Neue AG bei den Geriatern will Fokus auf den medizinischen Handlungsbedarf in Pflegeheimen legen

Dr. Susanna Kramarz

Interessenkonflikte

31. Juli 2019

„Pflegebedürftigkeit fällt nicht vom Himmel, sondern ist zu 100% Folge einer Krankheit.“ Mit diesem Statement appelliert Dr. Rainer Neubart, Charité Berlin, Internist und langjähriger Chefarzt in geriatrischen Kliniken, an Ärztinnen und Ärzte, die Patienten in Pflegeheimen versorgen. Sie sollen die auch in der Medizin verbreitete Vorstellung überdenken, dass Pflegebedürftigkeit und Krankheit 2 unterschiedliche Dinge sind, und dass Krankheit ärztliche Behandlung brauche, Pflegebedürftigkeit dagegen nur noch Pflege.

Neubart plädiert für ‚mehr Medizin‘ in den Betreuungseinrichtungen. „Diese Patientinnen und Patienten sind multimorbide und chronisch krank, und zwar in einem so starken Ausmaß, dass sie ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen können. Es ist ein grundsätzlicher Strickfehler im System, diese Menschen nur als ‚irgendwie‘ pflegebedürftig anzusehen, aber den medizinischen Handlungsbedarf zu ignorieren“, sagt er.

Auf Initiative des Internisten hat die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG e.V.) vor kurzem eine neue Arbeitsgruppe „Geriatrie im Pflegeheim“ ins Leben gerufen. „Wir brauchen erhebliche Veränderungen in der GKV und auch in den KVen, um diesen Patientinnen gerecht zu werden und natürlich mehr Kolleginnen und Kollegen mit geriatrischer Qualifikation. Mit geeigneten Konzepten kann man die Morbidität in den Heimen senken und letztlich eine Menge Kosten bei der Pflege, der Therapie und unnötigen Hospitalisierungen sparen“, so Neubart weiter. „Aber das ist ein weiter Weg.“

Bei der ärztlichen Versorgung älterer und pflegebedürftiger Patienten gebe es, so Neubart, grundsätzliche Fragen, denen sich Ärzte und Sozialversicherer bisher meist nicht in gebotener Ehrlichkeit stellten. Als Beispiele nennt er einige Fragen, die jeweils an unterschiedlichen Orten der medizinischen Versorgung gestellt werden müssten:

  • Ist für einen älteren, pflegebedürftigen Menschen nach schwerer Krankheit und Hospitalisierung ein Pflegeheim tatsächlich der richtige Ort, oder sollte vielleicht nach einem Krankenhausaufenthalt besser eine geriatrische Rehabilitationsmaßnahme angestrebt werden, sei es stationär oder in Tagesklinik-Modellen?

  • Kann ärztliche Behandlung nur dann als erfolgreich bezeichnet werden, wenn der Patient anschließend wieder maximal mobil und belastbar ist?

  • Werden Patienten mit Orientierungs- und Kommunikationsdefiziten vorschnell fallengelassen, weil zu schnell eine Demenz diagnostiziert und für eine Verbesserung eine ungünstige Prognose gestellt wird?

  • Ist die Wiederherstellung einer individuellen Lebensqualität ein für ärztliche Maßnahmen uninteressantes Ziel?

  • Ist ärztliches Engagement auch dann notwendig, wenn es „nur noch“ um würdevolles Sterben geht, oder ist der Arzt in dieser Situation verzichtbar?

Der grundsätzliche Irrtum von vielen Ärzten und Sozialversicherern, so Neubart, sei der, anzunehmen, dass bei den Bewohnern von Pflegeheimen per se ärztliche Maßnahmen wirkungslos und unnötig seien.

 
Es ist ein grundsätzlicher Strickfehler im System, diese Menschen nur als ‚irgendwie‘ pflegebedürftig anzusehen, aber den medizinischen Handlungsbedarf zu ignorieren. Dr. Rainer Neubart
 

„Im Gegenteil erleben wir immer wieder, dass ältere Patienten zum Beispiel nach akuten Krankheiten aus der Klinik ohne die Chance einer Rehabilitation ins Pflegeheim abgeschoben werden, zum Beispiel, weil in der Klinik Betten gebraucht werden“, kritisiert er.

„Statt maximaler Anstrengung, um die Wiederherstellung zu erreichen, wird der unbefriedigende Status quo akzeptiert. Dahinter verbirgt sich auch ein Kompetenzdefizit darüber, was bei multimorbiden Patienten noch erreichbar ist.“

Optimal wären fest angestellte Ärzte in jedem Pflegeheim

 „Jede Pflegebedürftigkeit ist die Folge einer dekompensierten Erkrankung, und so sollten wir die Patienten auch sehen“, betont der Geriater. „Deshalb bräuchten wir im Grunde genommen hier fest angestellte Ärztinnen und Ärzte mit geriatrischer Ausbildung, die für Pflegende, die Bewohnerinnen und Bewohner als ständige Ansprechpartner zur Verfügung stehen.“

Verschiedene Einzelprojekte hätten gezeigt, dass die Patienten so medizinisch besser versorgt seien – und zudem im Gesundheitssystem weniger Kosten verursachten, als wenn Ärzte nur im Notfall gerufen werden oder in großen Abständen ihre Routinebesuche abstatten.

