine zweite Polypille eingestellt:

  • mit 40 mg Valsartan anstelle von Enalapril.

Die Follow-up-Zeit betrug 5 Jahre – eine offenbar zu kurze Zeitspanne, um auch die Mortalität als Endpunkt aufnehmen zu können.

Mit Polypille: Kardiovaskuläres Ereignis seltener

Die Einnahme der Polypille schützte signifikant vor einem kardiovaskulären Ereignis: 8,8% der Teilnehmer in der Lebensstil-Gruppe erlitten im Studienzeitraum ein größeres kardiovaskuläres Ereignis gegenüber 5,9% in der Polypille-Gruppe (HR 0,66, 95%-KI 0,55-0,8). Zu den erfassten Ereignissen zählten die Notwendigkeit einer Revaskularisation, Schlaganfall, Myokardinfarkt, Tod nach derartigen Ereignissen und plötzlicher Herztod.

Interessanterweise zeigte sich kein signifikanter Zusammenhang des Nutzens der Polypille mit existierenden kardiovaskulären Vorerkrankungen.

In einer Sonderauswertung mit jenen Teilnehmern in der Polypille-Gruppe, die eine hohe Adhärenz gezeigt hatten (über 70% Einnahmetreue), trat die Risikoreduktion gegenüber der Lebensstil-Gruppe noch deutlicher hervor – die Ereignisrate wurde mehr als halbiert (HR 0,43, 95%-KI 0,33-0,55). Ihr Risiko eines schweren kardiovaskulären Ereignisses sank um 57%, verglichen mit 9% bei reiner Unterweisung in Lebensstilfaktoren.

Der bedeutendste Unterschied hinsichtlich Nebenwirkungen zeigte sich darin, dass es unter jenen, die die Polypille eingenommen hatten, zu 13 Fällen gastrointestinaler Blutungen kam, in der anderen Gruppe zu 9. Der Unterschied war jedoch nicht signifikant.

Für die Primärprävention in Risikogruppen geeignet?

Schmiemann weist gegenüber Medscape darauf hin, dass die Autoren einräumten, keine signifikante Reduktion der Gesamtmortalität festgestellt zu haben. „Eine derartige Wirkung wäre aber sehr relevant für Patienten.“

Prof. Dr. Dietrich Andresen

Für Prof. Dr. Dietrich Andresen, Leiter Kardiologie Evangelisches Krankenhaus Hubertus, Berlin und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Herzstiftung, spiegeln die Ergebnisse vor allem die Verhältnisse in einem Land wie dem Iran wider, wo die Versorgungslage insbesondere in ruralen Gebieten schlechter sei als in Deutschland.

Aber: „Es ist dennoch eine große Studie mit interessanten Ergebnissen. Auch wenn man die Ergebnisse nicht 1:1 auf Europa übertragen kann, muss man doch festhalten, dass die Patienten auch bei uns eher bereit sind, täglich eine Pille statt 4 einzunehmen“, betont Andresen.

Nachteilig seien allerdings die fixen Dosen, so der Kardiologe – hier wäre eine stärkere Individualisierung wünschenswert. „Ein Angebot mit verschiedenen Wirkstoffen in unterschiedlichen Konzentrationen wäre perfekt.“

Nach Stand des Wissens hält Andresen den Einsatz einer Polypille jedenfalls auch in Deutschland für angezeigt. „Wir haben tolle Medikamente, aber der Patient nimmt sie nicht. Vor allem bei Blutdrucksenkern tritt dieses Problem häufig auf.“ Menschen mit erhöhten Risikofaktoren etwa aufgrund von bestehendem Diabetes oder Nikotinabhängigkeit könnten von der Kombination profitieren.

 
Auch wenn man die Ergebnisse nicht 1:1 auf Europa übertragen kann, muss man doch festhalten, dass die Patienten auch bei uns eher bereit sind, täglich eine Pille statt 4 einzunehmen. Prof. Dr. Dietrich Andresen
 

In der Primärprävention sind insbesondere ASS in Deutschland Grenzen gesetzt. So wird in der S3-Leitlinie „Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention“ der DEGAM (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin) ASS nur für Hochrisiko-Patienten (kardiovaskuläres Gesamtrisiko über 20% auf 10 Jahre) empfohlen, bei einem Risiko unter 10% sollte ASS dagegen nicht eingesetzt werden.

Dem globalen Mangel an geeigneten Medikamenten abhelfen

In einem Kommentar in derselben Ausgabe des Lancet betont Prof. Dr. Anushka Patel, The George Institute for Global Health in Australien, die globale Bedeutung der neuen Ergebnisse „trotz einiger Limitationen“ [2]. Die Resultate seien „besonders wichtig für Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen, in denen 80% der globalen kardiovaskulären Probleme existieren“. Polypillen (mit ASS) zu geringen Preisen könnten das Erreichen globaler Ziele bei der Zurverfügungstellung essentieller kardiovaskulärer Arzneimittel erleichtern.

In einer Stellungnahme betont Studienleiter Malekzadeh, dass die Polypille „keine Alternative“ zu einem gesunden Lebensstil sei. Sie sollte in jedem Fall mit körperlicher Bewegung, gesunder Ernährung und einem Verzicht auf das Rauchen kombiniert werden. Nach den Ergebnissen seiner Studie müssen 35 Personen die Polypille einnehmen, um ein schweres kardiovaskuläres Ereignis zu verhindern. In der Gruppe mit 70%-iger Adhärenz fiele diese NNT auf 21.
 

Kommentar

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