Elektronische Patientenakte: Forderung nach mehr Datenhoheit für Patienten; Forschung und Industrie gieren nach den Daten

Christian Beneker

Interessenkonflikte

20. August 2019

Der Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, Ulrich Kelber, fordert bei der elektronischen Patientenakte (ePA), dass die Patienten differenziertere Zugriffsrechte erhalten. Sie sollen selbst entscheiden, wem sie wann ihre Daten zur Verfügung stellen. Erst kürzlich sagte er der Deutschen Presse-Agentur (dpa), bei den Auswahlmöglichkeiten dürften keine Abstriche gemacht werden. Es müsse stets möglich sein, auch nur einzelne Bestandteile der Akte für bestimmte Ärzte freizugeben [1].

Welche Lösung sich für die Zugriffsrechte ergeben mag – sie wird auch die Forschung mit Patientendaten der ePA beeinflussen. Jedenfalls warten Forschung und Industrie dringend auf eine rechtlich wasserdichte Zugriffsregelung, um Daten für ihre Zwecke zu verwenden.

Mehr Spielraum für Versicherte

Wenn ein Patient etwa eine Zweitmeinung einholen will, brauche der Zweitmeinungsarzt Daten aus der ePA, so Kelber. Derzeit habe man aber nur die Möglichkeit, alle oder keine Daten der eigenen Akte zugänglich zu machen. „Wenn man nur entscheiden kann, dass dieser Arzt alles sehen darf oder gar nichts, ist das eine Einschränkung für die Patienten“, mahnt Kelber. „Sie wären dann nicht mehr Herr des Verfahrens. Das ist falsch.“

 
„Wenn man nur entscheiden kann, dass dieser Arzt alles sehen darf oder gar nichts, ist das eine Einschränkung für die Patienten.“ Ulrich Kelber
 

Zum Hintergrund: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) musste beim Kabinettsentwurf seines Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG) kürzlich zurückrudern und neue Regelungen zur ePA aus dem Entwurf ausgliedern. Denn das Bundesjustiz- und Verbraucherschutzministerium (BMJV) hatte offenbar im Zuge der Ressortabstimmung Einwände gegen die Rechteverteilung beim ePA-Datenzugriff erhoben. Nun will Spahn offene Fragen in einem eigenen Datenschutz-Gesetz regeln. Kelber hat dabei auf die Datensouveränität von Patienten hingewiesen.

Die Frage ist auch in Hinblick auf die Forschung und wirtschaftliche Nutzung von Patientendaten relevant, wie die Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V. (TMF) betont. Noch fehle ein „datenschutzkonformer Vorschlag zur elektronischen Patientenakte, beim dem auch die Forschung berücksichtigt wird“, teilt die TMF mit.

Die Plattform fordert eine „zeitnahe Regelung“. Leider sei die ursprünglich enthaltene Forschungsschnittstelle nun zusammen mit dem gesamten § 291 h des V. Sozialgesetzbuchs (SGB V) zur Neuregelung der elektronischen Patientenakte aus dem Kabinettsentwurf gestrichen worden, bedauert Stefan Rabe von der TMF.

„Die Chancen der Nutzbarmachung von Versorgungsdaten für die Forschung sind enorm“, betont unterdessen Sebastian C. Semler, Geschäftsführer der TMF. „Profitieren werden die Patientinnen und Patienten aber auch der Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt. Um die Chancen zu nutzen, bedarf es eines einheitlichen und vertrauenswürdigen Rechtsrahmens."

 
„Die Chancen der Nutzbarmachung von Versorgungsdaten für die Forschung sind enorm.“ Sebastian C. Semler
 

In der Tat können Routinedaten der Krankenversorgung auch der Entwicklung von medizinischen Anwendungen dienen: ein Bereich der künstlichen Intelligenz (KI). Dabei gehe es, wie Rabe betont, nicht nur um personenbezogene Daten, sondern auch um anonymisierte Datensätze. Mittels dieser ließen sich medizinische Anwendungen von KI quasi trainieren.

Um beispielsweise eine funktionierende Software zu erhalten, die Mammographie-Aufnahmen eines Brustkrebsscreenings auswerte, müsse die Anwendung zunächst anhand vorhandener qualitätsgesicherter Aufnahmen immer und immer wieder lernen, erklärt Rabe. Diese Aufnahmen fänden sich in großer Zahl in den ePA von Brustkrebspatientinnen.

