Der Gesetzgeber will die Versorgung von Notfallpatienten mit einem integrierten System von Grund auf neu ordnen. Das hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Montag in Berlin angekündigt. Er sprach von einer Reform, die „an der Wurzel ansetzt“ und möglichweise sogar eine Grundgesetzänderung erfordert [1].
Die Absicht der Reform: Akut erkrankte Patienten sollen nicht mehr selbst den Versorgungsweg wählen, zum Beispiel die Notaufnahme eines Krankenhauses. Vielmehr sollen die Patienten in die passende Versorgungsebene geschickt werden.
Dazu bedürfe es „einer einheitlichen, qualitätsgesicherten Ersteinschätzung der von den Patienten als Notfälle empfundenen Erkrankungssituationen und einer professionellen Steuerung und Vermittlung in die aus medizinischer Sicht gebotene Versorgungsstruktur (…)“, heißt es in einem Diskussionspapier, das das BMG an die Länder verschickt hat. Der Text liegt Medscape vor. Außerdem soll der Rettungsdient besser in die Notfallversorgung eingebettet werden.
Die neuen Regelungen im Einzelnen:
Neue Notfall-Leitstellen, die unter 112 oder 116117 zu erreichen sind und zu denselben Notdienstzentralen führen: Diese sogenannten Gemeinsamen Notfall-Leitstellen (GNL) verteilen auf Basis einer telefonischen, qualifizierten Ersteinschätzung (Triage) die anrufenden Patienten in die passende Versorgungsebene:
Entweder schicken die Mitarbeiter einen Rettungswagen zum Anrufer oder sie vermitteln den Patienten in ein Krankenhaus mit integriertem Notfallzentrum, oder sie schicken ihn in die Praxis eines niedergelassenen Arztes. „Die Vergütung der Leistungen der GNL wird durch die zuständigen Landesbehörden oder Träger der Leitstellen der Rufnummer 112 mit den Krankenkassen und der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung vereinbart“, teilt das BMG auf Anfrage mit.Integrierte Notfallzentren nur in ausgewählten Krankenhäusern: Die Patienten sollen mit ihrem akuten Problem künftig nicht mehr in jeder Notaufnahme irgendeines Krankenhauses erscheinen können, sondern sie sollen sich an ausgewählte Krankenhäuser wenden, die ein integriertes Notfallzentrum (INZ) eingerichtet haben.Dort erhalten sie an einem „gemeinsamen Tresen“ der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung und des Krankenhauses eine qualifizierte Ersteinschätzung ihres Problems.
Dann werden sie entweder in die Notaufnahme des Krankenhauses geschickt oder in die Praxis eines niedergelassenen Arztes oder in die Bereitschaftsdienstpraxis der KV.
Portalpraxen sollen gegebenenfalls in die neue Struktur überführt werden.
„Die Länder bekommen weitreichende Gestaltungsspielräume, um ein integriertes System der medizinischen Notfallversorgung unter Berücksichtigung der regionalen Gegebenheiten zu entwickeln und bestimmen auch, wo und wie viele INZ eingerichtet werden“, so das BMG. „Über das nächstgelegene INZ werden die Krankenkassen ihre Versicherten informieren.“
Wichtig: Mit dieser neuen Planungshoheit der Länder verlieren die KVen den Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung außerhalb der Sprechstundenzeiten und er geht auf die Länder über.Der Rettungsdienst wird eigenständig: Schließlich schafft der Gesetzgeber mit den neuen Regelungen im Recht der Krankenversicherungen auch einen neuen, eigenständigen Leistungsbereich: den Rettungsdienst. Bisher erhalten die Rettungsdienste nur dann ein Honorar, wenn sie den Patienten ins Krankenhaus gefahren haben. Wenn nicht, fließt auch kein Geld. Auch dann, wenn die Retter den Patienten vor Ort versorgt haben, werden die Rettungsdienste derzeit nicht dafür bezahlt.
Das alles soll nun anders werden. So werden die Fahrten und die medizinische Versorgung der Notfallpatienten bei einem Rettungseinsatz getrennt voneinander geregelt. Dafür fordert der Gesetzgeber für die Rettungswagen „die interaktive Nutzung einer digitalen Dokumentation und eine bundesweite Echtzeitübertragung der bestehenden Versorgungskapazitäten durch alle an der Notfallversorgung beteiligten Akteure“, erklärt das BMG.
Schwierig wird es für Spahns Notfallkonzept bei der Abgrenzung von Bundes- und Länderkompetenzen. Die Neuordnung sei „kein kleines Unterfangen“, sagt Spahn. Denn für die Einbindung des Rettungsdienstes in die medizinische Notfallversorgung brauche es „bundesweite Rahmenvorgaben“.
