Streit um die Homöopathie wird schärfer: Offener Brief an den Gesundheitsminister – Binnenkonsens sollte revidiert werden

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

26. Juni 2019

Die Kritik an der Homöopathie ist so laut wie noch nie: Mit einem offenen Brief hat sich jetzt das Informationsnetzwerk Homöopathie an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gewandt. Das Anliegen: Der Binnenkonsens im Paragrafen 38 des Arzneimittelgesetzes (AMG) soll revidiert werden. Das Informationsnetzwerk Homöopathie (INH) ist ein Zusammenschluss von Homöopathie-Kritikern – über 60 Experten und Wissenschaftlern, die sich sachlich und auf nachprüfbaren Fakten basierend mit der Homöopathie auseinandersetzen.

„Ein schwarzes Loch im Arzneimittelrecht“

„Die Konstruktion des sogenannten Binnenkonsens im Paragrafen 38 des AMG stellt nichts weniger dar als die partielle Verkehrung des Sinns des AMG in sein völliges Gegenteil: Statt intersubjektive wissenschaftliche Maßstäbe an alles, was ‚Arzneimittel‘ sein will, anzulegen, schafft er unter ausdrücklichem Verzicht auf Wirkungsnachweise einen nicht nachvollziehbaren Schutzraum für Mittel ‚besonderer Therapierichtungen‘ – ein ‚Schwarzes Loch‘ im Arzneimittelrecht“, heißt es in dem offenen Brief.

Während andere Medikamente unter schwierigen Bedingungen ihre Wirksamkeit nachweisen müssen, ist die Homöopathie davon ausgenommen. Es reicht, wenn ihre Verfechter die Wirksamkeit zum Beispiel aus der homöopathischen Literatur bestätigen. Der wissenschaftliche Nachweis über klinische Studien ist dafür nicht notwendig.

 
Die Scheidegrenze zwischen Medizin und Nicht-Medizin ist die nach wissenschaftlichen Maßstäben nachgewiesene Wirksamkeit. Dr. Natalie Grams, Dr. Christian Lübbers und Dr. Norbert Aust
 

„Im richtigen Verständnis gibt es nur eine Medizin: Diejenige, die wirkt. Diejenige, die die Frage ‚Wo ist der Beweis?‘ wissenschaftlich beantworten kann. Daneben braucht es weder Alternatives, noch Komplementäres, noch Integratives. Die Scheidegrenze zwischen Medizin und Nicht-Medizin ist die nach wissenschaftlichen Maßstäben nachgewiesene Wirksamkeit. Die Homöopathie bleibt seit über 200 Jahren jenseits dieser Scheidegrenze und kann sich auf nicht mehr berufen als auf eine gesetzliche Fiktion“, schreiben Dr. Natalie Grams, Dr. Christian Lübbers und Dr. Norbert Aust vom INH.

Für den offenen Brief gab es einen konkreten Anlass, bestätigt Grams gegenüber Medscape: „Das war zum einen der juristische Schritt von (des Unternehmens) Hevert, der sich auf die Tatsache beruft, dass zugelassene Homöopathika per definitionem und per Gesetz eine Wirksamkeit haben, was sich wissenschaftlich jedoch nicht nachweisen lässt. Zum anderen war die prominente Satire von Jan Böhmermann, der Jens Spahn auch selbst adressierte, ein willkommener Anlass, um den anachronistischen Binnenkonsens politisch infrage zu stellen.“

Unterlassungsforderung gegen die Aussage „keine Wirkung über den Placebo-Effekt hinaus“ …

Schon lange klärt die ehemalige Homöopathin und Sprecherin des INH über die Wirkungslosigkeit von Globuli auf. Als sie Grams Anfang Mai öffentlich sagte, Homöopathika wirkten „nicht über den Placebo-Effekt hinaus“, konfrontierte der Pharmahersteller Hevert sie mit einer Unterlassungsforderung. Nach dieser soll Grams für jeden Fall der Zuwiderhandlung unter Ausschluss des Fortsetzungszusammenhanges eine Vertragsstrafe in Höhe von 5.100 Euro an Hevert zahlen.

