Neuer Libido-Booster für Frauen – FDA-Zulassung erhitzt die Gemüter: Wenig Wirkung, unklare Risiken

Alicia Ault

Interessenkonflikte

11. Juli 2019

Ein selbst-injizierbares Medikament, das – wie berichtet – kürzlich in den USA zur Therapie von Störungen des sexuellen Verlangens bei prämenopausalen Frauen zugelassen worden ist, wird nun dort heiß diskutiert. Dabei geht es auch um die Frage, wie wirksam die Therapie tatsächlich ist – und um die langfristige Sicherheit.

 
Das Positivste ist, dass die Entwicklung solcher Therapien die Aufmerksamkeit darauf lenkt, welche Bedeutung sexuelles Vergnügen für unser allgemeines Wohlbefinden hat. Dr. Nan Wise
 

Die US Food and Drug Administration (FDA) hat Bremelanotid (Vyleesi®, AMAG Pharmaceuticals) am 21. Juni 2019 zugelassen. Es ist damit die zweite Therapie gegen Störungen des sexuellen Verlangens (hypoactive sexual desire disorder, HSDD) bei prämenopausalen Frauen, die in den USA verfügbar wird. In Europa ist zurzeit keine derartige Therapie zugelassen.

FDA im Zugzwang bei weiblicher sexueller Dysfunktion

Dieser Unterschied diesseits und jenseits des Atlantiks ist auch darauf zurückzuführen, dass die FDA 2012 die weibliche sexuelle Dysfunktion als eines von 20 Krankheitsfeldern mit hoher Priorität identifiziert hat – und sich selbst damit unter Zugzwang setzte. Mit den Zulassungen will sie nun ihre Erfolgsbilanz in der Zusammenarbeit mit Unternehmen, die Behandlungen für weibliche sexuelle Dysfunktion entwickeln, polieren.

Dies führte zur Zulassung, obwohl der genaue Wirkmechanismus unbekannt ist, und der Therapieansatz nicht im Vorfeld von einem FDA-Beratungsausschuss geprüft worden war – im Gegensatz zur ersten von der FDA zugelassenen HSDD-Therapie: Flibanserin (Addyi®, Sprout Pharmaceuticals).

 
Im Grunde genommen ist der Effekt relativ bescheiden. Dr. Nan Wise
 

Bremelanotid, ein zyklisches Hepta-Peptid, das als Melanocortin-Rezeptor-Agonist wirkt, ist ein neuartiger Wirkstoff, der per subkutaner Injektion mit einem Autoinjektor verabreicht wird. Hersteller AMAG schreibt ihm „das Potenzial zur Beeinflussung dopaminerger Wege, die an der sexuellen Reaktion beteiligt sind“ zu.

Kritik an der Zulassung

Bereits kurz nach der Zulassung hat Cindy Pearson, Geschäftsführerin des National Women's Health Network, eine Erklärung herausgegeben und Frauen davon abgeraten, das Medikament einzusetzen, solange nicht mehr zu Sicherheit und Wirksamkeit bekannt sei.

„Das Positivste ist, dass die Entwicklung solcher Therapien die Aufmerksamkeit darauf lenkt, welche Bedeutung sexuelles Vergnügen für unser allgemeines Wohlbefinden hat“, sagt Dr. Nan Wise, Psychotherapeutin, zertifizierte Sexualtherapeutin, Neurowissenschaftlerin und Dozentin an der Rutgers University, Newark, New Jersey, gegenüber Medscape. Aber Bremelanotid „adressiert nicht die psychosozialen Grundlagen des sexuellen Verlangens“, kritisiert sie gleichzeitig.

Pearson lobt die Pharmaunternehmen für ihre Bemühungen: „Wir sind eine Generation, die die Revolution der sexuellen Frauenrechte erlebt hat oder die davon profitiert; also von der Idee, dass Frauen ein aktives Sexualleben haben, Verlangen haben, Sex genießen – warum sollten wir nicht wollen, dass uns Medikamente helfen, wenn es nicht mehr so gut ist wie früher und wenn dies auf medizinische Probleme zurückzuführen sein könnte.“ Das „Interesse der Industrie ist absolut verständlich“, sagt Pearson – erinnert aber daran, dass sich auch Placebos bei dieser Indikation „als ziemlich effektiv erwiesen haben“.