 
„Wir haben einen großen Datenschatz vor uns, für den internationale Konzerne derzeit Milliarden ausgeben, um ihn sich zu schaffen.“ Stefan Rabe
 

„Wir haben einen großen Datenschatz vor uns, für den internationale Konzerne derzeit Milliarden ausgeben, um ihn sich zu schaffen“, resümiert Rabe. Eine enorme Gelegenheit also, Millionen von Patientendaten zu nutzen. Allerdings drängt die Zeit.

Das Rennen um KI-Anwendungen hat längst begonnen

Denn die Konkurrenz sei hellwach, während man sich in Deutschland noch den Schlaf aus den Augen reibe, fürchtet die TMF. Google oder Amazon verfügen bereits über Daten aus Krankenhäusern, mit denen sie ihre Algorithmen trainieren. „Diese Firmen gehen dann an die Märkte und werden außerhalb unseres Rechtsrahmens bald eigene Angebote machen, so Rabe.

Die Forschungseinrichtungen und Hersteller stehen derweil in den Startlöchern, um den Datenschatz zu heben und warten darauf, dass die in der Ressortabstimmung für die ePA aufgeworfenen Datenschutzfragen geklärt werden. Rabe: „Wir kommen Monat um Monat in Verzug, weil wir es nicht schaffen, die ePA in der Versorgung rechtssicher an den Start zu bringen.“

Es gilt also: Ohne ePA keine Daten und ohne Daten keine Forschung und ohne Forschung keine neuen Erkenntnisse und ohne Erkenntnisse keine Marktreife und schließlich keine Therapien – jedenfalls nicht mit Algorithmen, die hierzulande trainiert wurden. Das Rennen um die KI-Anwendungen ist längst eröffnet.

 
„Wir kommen Monat um Monat in Verzug, weil wir es nicht schaffen, die ePA in der Versorgung rechtssicher an den Start zu bringen.“ Stefan Rabe
 

Gäbe es zukünftig ein Gesetz für „Forschungsdaten-Spenden“ auf Basis der ePA, dann würden die Patienten zum Beispiel über eine App in die Datenspende einwilligen, so die Vorstellung der TMF. Aus Sicht der Wissenschaft sei „entscheidend, dass die erteilten Einwilligungen nicht zu eng gefasst werden, sondern übergreifende Forschungszwecke und nicht zu kurz gesteckte Zeiträume abdecken.“ Das wäre aber mit den Forderungen von Datenschützer Kelber wohl schwer zu vereinbaren.

Gematik sieht keine Probleme

Aus Sicht der Gesellschaft für Telematik-Anwendungen der Gesundheitskarte mbH (gematik) „besteht für die Patientenakte in puncto Datenschutz und Datensicherheit kein Nachholbedarf“, sagt Holm Diening, Abteilungsleiter Datenschutz und Informationssicherheit bei der gematik, zu Medscape.

Allein der Umstand, dass der Patient entscheiden könne, ob er überhaupt eine ePA haben möchte oder nicht, welche Dokumente in die Akte kämen und wie lange er wem den Zugriff auf seine Daten gewähre, sei ein wesentlicher Schritt zur Datenautonomie, so Diening. Im Übrigen schwebe auch der gematik bei den Zugriffsrechten ein verfeinertes Konzept bei Zugriffsberechtigungen vor.

 
„Es besteht für die Patientenakte in puncto Datenschutz und Datensicherheit kein Nachholbedarf.“ Holm Diening
 

Was die Freigabe von Forschungsdaten angeht, sei die Zustimmung der Patienten die Voraussetzung. „Wie die Daten ausgeleitet werden, ist noch nicht Gegenstand einer Spezifikation“, ergänzt der Experte. „Hierzu wird die gematik mit Patientenvertretern und mit der Forschung sprechen, wie eine solche Zugriffsmöglichkeit aussehen könnte, und vor allem, welche Bedingungen daran geknüpft sind. Wie das Ergebnis aussieht, kann ich noch nicht sagen.“

Allerdings drängt die Zeit, auch das weiß die gematik. „Wir müssen die Datenentnahme zur Forschung in einer sinnvollen Zeit umsetzen, dass wir den Vergleich mit der EU und weltweit nicht zu scheuen brauchen.“
 

Kommentar

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