 
Die prominente Satire von Jan Böhmermann … war ein willkommener Anlass, um den anachronistischen Binnenkonsens politisch infrage zu stellen. Dr. Natalie Grams
 

„Der Versuch, eine wissenschaftliche Frage mit juristischen Mitteln zu klären, ist ein neuer Schritt“, sagt Grams und fügt hinzu: „Ob Hevert sich und der Homöopathie damit allerdings einen Gefallen getan hat, ist mehr als fraglich.“

… nutzt Jan Böhmermann als Steilvorlage

Zumal Satiriker Jan Böhmermann die Unterlassungsaufforderung der Firma als Steilvorlage für seine Sendung Neo Magazin Royale nutzte und sich dabei – wie gute Satire das nun mal macht – auch auf reichlich Fakten stützte.

Als „Running Gag“ wurde für die Dauer der Sendung der – von Hevert als „falsche Tatsachenbehauptung“ eingestufte – Zusammenhang von Homöopathie und Placebo-Effekt ununterbrochen wiederholt – die virtuelle Strafsumme addierte sich auf abschließend 76.500 Euro.

Böhmermann kritisierte, dass die Kassen Homöopathie bezahlen, nur weil dies von manchen Patienten gewünscht werde. Kassen sollten lieber das erstatten, was erwiesenermaßen helfe, wie Brillen oder anständige Pflege, so seine Argumentation. Laut Böhmermann wirken alle homöopathischen Arzneimittel nach dem „Drei-Faktor-Prinzip: Verdünnen, schütteln, Scheiße labern“.

Die „Zerstörung der Homöopathie“

Der Bundesverband Patienten für Homöopathie (BPH) hat auf die Sendung reagiert. Dr. Ulf Riker, Internist und Homöopath aus München, schreibt dazu: „Bei Böhmermann wird Satire im Handumdrehen zur Polemik. Auch wenn er sich ohne Zweifel die Rückendeckung aller ZDF-Justitiare eingeholt hat: In diesem Fall tritt er die Freiheit der Therapiewahl mit Füßen und maßt sich die Kompetenz an, eine über 200-jährige und weltweit bewährte Heilmethode verurteilen zu können. Er tut das ganz im Sinne einer Bewegung sogenannter Skeptiker, die sich die Zerstörung der Homöopathie auf ihre Fahnen geschrieben haben. Ungeniert bedient er sich in seiner Sendung der immer gleichen Kronzeugen bzw. selbsternannten Experten, die ohne eigene Fachkompetenz und teilweise ohne medizinische Ausbildung die Homöopathie als ‚nicht wirksamer als Placebo‘ einschätzen.“

Beschwerde beim Presserat wegen Homöopathie-kritischer Titelstory

Mit der gegen sie erwirkten Unterlassungsforderung steht Grams nicht allein. Auch der Wissenschaftsjournalist Bernd Kramer hatte wegen seiner taz-Titelgeschichte „Das weiße Nichts“ von Hersteller Hevert eine solche erhalten. Wegen seiner Titelgeschichte hatten auch der Deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte (DZVhÄ) und der Verband klassischer Homöopathen Deutschlands eine Beschwerde beim Presserat eingelegt.

Begründung: „Die zahlreichen Belege für die Wirksamkeit der Homöopathie würden nicht berücksichtigt.“ Wie Kramer jetzt twitterte, hat der Beschwerdeausschuss des Presserats die Beschwerde allerdings als „unbegründet“ bewertet.

In dem Anwaltsschreiben war Kramer aufgefordert worden, „pauschale, die Homöopathie abwertende Äußerungen in jeder Form“ zu unterlassen, weil das geschäftsschädigend sein könne.

 
Wenn diese Argumentation juristisch durchginge, würden sich nicht nur geschäftstüchtige Astrologen und Geistheiler freuen, dann könnte die evidenzbasierte Medizin einpacken.  Dr. Joseph Kuhn
 

„Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen“, schreibt der Gesundheitswissenschaftler Dr. Joseph Kuhn auf Science Blogs . „Wenn diese Argumentation juristisch durchginge, würden sich nicht nur geschäftstüchtige Astrologen und Geistheiler freuen, dann könnte die evidenzbasierte Medizin einpacken, weil sie immer wieder die Geschäfte der Pharmariesen schädigt. Bücher wie die von Peter Gøtzsche oder Ben Goldacre über die Pharmaindustrie dürften nicht mehr erscheinen.“

„Uns ist klar, dass das Arzneimittelgesetz auch aus dem besten Grund nicht einfach geändert werden kann“, erklärt Grams. „Insofern haben wir keine unmittelbare Reaktion erwartet. Wir werden allerdings dranbleiben, so dass sich langfristig politisch hier Änderungen ergeben, die auch mit dem Europa-Recht vereinbar sind.“ Sie erinnert dabei an Spanien und Frankreich: „Dort wird die Homöopathie ähnlich kritisch und sehr politisch diskutiert.“

