„Das Medikament ist derzeit leider nicht verfügbar”. Den Satz bekommen Patienten in Apotheken gerade häufiger zu hören. „Aktuell sind einige Impfstoffe, Zytostatika, Antibiotika oder Antidiabetika schwer zu haben”, bestätigt Dr. André Said, Geschäftsstellenleiter der Arzneimittelkommission (AMK) der Deutschen Apotheker im Gespräch mit der Tagesschau.
Ob Standardimpfstoffe, Blutdrucksenker oder Schmerzmittel – die Liste der nicht lieferbaren Wirkstoffe wird immer länger. Derzeit liegen laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) insgesamt 225 Meldungen über eingeschränkte Verfügbarkeit oder Lieferengpässe vor. Laut BfArM hat sich das Problem in den vergangenen Jahren verschärft 2013 wurden dem Bundesinstitut nur 40 Mittel mit Lieferproblemen neu gemeldet, 2018 waren es schon 264.
Häufigste Ursachen von Lieferengpässen sind Qualitätsmängel bei der Herstellung oder Probleme bei der Produktion wie Produktionsausfälle, unzureichende Produktionskapazitäten, Produktions- und Lieferverzögerungen für Rohstoffe oder die Einstellung der Produktion durch das Unternehmen selbst. Infolge des Preisdrucks auf dem Pharmamarkt und der Globalisierung werden immer mehr Wirkstoffe nur von wenigen Herstellern oder gar von nur einem einzigen Unternehmen produziert.
Welche Folgen es haben kann, wenn nur wenige Hersteller oder nur ein einziges Unternehmen ein Arzneimittel produziert, zeigt das Beispiel Valsartan. Im Sommer 2018 mussten europaweit Chargen des Blutdrucksenkers zurückgerufen werden, die vom chinesischen Unternehmen Zhejiang Huahai Pharmaceutical produziert worden waren. Das Unternehmen hatte seinen Produktionsprozess umgestellt. Dabei war es zu potenziell krebserregenden Verunreinigungen des Wirkstoffs gekommen. In Deutschland waren rund eine Million Patienten von dem Rückruf betroffen.
Ein anderes Beispiel ist das Breitband-Antibiotikum Piperacillin/Tazobactam, bei dem es Ende 2016 zu Lieferengpässen kam. Weltweit gibt es dafür nur noch 2 Produktionsstätten, wie Recherchen des ARD-Magazins FAKT zeigten. Beide liegen in China. Im Oktober 2016 kam es zu einer Explosion in der Fabrik im Licheng-Distrikt. Die Folge: Monatelang war das Kombinationspräparat kaum verfügbar.
Problem Rabattverträge
Der Herstellerverband „Pro Generika“ sieht vor allem in den Rabattverträgen mit den Kassen ein Problem. „Zusätzliche Sicherheitsstandards, komplexer werdende Herstellungsverfahren, neue Regulierungen und die umfangreiche Qualitätssicherung führen seit Jahren zu steigenden Kosten in der Generikaproduktion“, heißt es auf der Seite des Verbandes. Eine wirtschaftlich tragfähige Produktion werde so immer schwerer, Hersteller müssten aufgeben, es könne zu Arzneimittel-Engpässen kommen – auch bei lebenswichtigen Medikamenten.
Der Verband fordert, dass es für versorgungskritische Wirkstoffe keine Rabattverträge mehr geben dürfe. Auch müsse die Versorgung auf eine breitere Basis gestellt werden: In jeden Rabattvertrag müsse mehr als ein Unternehmen eingebunden werden.
Wichtig dabei: Jedes Unternehmen sollte den Wirkstoff von einem anderen Lieferanten beziehen, das reduziere das Risiko von Engpässen.
KVBW-Umfrage zeigt: Ärzte besorgt
Dass viele Ärzte wegen der Lieferengpässe bei wichtigen Arzneimitteln besorgt sind, zeigen jetzt die Ergebnisse einer Onlineumfrage der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW). Die KVBW wird in den vergangenen Jahren immer häufiger mit Lieferengpässen bei Arzneimitteln konfrontiert – auch abseits von Impfstoffen für die Grippeschutzimpfung, bestätigt KVBW-Sprecher Kai Sonntag.
Die KVBW hat 932 Ärzte befragt. Auf die Frage „Sind Ihnen aus den vergangenen Jahren Lieferengpässe für medizinisch relevante Arzneimittel bekannt geworden (unabhängig von Impfstoffen)“ antworteten 93,5% der Befragten mit „Ja“. 88% gaben an, dass diese Lieferengpässe im Zeitverlauf zugenommen haben. Die Lieferengpässe bei den Arzneimitteln betreffen der Umfrage zufolge wichtige Arzneimittelgruppen wie Hypertonika, Onkologika, Antibiotika, Antidiabetika und sonstige Arzneimittel.