Hohe Dropout-Rate

Aber sowohl Pearson als auch Wise halten die hohe Zahl der Frauen, die die Therapie nicht über die gesamte 6-monatige Dauer der beiden entscheidenden Studien durchgehalten haben, für „besorgniserregend“.

Laut AMAG und FDA hatten 1.247 prämenopausale Frauen an den beiden randomisierten, doppelblinden, placebo-kontrollierten Studien zu Bremelanotid teilgenommen.

Das Unternehmen wertete die primären Ergebnisse mittels einer modifizierten Intent-to-Treat-Methodik aus – was die Studienpopulation auf 1.202 Probanden verringerte. Letztendlich absolvierten 856 Frauen die so genannte „Kernphase“ der Studie – diese bestand aus einer einmonatigen Screening-Phase, gefolgt von einem Monat einzelblind Placebo, gefolgt von 6 Monaten Placebo- oder Wirkstoff-Injektionen (Dosis 1,75 mg).

 
Für mich ist das so, als ob man einen Vorschlaghammer benutzt, um einen Reißnagel in die Wand zu drücken. Dr. Nan Wise
 

AMAG-Sprecherin Sarah Connors wertet die 856 in der Studie verbliebenen Frauen als Erfolg, gerade in Anbetracht dessen, wie viel zeitliches Engagement von den Teilnehmerinnen gefordert worden war. „Wir glauben, dass die fast 70 Prozent der Frauen, die diesen Teil der Studie abgeschlossen haben, ziemlich stabile Ergebnisse liefern“, sagt Connors gegenüber Medscape.

Das Unternehmen hat allerdings keine Einsicht geliefert in die vollständigen Daten zu den Ursachen für die Studienabbrüche. Es teilte lediglich mit, dass 112 (18%) von 627 Frauen in der Bremelanotid-Gruppe wegen unerwünschter Ereignisse die Therapie beendeten.

„Das häufigste unerwünschte Ereignis, das zum Abbruch in der Vyleesi®-Gruppe führte, war Übelkeit mit 8 Prozent“, teilte Connors mit. Nach ihren Angaben haben unter den Placebo-Patientinnen 12 (2%) von 620 aufgrund von Nebenwirkungen die Behandlung abgebrochen.

Für Pearson stellt sich allerdings die Frage: „Warum sind nicht mehr in der Studie geblieben?“

Kleiner Effekt

Laut FDA haben die meisten Patienten Bremelanotid 2- oder 3-mal pro Monat verwendet, und nicht mehr als einmal pro Woche. Etwa ein Viertel der Patienten zeigte einen Anstieg von 1,2 oder mehr in ihrem sexuellen Verlangen auf dem „Female Sexual Function Index“ (FSFI), verglichen mit 17% unter Placebo.

Etwas mehr als ein Drittel (35%) zeigte allerdings auch einen Rückgang von einem Punkt oder mehr auf der 4-Punkte-Skala der „Sexual Distress Scale – Desire/Arousal/Orgasm“ (FSDS – DAO), verglichen mit 31% in der Placebo-Gruppe.

„Im Grunde genommen ist der Effekt relativ bescheiden“, sagt Wise. „Es kann statistisch signifikant sein, sie können es auch klinisch signifikant nennen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es praktisch tatsächlich bedeutsam ist.“

 
Einige Frauen mit geringem sexuellem Interesse haben immer noch befriedigenden Sex. Dr. Nan Wise
 

Wise weiter: „Menschen in klinischen Studien sind in der Regel hoch motiviert, eine Behandlung für ihre Erkrankung zu finden; sie sind es oft mehr als der Durchschnitt, der die gleichen Symptome aufweist“, sagt Pearson. „Wenn fast 40 Prozent der Frauen, die auf Bremelanotid randomisiert wurden, vor dem Studienende abbrachen, und nur 4 bis 8 Prozent davon irgendeinen Nutzen hatten, der über Placebo hinaus geht, dann sieht das für mich so aus, als ob das Medikament versagt hat.“

Die FDA konstatierte, dass es keinen Unterschied in der Zahl der befriedigenden sexuellen Ereignisse gab. Wise sagt, dass der Unterschied bei ungefähr 0,7 Ereignissen pro Monat lag. Wenn Frauen wirklich eine Zunahme des Begehrens erlebten, ließe sich das vermutlich übersetzen in: „mehr als einmal im Monat“, so Wise.