DZVhÄ verweist auf die Homöopathie-Deklaration

Ob und in welcher Form auf den offenen Brief reagiert werden soll, werde derzeit noch beraten, teilt Björn Bendig, Sprecher des DZVhÄ, auf Nachfrage mit. Bendig verweist die Mitte Februar erschienene „Homöopathie-Deklaration 2019“. Diese betont, dass die Homöopathie über „nachgewiesene Evidenz“ verfüge. Verfasst wurde sie von Prof. Dr. Peter Matthiessen, dem ehemaligen Vorsitzenden des Sprecherkreises des „Dialogforums Pluralismus in der Medizin“ (DPM).

Unterstützt wird die Deklaration unter anderem von der Hufeland-Gesellschaft (Dachverband der Ärztegesellschaft für Naturheilkunde und Komplementärmedizin), der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Homöopathie, dem DZVhÄ, der Gesellschaft anthroposophischer Ärzte in Deutschland, der Deutschen Ärztegesellschaft für Akupunktur, dem Privatärztlichen Bundesverband sowie dem Bürger- und Patientenverband Gesundheit Aktiv.

Aufgrund dieser Evidenz sei der Homöopathie – auch im Sinne eines Pluralismus in der Medizin – ein Platz in der wissenschaftlichen Medizin zuzusprechen, heißt es in der Deklaration. Matthiessen wirbt für ein „kritisches, aber unvoreingenommenes Kooperationsgefüge zwischen Mainstream-Medizin und ausgewählten komplementär-medizinischen Ansätzen“.

Therapeutische Wirksamkeit nicht nachgewiesen

„Man kann seinen Kritikern sicher Ignoranz oder bewusste Stimmungsmache vorwerfen und ihnen fehlende Seriosität unterstellen, indem sie eine angebliche reale Datenlage unterdrücken. Nur sollte man dies dann auch untermauern können, sonst wirkt so etwas eher wie das Pfeifen im nächtlichen Wald, eher darauf abzielend, sich selbst und seinen Anhängern Mut zu machen, anstatt den Leser von der Stichhaltigkeit der Argumentation zu überzeugen“, schreibt das INH in seiner Stellungnahme zur „Homöopathie-Deklaration 2019“.

Wäre die Homöopathie eine über Placebo hinaus wirksame Therapie, heißt es weiter, und damit der konventionellen Medizin ebenbürtig oder überlegen, könne man doch die unzweideutige Evidenz präsentieren. Darauf könne die Deklaration aber nicht verweisen – „weil solche Belege nicht existieren“.

Eine akribische Analyse der publizierten Evidenz habe in den nunmehr 10 vorliegenden systematischen Reviews eben nicht ergeben, dass die therapeutische Wirksamkeit durch qualitativ hochwertige Studien wohlbegründet sei – auch, wenn das in der Deklaration immer wieder beschworen werde.

Das INH verweist darauf, dass selbst Forscher wie Robert T. Mathie vom englischen Homeopathy Research Institute, der der Homöopathie nahestehe, von den bislang 118 untersuchten klinischen Studien ganze 2 nenne, die als „low risk of bias“, also als hochwertig eingestuft werden könnten.

70 Prozent der Krankenkassen bieten Sondertarife „Homöopathie“ an

Gleichwohl ist die Homöopathie beliebt: Laut Bundesverband Patienten für Homöopathie (BPH) bieten inzwischen fast 70% der Krankenkassen zuzahlungsfreie Sondertarife „Homöopathie“ für ihre Versicherten an. Danach haben von 110 Krankenkassen 66 Verträge mit dem Verband abgeschlossen (Stand Dezember 2018), darunter auch die Techniker Krankenkasse und die Barmer. 55 Kassen übernehmen auch die Kosten für homöopathische Arzneimittel – allerdings in unterschiedlicher Höhe.

Wollen Patienten homöopathische Leistungen in Anspruch nehmen, müssen sie bei einer teilnehmenden Krankenkasse versichert sein, und ein Vertragsarzt, der über das Homöopathie-Diplom des DZVhÄ verfügt und an den Verträgen teilnimmt, muss die Therapie vornehmen.

