
Dr. Stefanie Schroeder
„Abnehmen beginnt im Kopf“ – an dem bekannten Spruch ist einiges dran: Denn Gedanken, Gefühle und Persönlichkeitsmerkmale können das Körpergewicht beeinflussen. Ein zu hohes Gewicht gehe natürlich vor allem auf ein Ungleichgewicht zwischen Energieaufnahme und Energieverbrauch zurück, erklärt Dr. Stefanie Schroeder, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Bamberg.
Aber: „Viele Faktoren spielen eine Rolle dabei, wie gut man sein Gewicht kontrollieren kann. Das sind genetische und biologische Faktoren, Umwelteinflüsse – also beispielsweise die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, ihre Schmackhaftigkeit – und eben auch psychologische Faktoren“, so Schroeder im Gespräch mit Medscape.
Selbstkontrolle, Motivation und auch der Umgang mit emotionalen Belastungen haben einen Einfluss auf die Gewichtskontrolle und auch darauf, ob Abnehmen gelingt. „Ob es beispielsweise gelingt keine Schokolade zu essen, wenn man sich schlecht fühlt, hängt auch davon ab, wie gut man mit unangenehmen Gefühlen und unangenehmen Situationen umgehen kann, Stichwort ‚Frust-Essen‘. Essen wird eben auch zum Abbau innerer Spannungen genutzt.“
„Allerdings sind die psychologischen Faktoren nur ein Teil des Prozesses. Es handelt sich um ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren – den psychologischen, biologischen und genetischen und auch Einflüssen der Umwelt“, erklärt Schroeder.
Gewissenhaftigkeit schützt vor Gewichtsschwankungen
Dr. Angelina Sutin vom US-amerikanischen National Institute of Aging in Baltimore und Kollegen haben 2011 in einer Langzeitstudie über 5 Jahrzehnte lang 1.900 Probanden verfolgt und so festgestellt, dass auch spezifische Persönlichkeitsmerkmale eine Rolle dabei spielen, ob man zunimmt, sein Gewicht eher halten kann oder beim Abnehmen Erfolg hat.
Die Forscher erfassten dazu die Big 5 – die 5 Hauptdimensionen der Persönlichkeit – ihrer Probanden. Darunter versteht man relativ überdauernde Verhaltenstendenzen, also die Bereitschaft bzw. Wahrscheinlichkeit sich in ähnlichen Situationen ähnlich zu verhalten.
Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass Gewissenhaftigkeit am besten vor Gewichtszunahme und Gewichtsschwankungen schützt. Neurotizismus ist dagegen offenbar ein Risikofaktor. Wer sich schnell schlecht fühlt und dazu impulsiv handelt, kann Essen schnell als Tröster einsetzen oder als Mittel, sich von bedrückenden Gedanken abzulenken. Neurotizismus spielt deshalb auch beim Rauchen, Drogenkonsum und zu wenig körperlicher Aktivität eine Rolle.
Im Nachteil waren auch diejenigen, die ihre Impulse nicht gut unter Kontrolle hatten: Die Impulsivsten unter den Teilnehmern wogen am Ende im Schnitt 11 kg mehr als die Teilnehmer, die die geringsten Werte beim Merkmal Impulsivität aufwiesen.
Dass der Persönlichkeitsfaktor Neurotizismus das Risiko erhöht, zu viel an Gewicht zuzulegen, hatten 2014 auch die Ergebnisse eines Reviews von Prof. Dr. Stephan Herpertz und Dr. Gabriele Gerlach vom Universitätsklinikum Bochum und von Prof. Dr. Sabine Steins-Löber, Universität Bamberg, bestätigt.
70 Studien wurden darin systematisch bewertet: „Neurotizismus zeigte sich dabei als Risikofaktor für Übergewicht und Adipositas. Und es hat sich auch gezeigt, dass Gewissenhaftigkeit schützend wirkt. Neurotizismus hingegen scheint zudem negativ mit der Selbstkontrolle zu korrelieren“, so Schroeder.
