Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der Marburger Bund (MB) haben als Repräsentanten der niedergelassenen und der Krankenhaus-Ärzte eine Liste mit Gütekriterien für die Triage-Systeme beim Erstkontakt von Notfallpatienten geschaffen [1,2]. Sie gelten zum einen für die gemeinsame Anlaufstelle von Krankenhaus- und Vertragsärzten in den Notaufnahmen der Krankenhäuser („gemeinsamer Tresen“) und zum anderen für die medizinische Ersteinschätzung als solche.
Damit kommen sie dem Gesetzgeber zuvor. Bereits im Dezember 2018 hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ein Eckpunkte-Papier zum Thema vorgelegt. Es fordert integrierte Notfallzentren (INZ) mit einem gemeinsamen Tresen in bestimmten Krankenhäusern als zentrale Anlaufstelle für Patienten, die in der Notaufnahme erscheinen. Es sieht zudem gemeinsame Notfall-Leitstellen vor, die über die Telefonnummern 112 und 116117 erreichbar sind und dem Anrufer z.B. einen Krankenwagen schicken können.
Die INZ und die Notfall-Leitstellen sollen anhand eines passenden Ersteinschätzungssystems entscheiden, welchen Versorgungsweg der Notfallpatient nimmt – ins Krankenhaus oder in die kassenärztliche Versorgung.
Noch hat der Gesetzgeber keinen Entwurf vorgelegt, der das Eckpunkte-Papier in eine verbindliche Regelung verwandelt. Allerdings sieht das Terminservice- und Versorgungsgesetz vor, dass ab dem 1. Januar 2020 alle Akutfälle über ein einheitliches System eingeschätzt werden müssen.
Mit ihrem gemeinsamen Vorschlag haben KBV und MB nun selbst einen Pflock eingeschlagen. „Wir haben da schon mal was vorbereitet“, sagte der Vorstandsvorsitzende der KBV, Dr. Andreas Gassen bei der Vorstellung des Papiers.
Für die gemeinsamen Anlaufstellen gilt: ambulant vor stationär. Schließlich sollen die Notaufnahmen die Krankenhäuser entlasten. Die Ersteinschätzung am gemeinsamen Tresen soll durch ein bundesweit strukturell einheitliches Tool erfolgen und auch von einer medizinischen Fachkraft vorgenommen werden können.
Die Bereitschaftsdienstpraxis der jeweiligen KV, die gegebenenfalls im Krankenhaus untergebracht ist, soll getrennt vom Tresen aber in der Nähe liegen, so die Gütekriterien. Die Bereitschaftsdienstpraxis soll zudem neben der hausärztlichen Ausstattung über ein EKG verfügen, über ein Pulsoximeter, ein Sonographie-Gerät und über ein Labor für Akutparameter.
Auch für das gemeinsame Tool haben KBV und MB einen Kriterienkatalog vorgelegt. Sie setzen dabei auf die aus der Schweiz adaptierte „SmED“-Software (strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland). Sie muss z.B. über die Fragen bei der Ersteinschätzung „sehr schnell lebensbedrohliche Zustände und abwendbar gefährliche Krankheitsverläufe mit hoher Sensitivität (zu) erkennen“ und die passende Versorgungsebene zuweisen können – Notaufnahme, Bereitschaftsdienstpraxis oder einen Hausarztbesuch in nächster Zeit, so das gemeinsame Papier.
Der Fragenkatalog der Ersteinschätzung muss damit lebensbedrohliche Zustände schnell und genau erkennen. Die Ersteinschätzung müsse dabei auch durch nichtärztliches Personal vorgenommen werden können, sowie IT- und dokumentationsfähig sein, heißt es weiter.
SmED muss noch fit gemacht werden für die Krankenhaus-Anwendung
Allerdings dürfte es schwierig werden, den Kriterienkatalog für die Ersteinschätzung geradewegs umzusetzen. Nicht in den Rettungsleitstellen, denn hier hat der Gesetzgeber die KBV verpflichtet, für die 116117-Triage eine Richtlinie zu schaffen, sagt Dr. Dominik Graf von Stillfried, Vorsitzender des Zentralinstituts der Kassenärztlichen Versorgung (ZI).
