Das niederländische Pro-Radsport-Team Jumbo-Visma ist bei der Tour de France derzeit sehr erfolgreich. Doch nun wird immer häufiger darüber spekuliert, welchen Anteil an diesen Erfolgen der Einsatz von Keton-Supplementen in dem Team hat.
Ihr Fahrer Mike Teunissen holte sich das gelbe Trikot mit einem Sieg auf der ersten Etappe. Sie gewannen das Teamzeitfahren und hatten weitere Etappensiege mit Dylan Groenewegen und Wout van Aert. Auf den Einsatz der Keton-Supplemente angesprochen sagte Teamchef Richard Plugge kürzlich der Tageszeitung De Telegraaf: „Ketone sind ein Nahrungsergänzungsmittel. Du kannst sie genauso wie Vitamine verwenden. Die Substanz steht nicht auf der Verbotsliste."
Und auch Wout van Aert bestätigte Fernsehreportern nach seinem Sieg: „Ketone sind nicht illegal. Im Wesentlichen ist es nur eine Nahrungsergänzung. Nicht mehr und nicht weniger. Ich sehe es so: Diese Ketone sind den Gelen ähnlich, die jeder Fahrer zu sich nimmt. Nur ihr Geschmack ist ziemlich scheußlich."
Die Leitung des Teams Lotto-Soudal räumte ebenfalls ein, dass einige Fahrer Ketone verwenden. „Wir nutzen sie, aber nicht strukturiert", sagte Dr. Servaas Bingé dem flämischen Fernsehsender VRT.
Der Anstoß zur Forschung kam vom US-Militär
Der Keton-Hype hat schon vor einigen Jahren – zunächst in Großbritannien – begonnen. War aber aus den USA angestoßen worden. Dort waren Ketone auf das Radar der US-Armee geraten, als das militärische Forschungsinstitut Darpa (Defense Advanced Research Projects Agency) nach einer kompakten, leichten und direkten Energiequelle suchte, die in heißen Umgebungen wie einer Wüste nicht verderben würde.
Ketone werden bekanntlich vom Körper selbst produziert – und zwar dann, wenn die Glukosevorräte als Energielieferant aufgebraucht sind, und der Organismus die Fettreserven nutzt. Als Ketonkörper bezeichnet man dabei 3 Verbindungen, die bei katabolen Stoffwechsellagen in der Leber aus Acetyl-CoA, das wiederum aus der ß-Oxidation der Fettsäuren stammt, gebildet werden: Acetoacetat, Aceton und als wichtigste das β-Hydroxybutyrat.
Für die Verwertung der Ketonkörper müssen sich Gehirn und Muskeln allerdings erst umstellen und Enzyme exprimieren, die zur Rückwandlung von Ketonkörpern in Acetyl-CoA nötig sind. In Hungerzeiten tragen Ketonkörper einen beträchtlichen Anteil zur Energiegewinnung bei.
Darpa machte eine Ausschreibung zur synthetischen Herstellung von Ketonen. Diese Ausschreibung - im Wert von 10 Millionen Dollar – gewann die Professorin für Biochemie Dr. Kieran Clarke von der Oxford University, eine Forscherin australischer Herkunft, die auch schon in Harvard gearbeitet hatte.
In Großbritannien schon länger im Einsatz
Im April dieses Jahres fand sich nun eine der ersten Arbeiten zum Einsatz der Ketone zum Zweck der sportlichen Leistungssteigerung im Journal of Physiology. Der Artikel trägt den Titel „Ketone ester supplementation blunts overreaching symptoms during endurance training overload". Im Klartext: Ketone helfen, die Leistung zu verbessern.
Die Forschung im Artikel stammt aus dem letzten Jahr und ist Gegenstand der Doktorarbeit von Chiel Poffé an der KU Leuven. Co-Autor Dr. Peter Hespel, Professor für Physiologie in Leuwen, war der erste in Belgien und einer der ersten weltweit, der mit Ketonen außerhalb Großbritanniens gearbeitet hat.
Clarke und Hespel sind Pioniere auf dem Gebiet der Keton-Forschung. Clarke räumt ein, dass die Spitzensportler von UK Sports schon vor Jahren Zugang zu den Produkten hatten. „Diese wurde im Vorfeld der Londoner Spiele 2012 verwendet, aber nur von einer ausgewählten Gruppe von Athleten, da wir sehr wenige Ketone hatten. Das Sky Cycling Team hatte sie zweifellos auch", wird sie zitiert.
Leistungssteigerung von bis zu 15%
Kieran Clarke gilt als die „Erfinderin" der Keton-Therapie. Sie hatte es erstmals geschafft, die entsprechenden Ketone (speziell das ß-Hydroxy-Butyrat) zu synthetisieren, für die Aufnahme als Supplement aufzubereiten und begann diese zu testen.
