Große Fall-Kontroll-Studie in Bayern: Wer sich impfen lässt, hat kein höheres MS-Risiko – eher im Gegenteil

Petra Plaum

Interessenkonflikte

27. August 2019

Wird bei Menschen, die sich impfen lassen, in den Folgejahren häufiger Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert als bei solchen, die sich nicht impfen lassen? Eine große bayerische Fall-Kontroll-Studie mit mehr als 220.000 Versicherten, gerade im Journal Neurology publiziert, gibt Hinweise darauf, dass das Gegenteil der Fall ist [1]. Patienten, die später an MS erkrankten, hatten weniger Impfungen – insbesondere gegen Influenza, Hepatitis B und Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME).

Ein Team um Dr. Alexander Hapfelmeier und Prof. Dr. Bernhard Hemmer aus der Klinik für Neurologie und vom Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie der Technischen Universität München (TUM) hat Krankenkassendaten von gesetzlich Versicherten aus 13 Jahren retrospektiv analysiert.

Bei 12.262 der Teilnehmer war zwischen 2010 und 2017 erstmals eine MS diagnostiziert worden. Nicht nur ihr Impfverhalten war für die Studie relevant, sondern auch das dreier Kontrollgruppen: einer aus neu diagnostizierten Morbus-Crohn-Patienten (n=19.296) oder Psoriasis-Patienten (n=112.292) und einer aus Patienten, die keine der 3 Autoimmunerkrankungen hatten (n=79.185).

„Am meisten hat uns überrascht, dass wir bei MS-Patienten im Vergleich zu allen Kontrollkohorten eine geringere Rate von Impfungen vor der Erstdiagnose beobachtet haben“, berichtet Hemmer, Direktor der Neurologischen Klinik und Poliklinik am TUM-Universitätsklinikum rechts der Isar.

 
Am meisten hat uns überrascht, dass wir bei MS-Patienten im Vergleich zu allen Kontrollkohorten eine geringere Rate von Impfungen vor der Erstdiagnose beobachtet haben. Prof. Dr. Bernhard Hemmer
 

Prof. Dr. Uwe Zettl, Sektionsleiter der Sektion für Neuroimmunologie in der Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universitätsmedizin Rostock, kommentiert: „Es gab in der Vergangenheit andere gute Studien, die keine Hinweise auf die MS-Entstehung durch Impfungen fanden. Die ursprüngliche Vermutung, dass ein Zusammenhang zwischen Impfungen und der nachfolgenden klinischen Manifestation einer MS bestehen könnte, hat ihren Nährboden vor allem in Einzelfallberichten und kleinen Fallserien aus dem letzten Jahrhundert.“

Prof. Dr. Uwe Zettl

Der Neurologe ergänzt: „Die aktuelle Studie überzeugt durch die Anzahl der MS-Patienten, die Größe und die Einschlusskriterien der Kontrollgruppen sowie den klar definierten Zeitraum der Untersuchung.“ Das ergebe eine hohe statistische Aussagekraft für den klinischen Praxisalltag.

Design-Infos: 3 Erkrankungen, viele Impfstoffe

Die Autoren haben Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) retrospektiv analysiert. Diese stammten aus den Jahren 2005 bis 2017 und enthielten Angaben von etwa 85% der bayerischen Bevölkerung.

Nachdem die Autoren Patienten ausgeschlossen hatten, bei denen vorher schon eine MS-Diagnose vorlag, die nicht dauerhaft in Bayern wohnten oder über 70 Jahre alt waren, konnten sie 12.262 MS-Patienten in die Analyse aufnehmen. Die Kontrollgruppen bestanden aus insgesamt 210.773 Personen. In der Geschlechter- und Altersverteilung entsprachen die 4 Gruppen einander weitgehend.

Um Störfaktoren weiter einzugrenzen, rechneten die Autoren für Subgruppenanalysen jene MS-Patienten heraus, bei denen schon in den 5 Jahren vor der Diagnose einiges auf eine MS hingedeutet hatte: Menschen mit der Diagnose einer Neuritis optica, mit mehrfachen Bildgebungen des Kopfes oder wiederholten Konsultationen eines Neurologen.

