Die Bertelsmann Stiftung spricht von nicht weniger als einer „gesamtgesellschaftlichen Transformationsleistung“, die Deutsche Krankenhausgesellschaft dagegen von „Kahlschlag“ und der Marburger Bund von der Gefahr „profitorientierter Konzernbildung“. Es geht um den Vorschlag der Stiftung zum Umbau der Krankenhauslandschaft in Deutschland.
Um die gegenwärtigen Probleme der stationären Versorgung wirksam zu lösen oder zu lindern, müsste bis zum Jahr 2030 die Anzahl der Behandlungsfälle in den deutschen Kliniken von 19,5 Millionen im Jahr auf 14 Millionen Fälle sinken, die Zahl der Krankenhäuser von derzeit rund 1.650 auf rund 600, die Verweildauer von 7,3 Tagen auf 6 Tage und die Anzahl der Betten von 480.000 auf 285.000, so die Zahlen des jüngsten Bertelsmann Papiers „Neuordnung der Krankenhauslandschaft".
Acht Experten – Ziel ist eine bessere Versorgungsqualität
8 Fachleute haben im Auftrag der Stiftung in die Glaskugel geschaut: Wie soll die Krankenhausversorgung im Jahr 2030 idealerweise aussehen? Vor allem Gesundheitsökonomen saßen mit am Tisch – darunter Prof. Boris Augurtzky vom Rheinisch Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung in Essen, Prof. Reinhard Busse von der TU Berlin und Prof. Jonas Schreyögg vom Hamburg Center for Health Economics. Sie haben in Hinblick auf die Versorgungsqualität, Erreichbarkeit der Häuser – und ihrer Wirtschaftlichkeit – die Zukunft der Krankenhausversorgung skizziert.
Ärzte- und Schwesternmangel könnten durch die Neuordnung gelindert werden, meinen die Autoren. Denn je mehr Krankenhäuser, umso dünner die Decke an Ärzte und Schwestern pro Haus. „So dauert es häufig sehr lange, bis Patienten in der Klinik tatsächlich einen Facharzt zu sehen bekommen“, heißt es in dem Papier.
Das sagen die Autoren in Richtung derer, die für die kleinen, rasch erreichbaren Krankenhäuser vor Ort eintreten. Ein Krankenhaus in der Nähe, aber ohne erreichbaren Facharzt sei aber „in Wahrheit ein gravierender Qualitätsnachteil“, so die Autoren.
Die Neuordnung der Krankenhauslandschaft sei eine Frage der Patientensicherheit und müsse vor allem das Ziel verfolgen, „die Versorgungsqualität zu verbessern", kommentiert Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung
Und von den kleinen Krankenhäusern gibt es viele. 57% der deutschen Krankenhäuser sind kleine Kliniken mit weniger als 200 Betten, oft medizintechnisch schlecht ausrüstet. Im Jahr 2017 etwa fehlte jeder 3. Klinik ein CT (Computertomograph), über 60% hatten keine Koronarangiographie, sie wiesen also eklatante Mängel auch bei der Ausrüstung auf, um z.B. Patienten mit Herzinfarkt oder Schlaganfall optimal versorgen zu können. So mussten im Jahr 2017 insgesamt 770.000 Patientinnen und Patienten von einem in ein anderes Krankenhaus verlegt werden.
Um das Problem zu lösen, favorisieren die 8 Autoren ein 2-stufiges System aus
1. Häusern der Regelversorgung, etwa mit Geriatrie und Chirurgie und innerer Medizin und
2. der Maximalversorgung, zum Beispiel mit Herz- und Thoraxchirurgie oder Nuklearmedizin und Ophthalmologie.
Alle Häuser müssten über Fachabteilungen verfügen, die rund um die Uhr mit Fachärzten besetzt sind, heißt es. So könnte das derzeitige 4-stufige System aus Grund-, Regel -, Schwerpunkt-, und Maximalversorgung abgelöst werden.
Wollte man mit dem Vorschlag ernst machen, so würden deutschlandweit 410 Krankenhäuser genügen, haben die Wirtschaftsleute errechnet. Das sei wohl vernünftig, aber politisch nicht durchsetzbar, meinen allerdings die Experten, und schlagen deshalb vor, „nur“ auf rund 600 Häuser zu reduzieren.
„Viele Komplikationen und Todesfälle ließen sich durch eine Konzentration auf deutlich unter 600 statt heute knapp 1.400 Kliniken vermeiden“, so Dr. Jan Böcken von der Bertelsmann Stiftung.
Um den Vorschlägen Substanz zu geben, hat das Berliner Forschungsinstitut IGES die Probe aufs Exempel gemacht und die Vorschläge der Experten für die Versorgungsregion 5 in Nordrhein-Westfalen durchgerechnet. Betroffen wären Köln, Leverkusen und 3 angrenzende, ländliche Regionen.