Als typisches, tägliches Beispiel für die Unterversorgung in Pflegeheimen nennt er die Notfallversorgung: „Wenn ein Patient stürzt, eine sich entzündende Wunde hat oder hochgradig agitiert ist, dann wird er – falls gerade kein Arzt im Heim ist – von den Pflegenden als Notfall in die Klinik geschickt, wobei er von Glück sagen kann, wenn ein Verwandter ihn dabei begleiten kann.“

 
Mit geeigneten Konzepten kann man die Morbidität in den Heimen senken und letztlich eine Menge Kosten bei der Pflege, der Therapie und unnötigen Hospitalisierungen sparen. Dr. Rainer Neubart
 

Denn, so berichtet er weiter: „In der Notaufnahme der Klinik wird er dann zwischen Verkehrsunfällen und akuten Herzinfarkten in Stufe 5 kategorisiert, wartet unter Umständen den ganzen Tag auf seine Versorgung, ohne Essen und Trinken, ohne Unterstützung beim Toilettengang. Das ist eine Situation, die so katastrophal wie vermeidbar ist.“

Selbst Sterbende würden vom Pflegepersonal aus Ratlosigkeit immer wieder in die Klinik geschickt, von dort wegen mangelnder therapeutischer Konsequenzen wieder zurück ins Heim: „Das sind schlimme Zustände, die nicht sein müssten, und die wir alle verhindern müssten.“

Medikationen reduzieren – auch bei Multimorbiden

Es müsse auch hinterfragt werden, ob wirklich jeder hausärztliche Allgemeinarzt oder Internist ohne geriatrische Zusatzausbildung ausreichend gewappnet sei, um Patienten im Pflegeheim zu versorgen: „Die Patienten hier sind multimorbide, man muss die Diagnosen und die Therapien hierarchisieren, vieles in Frage stellen und auch den Mut haben, ein, zwei oder auch mehr Medikamente abzusetzen, die nicht wirklich dringend notwendig sind“, sagt Neubart.

„Mancher Patient hat sein Leben lang Blutdrucksenker bekommen, aber im hohen Alter sinkt der Blutdruck oft. Ich muss wissen, dass ich das zu kontrollieren habe. Bei einem systolischen Blutdruck von 100 darf ich den Betablocker getrost absetzen, und bei einem 85-Jährigen ist die Atherosklerose-Gefahr auch anders zu beurteilen als bei einem 55jährigen … Vielleicht bessert sich dann auch die vermeintliche Demenz, von der Unfallgefahr ganz zu schweigen.“

Auch die Verordnung von Diuretika sei häufiger zu überprüfen: „Am besten geeignet auch im hohen Alter sind wohl immer noch niedrig dosierte Schleifendiuretika, wie etwa Torasemid. Thiazide sind beim alten, multimorbiden Patienten nicht angebracht“, so der Geriater.

 
Wir bräuchten im Grunde fest angestellte Ärzte mit geriatrischer Ausbildung, die für Pflegende und Bewohner als ständige Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Dr. Rainer Neubart
 

„Wir sehen auch immer noch Patienten auf Digitalis-Medikationen. Digoxin ist aber, wenn überhaupt, dann nur noch in seltenen Fällen zur Rhythmuskontrolle indiziert, nicht für die Herzinsuffizienz. Manchmal denke ich, es sind nicht nur die Patienten betagt, sondern auch deren seit Jahrzehnten nicht hinterfragten Medikationen“, nennt er weitere Beispiele.

Für besonders kritikwürdig hält Neubart den reflexhaften Griff zum Opiat: „Schmerzbekämpfung heißt nicht zwingend Fentanyl. Die meisten Schmerzen bei den Patienten, die immer nur sitzen und liegen, rühren aus dem muskuloskelettalen System. Und da gilt als oberste Maxime: Mobilisieren! Mobilisieren! Mobilisieren!“

Ein „ähnliches Problem“ sieht er bei der Verordnung von Dauerkathetern: „80% aller Dauer-Katheterisierungen sind überflüssig, aber die Strategie heißt nicht ‚Laufenlassen‘, sondern Kontinenztraining. Das ist alles zwar zunächst einmal zeitaufwändig für das Pflegepersonal und die Ergotherapie, aber es erhöht wesentlich die Lebensqualität und Zufriedenheit und nimmt eine Menge Schmerzen“, sagt er.

„Bin ich als Arzt regelmäßig vor Ort, kann ich Patienten und Pflegende motivieren und bestärken. Komme ich nur einmal im Quartal und mache meine Routinerunde, dann geht mein Wirkungsgrad gegen null.“

 

Kommentar

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