Die Hypothese, die der Studie zugrunde lag, lautete: „Könnte Impfen ein Risikofaktor für MS sein?“ oder genauer: „Kann eine Impfung das Risiko für eine Neuerkrankung an MS im Laufe der nächsten 5 Jahre erhöhen?“

 
Die aktuelle Studie überzeugt durch die Anzahl der MS-Patienten, die Größe und die Einschlusskriterien der Kontrollgruppen sowie den klar definierten Zeitraum der Untersuchung. Prof. Dr. Uwe Zettl
 

Auf der Suche nach Antworten betrachteten die Autoren Impfungen gegen Pneumokokken, Meningokokken, Mumps, Masern, Röteln und Windpocken, gegen das Humane Papillomavirus (HPV), Hepatitis A und B, FSME und Influenza als Einflüsse. Sowohl der Umstand, überhaupt eine Impfung erhalten zu haben, als auch Korrelationen der Erkrankungen mit den einzelnen Impfungen spielten eine Rolle.

Kein erhöhtes Risiko für MS bei geimpften Personen

Das Kernergebnis der Studie lautet: „Patienten, bei denen eine MS neu diagnostiziert wurde, hatten in den 5 Jahren vor der Diagnosestellung weniger Impfungen als alle Kontrollgruppen“, so die Autoren. Verglichen mit Menschen ohne Autoimmunerkrankung betrug die Odds Ratio für eine Impfung unter MS-Patienten 0,870 (p<0,001).

Insgesamt hatten 44,5% dieser Kohorte mindestens einen Impfstoff erhalten. In allen 3 Kontrollgruppen lag diese Rate bei 48 bis 49%. Bei Ausschluss derjenigen Patienten, bei denen es vorab Hinweise auf eine sich andeutende MS-Diagnose gegeben hatte, waren die Effekte noch deutlicher.

 
Patienten, bei denen eine MS neu diagnostiziert wurde, hatten in den 5 Jahren vor der Diagnosestellung weniger Impfungen als alle Kontrollgruppen. Dr. Alexander Hapfelmeier und Kollegen
 

Auch bei der Einzelanalyse der verabreichten Vakzine fand sich für keinen Impfstoff ein erhöhtes Risiko für MS. Eher war das Gegenteil der Fall. Nach Impfungen gegen Influenza, Hepatitis B und FSME war das MS-Risiko sogar signifikant niedriger. „Ob es sich dabei tatsächlich um einen protektiven Effekt handelt oder ob die Patienten sich in der Prodromalphase der MS anders verhalten, muss in weiteren Studien untersucht werden“, fordern die Autoren nun.

Weitere Subgruppen-Analysen gewünscht

Laut Hemmer wird nun weiter geforscht: „Wir weiten die Studie aktuell auf längere Zeiträume vor der Diagnosestellung aus. Dies soll die Frage beantworten, wie lange dieser Effekt vor der Diagnose beobachtet werden kann.“

Zettl begrüßt das Design und die Akribie der Auswertung. Er bedauert lediglich, dass die Autoren aufgrund der nicht zur Verfügung stehenden Daten keine weiteren Subgruppen-Analysen zu wichtigen Risikofaktoren bei MS durchführen konnten. Gab es Unterschiede beim Impfstatus zwischen Rauchern und Nichtrauchern oder übergewichtigen und normalgewichtigen Patienten mit MS?

Darauf stünden die Antworten noch aus. Auch eine getrennte Auswertung nach Lebensräumen (urban versus ländlich) und nach den klinischen Verlaufsformen (schubförmig versus primär progredient) wäre laut Zettl interessant gewesen.

Erklärungsansätze und Wünsche für die Zukunft

Die Autoren diskutieren, dass immunologische Prozesse eine Rolle gespielt haben könnten, die zur Folge hatten, dass bei frisch Geimpften nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt MS diagnostiziert wurde. Die genauen Zusammenhänge zwischen Antikörpertitern und MS-Risiko sind derzeit noch unklar.

Ein weiterer Erklärungsansatz: „Vielleicht nehmen Menschen schon längere Zeit vor der Diagnose ihre Krankheit wahr und verzichten deshalb intuitiv auf zusätzliche Belastungen für das Immunsystem“, betont Studienautor Hapfelmeier.

Die Krankenkassendaten spiegelten wider, dass jene Patienten, die später eine MS-Diagnose bekamen, schon in den Jahren zuvor häufiger wegen unspezifischer Symptome zum Arzt gegangen waren als Gleichaltrige aus den Kontrollgruppen. Zudem wurden z.B. Frauen aus der Gruppe der MS-Patienten seltener schwanger.

Das derzeitige Fazit der Studienautoren lautet: „Es gibt keine Evidenz für die Hypothese, dass Impfen ein Risikofaktor für die Entwicklung einer MS ist.“
 

Kommentar

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