Dort treten die typischen Probleme auf, so das IGES: Zwar behandeln zum Beispiel 36 der 38 Krankenhäuser Herzinfarkt-Patienten. Aber nur 6 Häuser kamen über die kritische Untergrenze von jährlich 309 Behandlungsfällen. 2 Drittel sind nicht für die Notfallbehandlung von Infarktpatienten ausgestattet. Nur 143 von 204 der Fachabteilungen der fraglichen 38 Krankenhäuser hatten genügend Fachärzte für einen Rund-um-die-Uhr-Betrieb.
Nach den IGES-Berechnungen würden 14 Kliniken zur Versorgung reichen und eine bessere Versorgung bieten – aber wo sollen diese sein? Das Modell geht von einer Krankenhausverteilung aus, bei der nur 2,8% der Patienten länger als 30 Minuten zur Klinik bräuchten.
Allerdings würde die Neuordnung den Ärztemangel nicht überall beenden. Die derzeit 33 HNO-Ärzte an den 38 Krankenhäusern würden z.B. gerade mal in 6 von ihnen die 24/7-Versorgung ermöglichen.
Dass auch die Reduktion auf 600 Häuser schwer durchzusetzen wäre, zeigen die ersten Reaktionen auf das Bertelmann-Papier.
„Kahlschlag!“ „Zerstörung!“
Dr. Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft wirft den Bertelsmann-Experten „die Zerstörung von sozialer Infrastruktur in einem geradezu abenteuerlichen Ausmaß“ vor. Dass nur Groß-Krankenhäuser bessere Qualität lieferten, sei nicht belegt, so Gaß. Eigene Qualitätsmessungen hätten einen hohen Standard auch in kleineren Häusern ergeben.
Zudem brauche die Grundversorgung keine Spezialisierung, etwa bei Geburten oder in der geriatrischen Versorgung. Auch verschwiegen die Autoren, dass mit einer derartigen Reform auch die ambulante Versorgung und die Prävention ausgebaut werden müssten – ganz abgesehen von den gewaltigen Investitionen, „die weit über die bisherigen Fördermittel der Länder und des Bundes hinausgehen. Auch dazu schweigt sich die Studie aus“, so Gaß.
Auch der Marburger Bund (MB) kritisiert das Bertelsmann-Papier. „Planungsentscheidungen werden in den Ländern getroffen und nicht am grünen Tisch der Bertelsmann-Stiftung“, sagt Dr. Rudolf Henke, Vorsitzender des Marburger Bundes.
„Es lässt sich aus der Warte von Ökonomen leicht von Zentralisierung und Kapazitätsabbau fabulieren, wenn dabei die Bedürfnisse gerade älterer, immobiler Menschen unter den Tisch fallen, die auf eine Wohnort-nahe stationäre Grundversorgung angewiesen sind. Versorgungsprobleme werden nicht dadurch gelöst, dass pauschal regionale, leicht zugängliche Versorgungskapazitäten ausgedünnt werden“, so Henke weiter. Vor allem müssten die Länder ihren Investitionsverpflichtungen nachkommen.
Auch der Berufsverband der Deutschen Chirurgen (BDC) meldet sich zu Wort. Der Verband spricht sich zwar ebenfalls für eine Zentralisierung aus – aber nur für die chirurgischen Leistungen. „Die Krankenhauslandschaft wird sich in den nächsten Jahren verändern müssen, um hohe Qualitätsstandards gewährleisten zu können“, sagt Prof. Dr. Hans-Joachim Meyer, Präsident des BDC.
„Allerdings ist es nicht der richtige Weg, deutschlandweit 800 Kliniken zu schließen. Im Fokus sollte zunächst die Zentralisierung komplexer operativer Eingriffe stehen.“ Der BDC fordert spezialisierte Zentren, die die Mindestmengen-Vorgaben einhalten können.
Auch Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, betont die Regionalität der Versorgung und eine gut erreichbare Grundversorgung. „Ohne Zweifel muss sich bei den 2.000 Kliniken in Deutschland etwas ändern“, so Brysch. „Dabei spielen Mindestmengen bei Operationen und die Überprüfung der Qualität eine wichtige Rolle. Es wird Häuser geben, die das nicht erfüllen und geschlossen werden müssen. Aber über die Hälfte der Krankenhäuser zu schließen, ist kein Konzept, sondern Kahlschlag.“
Ein positives Echo hingegen kommt von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV lobt den Weg, den die Bertelsmann Stiftung einschlägt. Zu kleine Krankenhäuser „haben weder die personellen noch apparativen Kapazitäten, um Patienten umfassend zu versorgen“, so Gassen. Die Forderung der Krankenhausgesellschaft, mehr Patienten ambulant durch die Krankenhäuser behandeln zu lassen, weist Gassen zurück. Stattdessen könnten nach Überzeugung der KBV kleine, defizitäre Krankenhäuser so umgebaut werden, dass Standorte erhalten bleiben und die Alltagsversorgung sichern.
Gassen: „Eine Frischzellenkur ist allemal besser, als das Siechtum mancher Häuser weiter unnötig zu verlängern.“
Medscape Nachrichten © 2019
Diesen Artikel so zitieren: Bertelsmann-Stiftung: Experten-Papier plädiert für 1.000 Kliniken weniger in Deutschland – Kritik kommt von allen Seiten - Medscape - 16. Jul 2019.
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