Anhaltende Sicherheitsfragen

Aber auch unerwünschte Ereignisse waren ein Thema: 40% der Frauen, die Bremelanotid einnahmen, berichteten von Übelkeit, 13% von ihnen benötigten Medikamente dagegen. 1% wies eine Hautverdunkelung auf – am Zahnfleisch, im Gesicht und an den Brüsten – und bei der Hälfte der Frauen verschwand die Verdunkelung nicht wieder.

Das Medikament ist zudem kontraindiziert für Menschen mit unkontrollierter Hypertonie oder mit hohem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und für Frauen, die oral Naltrexon einnehmen.

 
HSDD ist seit den 1970er-Jahren als Krankheit anerkannt, aber sie wurde weitgehend unterdiagnostiziert und unterbehandelt. Dr. Anita H. Clayton
 

Wise sprach eine weitere langfristige Sorge an – das Medikament wirkt über das zentrale Nervensystem: „Für mich ist das so, als ob man einen Vorschlaghammer benutzt, um einen Reißnagel in die Wand zu drücken.“

Hersteller AMAG teilte mit, dass 2 Postmarketing-Studien geplant sind: ein Schwangerschaftsregister und eine Studie mit stillenden Frauen.

Die FDA empfiehlt, dass Frauen das Medikament nach 8 Wochen absetzen sollten, wenn sie keine Verbesserungen spürten. Connors sagte, dass Gleichlautendes auch im Beipackzettel zu Flibanserin stehe. Dies sei eine Möglichkeit, um sicherzustellen, dass mögliche Risiken zumindest „auf die Patienten beschränkt bleiben, die auch einen Nutzen davon haben“, erklärte sie.

Wie viele Frauen haben HSDD?

Im Jahr 2017 aktualisierte das Experten Konsensus Panel der International Society for the Study of Women's Sexual Health (ISSWSH) die bisherigen Richtlinien zur HSDD.

„Einige denken ja, dass es sich um eine Art ‚Modediagnose‘ handelt“, sagt Wise. Sie wies darauf hin, dass eine HSDD im DSM-5 als weibliche Sexualfunktionsstörung (female sexual interest/arousal disorder, FSIAD) aufgeführt ist. Allerdings sei die Natur des weiblichen Begehrens komplexer als das männliche Begehren, sagt sie.

„Man kann ein geringes Interesse an Sex haben, die Erregung kann aber dennoch intakt sein – so dass die Systeme funktionieren, sobald das Ganze beginnt“, sagt Wise. „Einige Frauen mit geringem sexuellem Interesse haben immer noch befriedigenden Sex.“

Frauen neigten dazu, den aktiven spontanen Wunsch nach Sex in langfristigen Beziehungen zu verlieren; der Wunsch könne sich verflüchtigen, aber er könne „von denen aufgerufen werden, die verstehen, wie man ihn aktiviert“, sagt Wise.

Insgesamt gebe es Hinweise darauf, dass amerikanische Männer und Frauen immer weniger Sex haben. Wise wies auf eine Studie aus dem Jahr 2017 hin: Diese kam zu dem Schluss, dies sei teilweise auf fehlende feste Partner, aber auch auf einen Rückgang der Häufigkeit sexueller Begegnungen mit bestehenden Partnern zurückzuführen. „Es ist ein Symptom für etwas Größeres“, sagt sie. „Die Menschen scheinen im Allgemeinen an Anhedonie zu leiden – an Unfähigkeit, Freude sowohl im Schlafzimmer als auch außerhalb zu erleben.“

Pearson ist sich nicht sicher, was sie von HSDD als Krankheit halten soll, zum Teil auch wegen des mangelhaften Forschungsstandes über die weibliche Sexualität. „Ich glaube nicht, dass wir schon genug wissen, um wirklich zu verstehen, was für Frauen im Bereich des Normalen liegt und was außerhalb des Bereichs des Normalen liegt“, sagt sie.