7.000 Ärzte in Deutschland verschreiben Globuli. Neben Überzeugung spielen dabei eventuell auch finanzielle Aspekte eine Rolle. „Ein kassenärztlich behandelnder Arzt bekommt pro Quartal eine Quartalspauschale von 30 Euro pro Patient. Ein homöopathisch tätiger Arzt, der einem Selektivvertrag beigetreten ist, kann für die Anamnese bis zu 90 Euro abrechnen“, erklärt Dr. Christian Lübbers in einem im Neo Magazin Royale gezeigten Interview. In Summe könne ein Arzt deutlich mehr verdienen, wenn er homöopathisch behandelt, als wenn er kassenärztlich behandelt, so Lübbers.

Wissenschaft kann man nicht verklagen

„Wissenschaftliche Fakten können nicht per Anwaltsbrief geklärt oder vor Gericht ausverhandelt werden. Sie sind, wie sie sind – ob sie uns, einer Firma oder einer politischen Partei passen oder nicht, spielt keine Rolle“, kommentiert der Physiker und Wissenschaftspublizist Florian Aigner den Versuch, über Abmahnungen Homöopathie-Kritiker zum Schweigen zu bringen, im österreichischen Nachrichten-Internetportal Futurezone.

 
In einer Zeit der alternativen Fakten brauchen wir mehr Wissenschaft in der öffentlichen Diskussion, nicht weniger. Florian Aigner
 

„Für alle wissenschaftlich-rational denkenden Menschen ist diese Geschichte jedenfalls ein Warnsignal. In einer Zeit der alternativen Fakten brauchen wir mehr Wissenschaft in der öffentlichen Diskussion, nicht weniger. Was wahr ist, muss man sagen dürfen – egal, wem es passt oder nicht. Wir dürfen die Wissenschaft und ihre Ergebnisse nicht zurückdrängen lassen. Nicht von der Politik, nicht von Wirtschaftsunternehmen und nicht von Anwaltsbriefen“, bilanziert Aigner.

Sind die Abmahnungen eine Reaktion auf rückläufige Verkaufszahlen?

Womöglich sind die Abmahnungen aber auch eine Reaktion auf die Entwicklung der Umsatzzahlen. Zwar berichtete der DZVhÄ im vergangenen Oktober: „Der Absatz und Umsatz mit homöopathischen Arzneimitteln ist im ersten Halbjahr 2018 gestiegen.“ Im Vergleich zu 2017 habe der Umsatz um 5% gesteigert werden können, so der DZVhÄ unter Berufung auf Zahlen des Pharma-Marktforschungsunternehmens IQVIA.

Doch die Rechnung stimmt wohl nur bedingt, denn laut IQVIA lassen sich die Zahlen für 2017 und 2018 nicht vergleichen, wie Hinnerk Feldwisch-Drentrup in einem Artikel auf MedWatch zeigt. Das Marktforschungsinstitut hat 2018 die Datenbasis „homöopathischer“ Mittel im Vergleich zu 2017 erweitert. Deshalb ergebe der Vergleich mit dem Vorjahr nicht die tatsächliche Marktveränderung, so eine Sprecherin gegenüber MedWatch.

 
Wir denken, dass die anhaltende kritische Stimme und Aufklärung über Homöopathie langsam zu einem Umdenken bei vielen Menschen führen. Dr. Natalie Grams
 

Nach IQVIA-Schätzungen fiel die Zahl verkaufter Mittel im „niedrig einstelligen Bereich“. Wohl aufgrund gestiegener Listenpreise oder aufgrund vermehrter Verkäufe höherpreisiger Präparate machten die Hersteller jedoch etwas mehr Umsatz: Dieser stieg im niedrig einstelligen Bereich (nach neuer Schätzung und ohne Berücksichtigung möglicher Rabatte) auf nun rund 780 Millionen Euro an. Schon 2017 wurden in Deutschland weniger Homöopathika verkauft, der Absatz fiel laut IQVIA-Schätzungen im Vergleich zu 2016 um rund 4%.

„Wir denken, dass die anhaltende kritische Stimme und Aufklärung über Homöopathie langsam zu einem Umdenken bei vielen Menschen führen, nicht zuletzt haben wir dies durch viele Reaktionen auf den juristischen Schritt von Hevert bemerkt“, sagt Grams. „Zudem gehen die Absatzzahlen erstmals seit vielen Jahren leicht zurück. Und das macht uns Hoffnung, dass wir mit unserer Aufklärung die Menschen erreichen.“ Sie fügt hinzu: „Natürlich ist es jedem weiterhin freigestellt, Homöopathie zu erwerben. Wir finden es aber gut, wenn dies in Kenntnis des wahren (Nicht-)Potenzials und des tatsächlichen Wissensstandes über die vermeintlich alternative Heilmethode geschieht.“

 

Kommentar

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