Dem Auge verborgen: Künstliche Intelligenz findet Hinweise auf Herzrhythmusstörungen in vermeintlich normalen EKGs

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

8. August 2019

In einem EKG mit regulärem Sinusrhythmus lassen sich mit Tools der Künstlichen Intelligenz (KI) Hinweise auf Vorhofflimmern finden. Die Software hat dabei eine Sensitivität von bis zu 82,3% und eine Spezifität von bis zu 83,4%.

Zu dem Ergebnis kommen Forscher um Zachi I. Attia von der Mayo Clinic Rochester; Großbritannien, in The Lancet [1]. Wie ihr Algorithmus genau funktioniert, ist jedoch unklar.

Lässt sich der Algorithmus auf andere EKG’s übertragen?

„Die Autoren arbeiten hier mit State-of-the-Art-Methoden der Künstlichen Intelligenz“, sagt Prof. Dr. Benjamin Meder im Gespräch mit Medscape. Er ist einer der Direktoren von „Informatics for Life“, einem Forschungskonsortium rund um die KI aus Heidelberg, und hat für seine Forschung Auszeichnungen der Deutschen Herzstiftung e. V. erhalten.

 
Man hat hier ein neuronales Netzwerk entwickelt und mit über 500.000 EKGs trainiert. Prof. Dr. Benjamin Meder
 

Meder erläutert: „Man hat hier ein neuronales Netzwerk entwickelt und mit über 500.000 EKGs trainiert.“ Er merkt an, dass Datensätze ausschließlich aus der Mayo Clinic gekommen seien und mit einem bestimmten EKG-Gerät aufgenommen worden sind. „Als offene Frage bleibt: Wie gut kann ich den Algorithmus auf Datensätze transferieren, die mit anderen Geräten oder an anderen Kliniken aufgenommen würden – oder ändert das die Leistungsfähigkeit der Vorhersage?“

Diese Hürde sei vor möglichen Anwendungen in der Praxis noch zu überwinden. „Außerdem handelt es sich um ein spezielles Patientenkollektiv“, ergänzt der Experte. Wer sich im Krankenhaus vorstelle und per EKG untersucht werde, habe mit größerer Wahrscheinlichkeit kardiale Vorerkrankungen.

 
Die Zukunft wird sein, dass Patienten selbst eine Smart Watch mit Algorithmen tragen, die das Vorhofflimmerrisiko selbst beim Sinusrhythmus erkennt und ihnen rät, zum Arzt zu gehen. Prof. Dr. Benjamin Meder
 

Diese Fragen seien durch weitere Studien zu klären. Künstliche Intelligenz wird Meder zufolge nicht nur im klinischen Setting eine Rolle spielen. „Die Zukunft wird sein, dass Patienten selbst eine Smart Watch mit Algorithmen tragen, die das Vorhofflimmerrisiko selbst beim Sinusrhythmus erkennt und ihnen rät, zum Arzt zu gehen.“

Was sehen Ärzte nicht im EKG?

„Der Wert dieser Arbeit liegt darin, dass sie als einer der ersten die Vision aufkommen lässt, dass KI mittelfristig, das heißt in einigen Jahren, auch in die klinische Routine der kardiovaskulären Medizin eingehen könnte“, bestätigt Prof. Dr. Stefan Kiechl gegenüber dem Science Media Center Deutschland. Er forscht an der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Innsbruck.

 
Der hier vorgestellte Test erlaubt nicht die Diagnose eines Vorhofflimmerns, sondern macht lediglich eine Wahrscheinlichkeitsaussage. Prof. Dr. Stefan Kiechl
 

Sein Einwand: „Der hier vorgestellte Test erlaubt nicht die Diagnose eines Vorhofflimmerns, sondern macht lediglich eine Wahrscheinlichkeitsaussage.“ Im nächsten Schritt müsse eine Validierung in unterschiedlichen Patientengruppen, aber auch in der gesunden Normalbevölkerung, basierend auf unterschiedlichen EKG-Ableitungen, erfolgen.