Laut International Society for the Study of Women´s Sexual Health (ISSWSH) betrifft HSDD 10% der erwachsenen Frauen. Die leitende Medizinerin der AMAG, Dr. Julie Krop, sagt in einer Erklärung, das Unternehmen glaube, dass HSDD fast 6 Millionen prämenopausale Frauen betreffe. Die Unternehmenssprecherin Connors meint, eine von 10 amerikanischen Frauen leide daran.

„HSDD ist seit den 1970er-Jahren als Krankheit anerkannt, aber sie wurde weitgehend unterdiagnostiziert und unterbehandelt“, sagt Dr. Anita H. Clayton, Vorsitzende der Abteilung für Psychiatrie und Neuroverhaltenswissenschaften der University of Virginia in Charlottesville, in der Unternehmenserklärung.

„Frauen mit HSDD vermeiden oft Situationen, die zu Intimität führen könnten, deren Auswirkungen weit über das Schlafzimmer hinausgehen und oft zu Ängsten, Vitalitäts- und Selbstwertverlust sowie Beziehungsstress führen. Es ist wichtig, dass Frauen, die an dieser Erkrankung leiden, eine Auswahl an Behandlungsmöglichkeiten haben.“

Werden die Versicherer anbeißen?

Es bleibt abzuwarten, ob die Versicherer die Kosten für Bremelanotid übernehmen werden. Connors sagte, dass AMAG die Einführung der Therapie im September erwartet, zeitgleich mit dem National Sexual Health Month. „Wir werden noch spezifische Preise und Informationen zur Erstattung festlegen“, sagt sie und ergänzt, das Unternehmen werde sicherstellen, dass die Frauen auch Zugang zur Therapie bekommen.

„Wir glauben, dass die Versicherer, sobald sie sich des Wertes bewusst sind, Vyleesi® auf einem ähnlichen Niveau wie andere Medikamente gegen sexuelle Dysfunktion für Männer und Frauen bezahlen werden“, sagt Connors.

 
Hoffentlich bleiben nicht zu viele Frauen mit Hautverdunklungen und enttäuschten Hoffnungen zurück. Cindy Pearson
 

Flibanserin – das ebenfalls als wenig wirksam eingestuft worden war und einige Verordnungsbeschränkungen aufweist – hatte einen steinigen Weg mit den Krankenkassen. Die Associated Press (AP) berichtete letzten Monat, dass Flibanserin 2018 insgesamt nur 6.000 Mal verschrieben worden ist. Die einmal tägliche Medikation wurde zunächst mit Kosten von 800 US-Dollar pro Monat veranschlagt, ist aber inzwischen auf 400 US-Dollar reduziert worden, so die AP.

Sprout Pharmaceuticals macht geltend, dass Flibanserin von den meisten kommerziellen Versicherern abgedeckt werde. Patienten können es in den ersten 8 Wochen kostenlos erhalten, unabhängig von der Deckung durch die Versicherung – und die FDA und das Unternehmen empfehlen, das Medikament abzusetzen, wenn es innerhalb von 2 Monaten nicht funktioniert hat.

Wise hält es für unwahrscheinlich, dass ältere Frauen Bremelanotid off-label verwenden, doch jüngere Frauen könnten es als Option betrachten, weil ein Verlust des sexuellen Begehrens für sie schwerwiegender sei. Aber sie sagt: „Ich würde es niemandem empfehlen.“

Und Pearson meint: „Hoffentlich bleiben nicht zu viele Frauen mit Hautverdunklungen und enttäuschten Hoffnungen zurück.“

Dieser Artikel wurde von Ute Eppinger aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
 

Kommentar

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