Prostatakarzinom: Führt Hormonentzug zu mehr Demenzen? Experte möchte Patienten „nicht unnötig verunsichern“

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

22. Juli 2019

Bei älteren Patienten mit Prostatakrebs ist eine Androgen-Deprivationstherapie über mindestens 10 Jahren mit einem höheren Risiko assoziiert, an der Alzheimer-Krankheit oder an sonstigen Demenzen zu erkranken.

Zu diesem Fazit kommen Prof. Dr. Ravishankar Jayadevappa von der University of Pennsylvania und Kollegen in JAMA Network Open. Sie haben Daten einer Kohorte mit 154.089 Prostatakrebs-Patienten retrospektiv ausgewertet [1].

„Bei der Studie fällt zuerst die unglaublich große Zahl an Teilnehmern als Stärke auf, man muss die Ergebnisse ernst nehmen“, sagt Prof. Dr. Günter Karl Stalla zu Medscape. Er ist Leiter des Medicover Neuroendokrinologie MVZ mit klinischem Studienzentrum, München, und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie.

Gleichzeitig nennt er aber auch mehrere Schwächen der Arbeit: „Uns stehen 5 Wirkstoffe bzw. Substanzklassen für die Androgen-Deprivationstherapie zur Verfügung: Bicalutamid, Cyproteronacetat, GnRH-Agonisten und -Antagonisten sowie Hemmer der Testosteron-Synthese.“ Im Artikel werde nur von „Androgen-Deprivationstherapien“ gesprochen, ohne Details über Wirkstoffe anzugeben, obwohl hier unterschiedliche Wirkmechanismen von Bedeutung seien.

 
Wir sollten nicht Patienten mit Prostata-Karzinom, die eine lebensnotwendige Therapie erhalten, verunsichern. Prof. Dr. Günter Karl Stalla
 

Auch der Hinweis auf Applikationsintervalle sei nicht verständlich. „Außerdem fehlen mir Hinweise auf die Methodik, wie eine Demenz oder Alzheimer-Demenz diagnostiziert worden ist“, ergänzt Stalla. Er warnt: „Wir sollten nicht Patienten mit Prostata-Karzinom, die eine lebensnotwendige Therapie erhalten, verunsichern.“ Wichtiger sei in Hinblick auf die Demenz-Prophylaxe, Ernährung und Bewegung als Lebensstil-Faktoren zu verbessern, was aber nicht immer gelinge.

Schlechte Datenlage bei Demenz und Hormonentzug

Zum Hintergrund: Prostatakrebs ist mit rund 57.370 Neuerkrankungen pro Jahr die häufigste Krebsart bei Männern. Eine Androgen-Deprivationstherapie allein oder als Teil multimodaler Behandlungskonzepte verringert bekanntlich die Progression und damit auch die Mortalität bei lokalem, lokal fortgeschrittenem, rezidivierendem oder metastasiertem Prostatakrebs mit hohem Risiko.

Trotz dieser Vorteile kann der Hormonentzug langfristig auch Folgen wie Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und des Knochenstoffwechsels haben. Bei manchen Männern wird auch die Sexualität beeinträchtigt.

„Die mögliche Assoziation zwischen der Exposition mit Arzneistoffen zum Hormonentzug und kognitiver Dysfunktion gibt zunehmend Anlass zur Sorge“, schreiben Jayadevappa und seine Coautoren mit Hinweis auf frühere Studien.

 „Möglicherweise besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen niedrigeren Testosteronspiegeln und beeinträchtigter kognitiver Funktion.“ Dies lasse sich vermutlich durch Beeinträchtigungen beim Wachstum von Neuronen oder bei der axonalen Regeneration erklären. Diskutiert werde auch die Akkumulation von abnormal gefaltetem β-Amyloid-Protein unter der Androgen-Deprivation.

 
Die mögliche Assoziation zwischen der Exposition mit Arzneistoffen zum Hormonentzug und kognitiver Dysfunktion gibt zunehmend Anlass zur Sorge. Prof. Dr. Ravishankar Jayadevappa
 

Bleibt als Problem: „Studien haben widersprüchliche Ergebnisse in Bezug auf die Diagnose von Morbus Alzheimer oder sonstigen Demenzen bei älteren Patienten mit Prostatakrebs und Hormonentzug gezeigt“, so die Forscher um Jayadevappa. Dies liege vor allem an methodischen Mängeln.

„Wir stellten die Hypothese auf, dass diese Behandlung nach statistischer Bereinigung um relevante Kovariaten mit einem erhöhten Risiko für eine spätere Demenz assoziiert ist.“

Kohortenstudie mit knapp 155.000 Teilnehmern

Um ihre Vermutung zu belegen, analysierten die Wissenschaftler Informationen aus der Surveillance, Epidemiology and End Results (SEER)-Datenbank des National Cancer Institute. Eingeschlossen wurden 154.089 Männer ab 66 Jahre, bei denen zwischen 1996 und 2003 Prostatakrebs neu diagnostiziert worden war. Die statistischen Analysen wurden zwischen dem 1. November 2018 und dem 31. Dezember 2018 durchgeführt.

Von allen Patienten erhielten 62.330 innerhalb von 2 Jahren nach Diagnose eines Prostata-Karzinoms eine Androgen-Deprivationstherapie. Nach einem Follow-up von 8,3 Jahren wurden die Daten ausgewertet.

Ein Hormonentzug war mit mehr Alzheimer-Diagnosen assoziiert als in der Gruppe ohne diese Therapie (13,1% versus 9,4%). Auch bei sonstigen Demenzen unterschiedlicher Ursache gab es statistisch signifikante Unterschiede (21,6% versus 15,8%).

Die Forscher fanden außerdem Zusammenhänge zwischen Dosis und Wirkung, wobei ihre Definition der Dosierungen hier unklar sei, wie Stalla kommentiert. Für 1 bis 4 Dosen der antiandrogenen Wirkstoffe betrug die Hazard Ratio (HR) 1,19 für Morbus Alzheimer oder für sonstige Demenzen. Erhielten Patienten 5 bis 8 Dosen dieser Medikamente, lag die HR bei 1,28 (Alzheimer) bzw. 1,24 (andere Demenzen). Bei mehr als 8 Dosen errechneten die Forscher als HR 1,24 bzw. 1,21.

Als Number Needed to Harm (NNH, Anzahl Behandlungsvorgänge, um bei 1 Patienten einen Schaden zu verursachen), wurden bei Alzheimer 18 und bei weiteren Demenzen 10 Personen genannt.

Patienten besser auswählen

Einschränkungen sehen die Autoren nicht nur im Studiendesign – bekanntlich zeigen Kohorten-Auswertungen nur Assoziationen, aber keine Kausalitäten. Ihre Ergebnisse seien hinsichtlich des Alters und der Ethnie von Teilnehmern möglicherweise nicht zu verallgemeinern, schreiben sie.

„Wissenschaftler sollten deshalb versuchen, einen biologischen Mechanismus zwischen der Exposition gegenüber Arzneistoffen zum Hormonentzug und der Entwicklung von Demenz aufzuklären und diesen Zusammenhang prospektiv untersuchen.“

Das kann aber noch dauern. Deshalb empfehlen Jayadevappa und seine Co-Autoren allen Ärzten, Chancen und Risiken der Androgen-Deprivationstherapie bei Patienten mit längerer Lebenserwartung sorgfältig abzuwägen. Zu berücksichtigen sei dabei eben auch das Demenzrisiko.
 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....