Doch wie erkennt ein Algorithmus anhand von Daten, was Ärzte in manchen Fällen nicht sehen? „Vermutlich sind es subtile P-Wellen Veränderungen“, so Kiechl. „Hier gibt es bereits einige Studien, die dies nahelegen.“ Der Experte kritisiert jedoch: „KI ist eine Art Black Box, die ein Ergebnis generiert, ohne dass nachvollziehbar ist, wie dieses zustande kommt.“

Vorhofflimmern – ein unentdecktes Leiden

Doch der Bedarf an einem preisgünstigen, genauen Screening-Tool ist vorhanden. Etwa 2% aller Menschen zwischen 50 und 60 Jahren leiden in den USA bzw. Europa an Rhythmusstörung, berichten Attia und Noseworthy mit Verweis auf Versicherungsdaten. Bei den über 75-Jährigen sprechen sie sogar von 10%.

Da die Erkrankung oft asymptotisch verläuft, erhalten viele Patienten weder Antiarrhythmika noch Antikoagulantien. Ihre Morbidität und Mortalität erhöht sich aufgrund von Folgeerkrankungen wie Schlaganfall oder Herzinsuffizienz. Das Problem: „Etablierte Screening-Methoden erfordern eine längere Überwachung und eignen sich aufgrund ihrer Kosten nicht für flächendeckende Untersuchungen“, schreiben die Autoren.

Ziel ihres Forschungsprojekts war, ein schnelles, kostengünstiges Point-of-Care-Verfahren zu entwickeln, um Patienten zu identifizieren. Als Technologien kamen Künstliche Intelligenz bzw. Maschinelles Lernen zum Einsatz.

Der Algorithmus lernt anhand von Daten

In die Studie wurden Daten von 649.931 EKGs von 180.922 Patienten der Mayo Clinic Rochester aufgenommen. Es handelte sich um übliche Standard-EKGs mit 10 Sekunden Dauer und 12 Ableitungen. Voraussetzung war ein normaler Sinusrhythmus. Das Durchschnittsalter aller Personen lag zum Zeitpunkt des EKGs bei 60,3 Jahren. 15.419 (8,5%) von ihnen hatten in der Vergangenheit mindestens einmal Vorhofflimmern.

Alle EKG-Aufzeichnungen wurden von Kardiologen bewertet und in 3 Gruppen eingeteilt:

  • 454.789 EKGs von 126.526 Patienten für den Trainingsdatensatz

  • 64.340 EKGs von 18.116 Patienten zur Validierung

  • 130.802 EKGs von 36.280 Patienten für den eigentlichen Testdatensatz

Zu Beginn wurde ein Algorithmus programmiert, um Anomalien in EKGs zu erkennen. „Unsere Software findet im EKG Signale, welche für das menschliche Auge unsichtbar sein könnten, aber wichtige Informationen über das Vorhandensein von Vorhofflimmern enthalten“, schreiben die Autoren.

 
Unsere Software findet im EKG Signale, welche für das menschliche Auge unsichtbar sein könnten, aber wichtige Informationen über das Vorhandensein von Vorhofflimmern enthalten. Zachi I. Attia und Kollegen
 

Ihr Tool wurde mit einem EKG-Trainingsdatensatz optimiert. Beim Maschinellen Lernen verbessert ein System anhand dieser Beispiele seine Ergebnisse, so die grundlegende Idee. Medizinische Diagnosen flossen nicht mit ein, waren den Studienautoren aber bekannt.

Beim Testdatensatz erkannte das System wiederkehrendes Vorhofflimmern auf Basis eines einzigen EKGs mit einer Sensitivität von 79,0% und einer Spezifität von 79,5%. Standen mehrere EKG-Aufnahmen pro Patient zur Verfügung, erhöhen sich die Werte auf 82,3% bzw. 83,4%.

Mobiler Einsatz als App geplant

„Die Möglichkeit, unentdecktes Vorhofflimmern mit einem kostengünstigen, weit verbreiteten Point-of-Care-Test zu identifizieren – einem EKG, das während des normalen Sinusrhythmus aufgezeichnet wurde – hat wichtige praktische Auswirkungen, insbesondere auf das Screening von Vorhofflimmern oder bei Patienten mit embolischem Schlaganfall mit nicht bestimmter Embolie-Quelle (ESUS)“, so Attia, Noseworthy und ihre Kollegen.

„Unsere Studie zeigt die Leistungsfähigkeit der modernen Computertechnologie, großer Datensätze, nichtlinearer Modelle und der automatisierten Merkmalsextraktion mittels Faltungsschichten, um die Diagnose und Behandlung eines stark verbreiteten und krankhaften Krankheitszustandes zu verbessern.“

Das Diagnose-Programm soll sogar auf einem Smartphone laufen, was zur starken Verbreitung im ambulanten und stationären Bereich beitragen könnte.

 

Kommentar

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