Ob es Zusammenhänge zwischen der Nutzung von Internet, Smartphone und sozialen Medien mit der geistigen Gesundheit gibt, ist bei Wissenschaftlern umstritten. Wissenschaftler um Prof. Dr. Russell Viner vom University College London kommt zu dem Ergebnis, dass nicht Social Media selbst nachteilige Einflüsse haben, sondern sogenannte Mediatoren eine Rolle spielen [1].
Mit Mediatoren Faktoren gemeint, die erst durch die Nutzung von Medien entstehen. Wie Viner und Kollegen in The Lancet Child & Adolescent Health schreiben, lässt ihre Beobachtungsstudie den Schluss zu, dass weibliche Teenager bei sehr häufiger Nutzung sozialer Medien aufgrund von 3 Faktoren, nämlich Schlafmangel, Bewegungsarmut und Internet-Intrigen („Cyberbullying“), in ihrer psychischen Gesundheit beeinträchtigt sind.
Die Reaktionen auf die Arbeit fallen unterschiedlich aus. Dr. Ann de Smet von der Ghent University schreibt in einem Kommentar, dass die Nutzung sozialer Medien nicht so belastend sein müsse wie oft angenommen. Gegenüber dem Science Media Center Deutschland (SMC) teilten nicht alle Experten diese Einschätzung.
Prof. Dr. Christopher Ferguson von der Abteilung für Psychologie der Stetson Universität in Florida, kritisiert, die von Viner und Kollegen gefunden Effekte seien sehr schwach gewesen – „so schwach, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sie auf methodische Störungen zurückzuführen sind“.
Darüber hinaus tadelt Prof. Dr. Malte Elson von der Ruhr Universität Bochum die Methodik, die jede Wirkrichtung zulasse – auf Grundlage der Daten wäre es „genauso plausibel, dass Jugendliche mit einer geringeren psychischen Gesundheit häufiger soziale Netzwerke aufsuchen“, so Elson.
Die Berücksichtigung zentraler Mediatorvariablen sei hingegen „die große Stärke dieser Studie“, meint Dr. Johannes Breuer, Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Köln. Der Befund, dass direkte Effekte der Nutzung sozialer Medien auf psychische Gesundheit und Wohlbefinden sehr klein ausfielen und durch die Berücksichtigung relevanter Kontrollvariablen mitunter verschwindend gering würden, passe „in die aktuelle Forschung“.
Nahezu uneingeschränktes Lob erfährt die Arbeit aus London von Dr. Claudia Lampert, Leibniz-Institut für Medienforschung, Hamburg. „Innovativ und aufschlussreich“ sei sie, die „Hinweise“ auf die Rolle der Mediatoren könnten zu einer „differenzierteren“ Diskussion über „Unterstützungsbedarfe und -möglichkeiten“ bei der Nutzung sozialer Medien beitragen.
Selbsteinschätzung und Fragebogenauskünfte über drei Jahre hinweg
Viner und Kollegen nahmen eine Sekundäranalyse öffentlich zugänglicher Daten der Our Futures Study vor, einer repräsentativen Längsschnittstudie mit 12.866 Teilnehmern im Alter von 13 bis 16 Jahren in England. In 3 Befragungswellen in 3 aufeinanderfolgenden Jahren wurde die Häufigkeit der Nutzung sozialer Medien erfragt. Das Spektrum reichte von mehrmals täglich bis zu seltener als wöchentlich.
Zum Vergleich dienten die Antworten in einem standardisierten Fragebogen zum Grad psychischer Belastung in der 2. Kontaktaufnahme (im Alter von 14 bis 15 Jahren) und im 3. Jahr (mit 15 bis 16 Jahren). Hinzu kamen eine Selbsteinschätzung zu Lebenszufriedenheit, zum Glücks- und Angstempfinden sowie einer Aussage, wie lebenswert man die eigene Existenz empfindet.
Der Anteil häufiger Nutzer sozialer Medien stieg vom 1. bis zum 3. Jahr von 34,4% (CI 95%) auf 61,9% bei den Jungen und von 51,4% auf 75,4% bei den Mädchen. Sehr hohe Konsumwerte im 1. Jahr zogen erhöhte Werte im Fragebogentest (GHQ12score) im 2. Jahr bei Mädchen (OR: 1,31; 95%-KI, p = 0,014) wie auch bei Jungen (OR: 1,67; p = 0,0009) nach sich.
In der 3. Welle waren die Werte zum Wohlbefinden nur noch für Intensivnutzerinnen signifikant. Die adjustierten Odds Ratios für Lebenszufriedenheit betrugen 0,86 (p = 0,0139), für Glücksempfinden 0,80 (p = 0,0013) und 1,28 für Angstgefühle (p = 0,0007).