Allerdings müsse dazu möglicherweise eine Grundgesetzänderung her. Denn wenn die wirtschaftliche Sicherung des Rettungsdienstes von einer Länder- zu einer Bundessache werden soll, müsste diese wohl in die entsprechende Liste im Art. 74 Grundgesetz aufgenommen werden. Man prüfe nun, ob für die Reform eine Grundgesetzänderung nötig sei, so Spahn.
Verbände schätzen Kooperation als schwierig ein
Die komplexe Neuaufstellung der Notfallversorgung stößt auf ein lebhaftes Echo. Es zeigt, wie schwierig es für die verschiedenen Player werden dürfte, in das Boot der gemeinsamen Notfallversorgung zu steigen.
Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, begrüßte in einer Pressemitteilung Spahns Absicht, es nicht mehr den Patienten zu überlassen, zu welchem Arzt sie im Notfall gehen. Der neue BÄK-Präsident macht sich allerdings Sorgen um die insgesamt 771 Notfall- und Portalpraxen an Deutschen Krankenhäusern. Solche gewachsenen Strukturen müssen nach ihren regionalen Besonderheiten integriert werden, mahnt Reinhardt.
Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung will gewachsene Strukturen bei den Portalpraxen möglichst erhalten. Dr. Andreas Gassen verwies auf die „großen Anstrengungen“ der KVen, über die 116 117 ab Anfang 2020 Patienten „ersteinzuschätzen“ und Termine zu vermitteln. Bewährte Strukturen sollen nicht zerstört werden, mahnt der KBV-Chef.
Allerdings sehen die KVen dem Vernehmen nach noch weit mehr Probleme. So müssten sie die Hoheit über die Notfallversorgung außerhalb der Sprechstundenzeiten an die Länder abgeben. „Das Land würde sie uns dann zwar zurückgeben“, sagt ein KV-Mann. „Aber die Frage ist: zu welchen Bedingungen? Da wären wir wohl nur Dienstleister.“
Ungelöst auch die Frage, ob die jeweilige KV ihre Mitglieder im Zweifel zum Notdienst dienstverpflichten solle. Oder müsste man sie anstellen? Auch die nötige Honorarbereinigung dürfte Probleme machen. „Es sind sehr viele Fragen unbeantwortet“, hieß es.
Für die Seite der Krankenhäuser zieht Dr. Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) eine rote Linie. Er hält es für „absolut unverständlich“, dass die KVen und die Krankenhäuser die integrierten Notfallzentren gemeinsam organisieren sollen.
„Die bis dato im Gesetz verankerte Zuständigkeit bei den Kassenärztlichen Vereinigungen hat nicht funktioniert“, so Gaß in einer Mitteilung seines Hauses. „Die Krankenhäuser stehen bereit, gemeinsam mit den Ländern die Notfallversorgung zu organisieren.“
Aber nicht gemeinsam mit den KVen. Gaß: „Wir befürchten hier jahrelange Verhandlungen und einen Zuwachs an Bürokratie, auf den sehr gut verzichtet werden kann.“
Für die ärztliche Seite kommentiert Dr. Susanne Johna, Bundesvorstandsmitglied des Marburger Bundes (MB) Spahns Diskussionsentwurf. Johna spricht sich gegen die INZ aus, weil sie neue Schnittstellen produzieren würden. „An Sektorengrenzen mangelt es uns im Gesundheitswesen wahrlich nicht. Neue Grenzziehungen in der Versorgung sind daher alles andere als sinnvoll“, sagt Johna.
Zudem würde es 2 Jahre dauern, in denen sich nichts verändern würde, bis Spahns Konzept greife. Stattdessen verwies sie auf den Entwurf, den der MB zusammen mit der KBV vorgelegt hat. Es sieht vor, dass Klinik- und Vertragsärzte in den Krankenhäusern gemeinsame Anlaufstellen mit einem gemeinsamen Triage-Standard betreiben.
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und die Deutsche Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) haben nichts gegen die NIZ, sorgen sich aber um die Behandlungsqualität. Es brauche auch für die vertragsärztliche Seite in den INZ Qualitätskriterien.
Die Gütekriterien, die der MB und die KBV für ihren Standard entworfen haben, gehen den beiden Fachverbänden nicht weit genug. „Die alleinige räumliche Zusammenführung der Notfallversorgung unter einem Dach ist nicht ausreichend“, heißt es in dem gemeinsamen Positionspapier.
Man brauche eine verbindliche und bessere Abstimmung der Akteure in der Notfallversorgung, betonte Spahn bei der Vorstellung seines Diskussionspapiers, das er an die Bundesländer geschickt hat. „Wir wollen noch im August mit den Ländern in intensive Beratung und Gespräche treten, um den Entwurf weiterzuentwickeln.“
Medscape Nachrichten © 2019
Diesen Artikel so zitieren: Notfallversorgung nach Spahn: „Eine Reform, die an der Wurzel ansetzt“ – Ärzteverbände und DKG äußern erhebliche Zweifel - Medscape - 24. Jul 2019.
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