Aus Sicht der befragten Ärzte gefährden die Lieferengpässe die Versorgung: 22% sehen eine starke Gefährdung, knapp 50% eine mittlere Gefährdung, 25% eine geringere Gefährdung und 5% keine Gefährdung.
Umfrage unter Apothekern
„Wie stark sich die Situation um Lieferengpässe zuspitzt, ist nicht leicht zu sagen, weil wir kaum belastbare Zahlen bekommen und die noch dazu freiwillig sind”, erklärt Christian Splett, Pressereferent der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), im Gespräch mit Medscape.
Auch die Meldungen beim BfArM erfolgten auf freiwilliger Basis. Eine Umfrage der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) aus 2017 erlaubt aber Rückschlüsse darauf, dass „in Deutschland zunehmend Lieferengpässe auftreten“. Die AMK hat die Inhaber von öffentlichen Apotheken und Krankenhausapotheken zu Reichweite und Auswirkungen von Engpässen befragt.
Auf die Frage, wie häufig in den letzten 3 Monaten Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln aufgetreten waren, die gesundheitliche Folgen für den Patienten haben könnten oder hatten, antworteten von den Inhabern öffentlicher Apotheken 11,4% mit „nie“, 27,6% mit „weniger als 5 Mal”, 28,2% mit „5 bis 10 Mal”, 10,4% mit „11 bis 15 Mal“ und 22,4% mit „mehr als 15 Mal”.
Bei den Krankenhaus-Apotheken fielen die Antworten ähnlich aus: „nie“ 19,4%, „weniger als 5 Mal” 25%, „5 bis 10 Mal” 33,4%, „11 bis 15 Mal” 2,8% und „mehr als 15 Mal” 19,4%.
55% der Befragten in öffentlichen Apotheken (72,7% in Krankenhaus-Apotheken) berichteten, dass dann ein weniger geeigneter Arzneistoff verordnet worden sei. 56,1% der Befragten in öffentlichen Apotheken berichteten von einer „weniger geeigneten Darreichungsform“. 25,8% gaben an, dass es zu einem Therapieabbruch mit Risiken kam und 15%, dass eine lebenswichtige Therapie nicht möglich war oder verzögert wurde.
ABDA sieht viele Komponenten als Ursache
Im Durchschnitt verbringt jeder Apotheker in Europa 5,6 Stunden pro Woche damit, sich um Lieferengpässe zu kümmern, teilt die ABDA mit. In den „Kernpositionen der ABDA zur Europawahl 2019“ war der Kampf gegen Lieferengpässe eine der wichtigsten Forderungen. Laut Apothekenklima-Index 2018, einer repräsentativen Umfrage unter Apothekeninhabern in Deutschland, gehören Lieferengpässe zu den 3 größten Ärgernissen des pharmazeutischen Arbeitsalltags – Tendenz seit Jahren steigend.
Splett sagt, dass die ABDA „viele Komponenten als Ursache für Lieferengpässe” ansieht. Dazu gehört die Herstellerseite: Wünschenswert wäre, die Produktion nach Europa zu verlegen, dazu aber müssten die politischen Grundlagen geschaffen werden. Man wünsche sich auch „mehr Transparenz und Offenheit von den Arzneimittelherstellern” und bei den Rabattverträgen „mehr Augenmaß: Es darf nicht nur auf den Preis, es muss auch auf die Lieferfähigkeit geachtet werden, der Preis eines Arzneimittels sollte nicht das einzige Kriterium sein”, betont Splett.
Die Marktkonzentration ist auch für Said eine der Ursachen für Lieferengpässe. Einige wenige Hersteller produzierten für den weltweiten Markt. „Der Ausdruck: ,Deutschland, die Apotheke der Welt' ist so nicht mehr haltbar", sagt er und fügt hinzu: „Wir sind in einem globalisierten System."
Said fordert die Politik zum Handeln auf: „Hier gilt es für den deutschen Markt auf politischer Ebene gegenzusteuern, die Anreize wieder zu schaffen, damit Deutschland als Markt weiter adäquat beliefert wird." Es gehe hauptsächlich darum, die Anbietervielfalt zu erweitern, fügte der AMK-Experte hinzu. „Das ist aber kein deutsches Phänomen, das muss auf europäischer und globaler Ebene geschehen."
Wie die Tagesschau berichtet, sieht die Präsidentin der Gesundheitsministerkonferenz, Barbara Klepsch (CDU), die Bundesregierung in der Pflicht. „Der Bund muss das Thema auf europäischer Ebene platzieren. Dort müssen die Regularien getroffen werden", so Klepsch. „Dort müssen auch Mindestkapazitäten vorgehalten werden. Und wenn wir an Lösungsansätze denken, dann sollte man sicherlich auch bei Medikamenten-Engpässen über eine gewisse nationale Bevorratung nachdenken."
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Diesen Artikel so zitieren: Qualitätsmängel, Preisdruck, Globalisierung – Lieferengpässe bei Medikamenten häufen sich - Medscape - 31. Jul 2019.
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