Wurden diese Ergebnisse nach Faktoren wie „Cyberbullying“, Schlaf und körperliche Aktivität adjustiert, zeigte sich, dass sie bei den Mädchen 58,2% der Unterschiede im Fragebogen zur psychischen Gesundheit, 80,1% der Unterschiede zur Lebenszufriedenheit, 47,7% zum Glücksempfinden und 32,4% zu Angstgefühlen erklärten. Damit verloren sie nach der Adjustierung mit Ausnahme der Angst ihre Signifikanz.
Bei den Jungen vermochten die 3 Faktoren nur 12,1% des Zusammenhangs zwischen der Nutzung und dem Grad psychischer Belastung im GHQ12score erklären. Das bedeutet, dass bei Jungen andere vermittelnde Faktoren in Betracht zu ziehen sind als Internet-Intrigen, mangelnder Schlaf und zu wenig Bewegung.
Viner schließt aus seinen Ergebnissen: Die nachgewiesenen Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit von Mädchen bei sehr intensiver – mindestens dreimal täglicher – Nutzung sozialer Medien könnten mit „Cyberbullying“, Mangel an Schlaf und an Bewegung zusammenhängen. Eine Pressmitteilung von Lancet zitiert ihn so: „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass soziale Medien selbst keinen Schaden anrichten, aber eine häufige Nutzung Aktivitäten unterbindet, die eine positive Wirkung auf die geistige Gesundheit haben wie Schlaf und Bewegung und junge Menschen außerdem schädlichen Inhalten aussetzt, besonders der negativen Erfahrung des Cyberbullying.“
Die deutlichen Geschlechtsunterschiede interpretiert die Mitautorin Dr. Dasha Nicolls dahingehend, dass Mädchen möglicherweise soziale Netzwerke wie Instagram und Facebook häufiger benutzten als Jungen. Auch hätten sie ein durchschnittlich höheres Ausgangsniveau an Angstgefühlen gehabt. Und schließlich hält sie es für denkbar, dass Internet-Intrigen unter Mädchen weiter verbreitet seien oder für sie einen größeren Stressor darstellten als für Jungen.
Kritik an der Methodik: Messungen zu punktuell und oberflächlich
Die Ergebnisse von Viner und Kollegen ähneln jenen einer zuvor vorgelegten, ebenfalls mit Daten aus dem Vereinigten Königreich durchgeführten Erhebung der Universität Oxford. In seiner im Grunde wohlwollenden Einschätzung findet Dr. Johannes Breuer vom Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Köln. allerdings vor allem 2 methodische Schwächen bei Viner und Kollegen: Psychische Gesundheit und Wohlbefinden seien nur einmal abgefragt worden und die eingeholten Selbstauskünfte seien oftmals nicht verlässlich.
Es sei neben dem Problem sozialer Erwünschtheit „für Befragte schwierig, selbst einzuschätzen, wie häufig sie bestimmte Medien nutzen“. Eine Alternative wären digitale Spurdaten gewesen, etwa mittels spezieller Software zur Aufzeichnung der Browseraktivitäten.
Prof. Dr. Malte Elson von der Ruhr Universität Bochum äußert ähnliche Kritikpunkte und empfiehlt ein Medientagebuch als verlässlichere Methode. Die Arbeit von Viner und Kollegen bezeichnet er als „hypothesengenerierend“. Das heißt, sie gebe einen ersten Hinweis auf ein mögliches Erklärungsmodell.
Nicht zuletzt hätte es Prof. Dr. Christopher Ferguson von der Stetson University Florida besser gefunden, Daten von den Eltern oder den Lehrern zu erheben. Er nennt die festgestellten Effekte „winzig“ und empfiehlt, Internet-Mobbing, Schlaf und Bewegung als eigenständige Themen in Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit Jugendlicher zu erforschen, losgelöst von der Internetnutzung. So resultierten viele der Schlafprobleme von Jugendlichen in den Vereinigten Staaten aus „Schulplänen, die zu früh beginnen und im Widerspruch zu den normalen zirkadianen Rhythmen stehen“.
Weitgehende Konsequenzen aus dem in ihren Augen anerkennenswerten Befund von Viner und Kollegen fordert die Hamburger Medienforscherin Lampert. So wären Angebote sinnvoll und notwendig, „die Heranwachsenden Möglichkeiten bieten, ihre eigene, aber auch die Nutzung von sozialen Medien im schulischen Kontext“ zu reflektieren und entsprechende Selbstregulierungsstrategien zu entwickeln.
An die Eltern gerichtet rät Lampert, ein grundsätzliches Verbot von Social-Media-Aktivitäten sei „weder angemessen noch sinnvoll. Vielmehr sollten Eltern signalisieren, dass sie im Fall von negativen Online-Erfahrungen wie Mobbing als Ansprechpartner unterstützend zur Verfügung stehen.“ In Bezug auf Schlaf empfehle es sich, dass Kinder abends ihr Smartphone außerhalb ihres Zimmers deponierten.
Medscape Nachrichten © 2019 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Freispruch für Facebook & Co? Social Media haben direkt wohl kaum Folgen für die mentale Gesundheit - Medscape - 16. Aug 2019.
Kommentar