Das ZI hat die Kriterienkataloge mitentwickelt. Bei den Notdienst-Zentralen werde die KBV auf SmED zurückgreifen. Anders in den Kliniken. Sie müssen nicht das SmED-System übernehmen. Denn die allermeisten Krankenhäuser arbeiten bereits mit einem eigenen Triage-System.
Von Stillfried schätzt, dass rund 2 Drittel der Krankenhäuser das Manchester-Triage-System (MTS) nutzen und die meisten anderen den Emergency Severity Index (ESI). Das Problem: MTS und ESI unterscheiden zwar Dringlichkeitsstufen der Behandlung – aber machen keine Vorschläge über die Versorgungswege.
Dabei besteht das Problem der Notaufnahmen ja gerade darin, dass viele Patienten hier gar keine Notfälle sind und in der Hausarzt- oder Bereitschaftsdienstpraxis oft besser aufgehoben wären. Stattdessen blockieren sie mit Bagatell-Beschwerden die Notaufnahmen der Krankenhäuser. Das hat auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2018 in seinem Gutachten „Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung“ festgehalten.
Deshalb verändern derzeit das ZI und die beiden Fachgesellschaften der Notärzte das SmED-System, mit der „Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Notfall- und Intensivmedizin“ (DIVI) und der „Deutschen Gesellschaft für Notfall- und Akutmedizin“ (DGINA).
SmED soll so verändert werden, dass es die Triage-Systeme der Krankenhäuser um die Wahl des Versorgungsweges ergänzen kann, wie von Stillfried sagt. „Wenn zum Beispiel bei einem Notfall-Patienten im Krankenhaus die MTS-Kriterien nicht anschlagen, sollen am gemeinsamen Tresen automatisch die SmED-Kriterien greifen und einen Versorgungsweg vorschlagen.“
Die Alternative: „OPTINOFA“
Ob dann jedes Krankenhaus den Doppelpack aus ESI oder MTS plus SmED einsetzen wird, ist aber offen.
Manche Häuser dürften auch auf die Alternative zu SmED setzen – „OPTINOFA“. Zusammen mit 10 weiteren Krankenhäusern in Deutschland erprobt derzeit die Unimedizin Göttingen dieses Ersteinschätzungssystem „Optimierung der Notfallversorgung durch strukturierte Ersteinschätzung mittels intelligenter Assistenzdienste“ (OPTINOFA). „Das System ist mehr als eine Triage“, sagt Projektkoordinatorin Kerstin Pischek-Koch, „es gibt auch Empfehlungen zur Versorgungsstufe.“
Im Vorfeld analysieren die Modellkliniken das Notfallgeschehen in ihren Notaufnahmen und wenden dann die neu strukturierte Ersteinschätzung an. Dazu entwickeln die Krankenhäuser und das Institut für Allgemeinmedizin der Universitätsmedizin Göttingen Algorithmen zunächst für die 20 häufigsten Leitsymptome. Sie erfassen die Dinglichkeit der Beschwerden und die passende Versorgungsstufe.
Auch OPTINOFA basiert auf der ESI- oder MTS-Triage, so Pischek-Koch. Das Ganze funktioniert als Software, kann also ortunabhängig genutzt werden. Will sagen, jede Notaufnahme in Deutschland könnte sie nutzen, wenn sie wollte.
Bis zum Stichtag 1. Januar 2020 wird das Projekt aber noch nicht so weit. Es endet nach Evaluation des Göttinger IGES-Institutes am 30. November 2021.
Überfüllte Notfallambulanzen: Was muss sich ändern – das Patientenverhalten oder die Versorgung?
Notfallversorgung: Rund 700 Ambulanzen mit Portalpraxen sollen es richten
Überlastete Klinikambulanzen durch Bagatell-Fälle: Sind ambulant-stationäre Zentren die Lösung?
Verschmähter Bereitschaftsdienst: Auf der Suche nach den Gründen für (zu) volle Klinikambulanzen
Medscape Nachrichten © 2019 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Gesetzgeber unter Zugzwang: Kassen- und Klinik-Ärzte stellen gemeinsames Notfallversorgungs-Konzept vor - Medscape - 9. Jul 2019.
Kommentar