Nicht beim Militär, weil Darpa bei der weiteren Erforschung schließlich abgesprungen war, sondern bei Patienten und Athleten. Letzteres war ein Zufall, denn eine Forscherin in ihrem Labor hatte als Ruderin im Leistungssport eine hochkarätige Sportvergangenheit und sah sofort das Potenzial für Ausdauersportler.
Für die Leuven-Studie wurden 18 gut trainierte Männer in 2 Gruppen eingeteilt und erhielten 3 Wochen Ausdauertraining. 9 erhielten Ketone und 9 andere ein Placebo. In der 3. Woche war die Leistungsfähigkeit in der Keton-Gruppe in der letzten halben Stunde eines 2-stündigen Trainings ganze 15% höher.
Ein weiterer Befund: In der Placebo-Gruppe sank die maximale Herzfrequenz um 20 Schläge – ein typischer Effekt der Erschöpfung durch Training ist eine zeitversetzte („sub") maximale Herzfrequenz – aber in der Keton-Gruppe sank sie um nur 10 Schläge. Die Energiebilanz in der Keton-Gruppe blieb positiv, wurde aber in der Kontrollgruppe stark negativ. In beiden Gruppen stieg das Hormon GDF-15, in der Gruppe ohne Ketone jedoch doppelt so schnell.
Anfang Juli, vor dem Start der Tour in Brüssel, erläuterte Hespel seine Erfahrungen mit Ketonen auf der Science & Cycling Konferenz: „Es gibt allenthalben Hinweise darauf, dass GDF-15 der lang ersehnte Marker für die Diagnose einer Übersättigung beim Training sein könnte.“
Der erste für den Sport bedeutsame wissenschaftliche Artikel erschien im Sommer 2016 in der Fachzeitschrift Cell Metabolism. Der Titel lautete: „Nutritional Ketosis Alters Fuel Preference and Thereby Endurance Performance in Athletes ".
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ketone helfen. Aber wie sehr helfen sie? Drei Prozent, besagt die Studie. Drei Prozent klingt nicht viel, kann aber genau den Unterschied zwischen Gold und keinem Platz auf dem Podium ausmachen.
Ketone – in den USA als „Lebensmittel“ zugelassen
Im Jahr 2018 erst haben die Ketone dann die freie Wirtschaft erobert. Clarke hat eine Lizenz an die amerikanische Firma HVMN verkauft, eine innovative Firma mit Hauptsitz in San Francisco, die von jungen Wissenschaftlern geleitet wird und Ketonester-Getränke und Nootropika herstellt und vertreibt.
In den USA sind Ketone von der Food and Drug Administration (FDA) als „Lebensmittel" zugelassen, noch nicht einmal als „Nutraceutical" oder Nahrungsergänzungsmittel. In Europa ist dies noch nicht der Fall, sagt Clarke: „Sie werden in Großbritannien produziert, dann in die USA exportiert und von dort aus vertrieben. Die Genehmigung durch die EFSA (Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit) in Europa kann noch Jahre dauern."
Die Verwendung von Ketonen gilt laut Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) nicht als Doping, sondern als Teil einer ausgewogenen Ernährung neben Fetten, Kohlenhydraten und Proteinen. Es gibt jedoch Berichte, dass die Gruppe „Mouvement Pour un Cyclisme Crédible (MPCC)“ in Zukunft Beschränkungen für Ketone anstreben möchte.
Es schwören auch nicht alle Radteams auf das neue Wundermittel. Im deutschen Team Sunweb etwa zweifelt man am Nutzen von Keton-Supplementen. Der Teamarzt Dr. Anko Boelens wird auf „Cyclingweekly“ mit den Worten zitiert: „Wir denken, es sollte noch mehr Klarheit über die Effekte auf die Gesundheit der Athleten – vor allem langfristig – geben.“
Zudem, so sagt er: „Auch über die Wirksamkeit besteht noch viel Unsicherheit. Es gibt sogar Studien, die einen negativen Effekt auf die sportliche Leistungsfähigkeit festgestellt haben – und dass es nur in der Erholungsphase etwas nutzt. Wir wollen erst sicher sein können, dass wir unseren Fahrern damit nicht schaden!“
Übersetzt und adaptiert von Sonja Böhm von unserer Partnerseite MediQuality.
Medscape Nachrichten © 2019
Diesen Artikel so zitieren: Tour der France: Hype um Keton-Supplemente zur Leistungssteigerung – „Du kannst sie wie Vitamine verwenden“ - Medscape - 22. Jul 2019.
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