Eine Person mit stark ausgeprägtem Neurotizismus reagiere in stressigen Situationen wahrscheinlich häufig eher überfordert und belastet. Eine Person mit hoher Gewissenhaftigkeit dagegen werde sich in derselben Situation wahrscheinlich eher organisiert und überlegt verhalten. Doch bei beiden Typen liege keine Störung vor; sondern sie haben nur eine andere Art mit Anforderungen umzugehen, stellt Schroeder klar.
Techniken zur Selbst- und Emotionskontrolle erlernen
Dass psychologische Faktoren eine wichtige Rolle spielen, heißt nicht, dass eine Psychotherapie notwendig ist. „Notwendig ist eine genaue Diagnostik. Leidet die Person beispielsweise an einer Depression, die ja mit sozialem Rückzug und Antriebsarmut assoziiert ist, und die deshalb dazu führen kann, dass sich ein Betroffener zu wenig bewegt, dann ist eine Psychotherapie angezeigt.“
Häufig liegt aber einer Adipositas keine psychische Erkrankung zugrunde, dann ist keine klassische Psychotherapie notwendig, sondern eine Modifikation bestimmter Verhaltensweisen, bei der beispielsweise Selbstkontroll-Techniken oder Techniken der Emotionsregulation hilfreich sein können.
Entsprechend empfiehlt die S3-Leitlinie zur „Prävention und Therapie der Adipositas“ verhaltenstherapeutische Interventionen im Einzel- oder Gruppensetting als Bestandteil eines Programms zur Gewichtsreduktion. „Gerade bei Verhaltensmodifikationen ist es sinnvoll, diese zunächst unter Anleitung – einzeln oder in der Gruppe – einzuüben und dann zunehmend selbstständig in den eigenen Alltag zu integrieren“, so Schroeder.
Techniken zur Verhaltensmodifikation zielen auf eine Stärkung der Selbstkontrolle ab. Viele Anbieter von Abnehm-Programmen berücksichtigen solche Techniken, bestätigt Schroeder. Allerdings, so kritisieren auch die Autoren der S3 Leitlinie, sind nur wenige dieser Abnehm-Programme ausreichend wissenschaftlich evaluiert.
„Es gibt sowohl Unterschiede im Ausmaß, in dem Techniken zur Verhaltensmodifikation in den einzelnen Programmen berücksichtigt werden, als auch Unterschiede im Hinblick auf die wissenschaftliche Fundiertheit der Programme. Das heißt: es besteht in jedem Fall Verbesserungsbedarf“, sagt Schroeder.
Verhaltensbasierte Interventionen haben sich bezüglich Gewichtsverlust und Ausmaß der erneuten Gewichtszunahme nach einem Gewichtsverlust als wirksam erwiesen. Das zeigen die Ergebnisse eines 2018 erschienenen Reviews, der 122 RCTs und 2 Beobachtungsstudien mit insgesamt 272.526 Patienten ausgewertet hat.
Im Vergleich zu Probanden, die an keinen verhaltensbasierten Interventionen teilgenommen hatten, zeigten die Teilnehmer der Interventionsgruppe nach 12 bis 18 Monaten einen höheren mittleren Gewichtsverlust (-2,39 kg; 95%-KI: -2,86 bis -1,93) und eine geringere Gewichtszunahme (-1,59 kg; 95%-KI: -2,38 bis -0,79).
Dass sich bei Ess-und Gewichtsstörungen kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen bewährt haben, bestätigt auch Steins-Löber, Lehrstuhlinhaberin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bamberg. „Dabei werden individuelle Faktoren, die an der Entstehung und Aufrechterhaltung problematischer Verhaltensmuster beteiligt sind, berücksichtigt und ein persönlicher Behandlungsplan entwickelt“, erklärt Steins-Löber in einer Mitteilung der Universität.
Stigmatisierung ist bei Menschen mit Adipositas ein häufiges Problem, bestätigt Schroeder. Durch die Stigmatisierung werden z.B. Menschen mit Übergewicht oder Adipositas negative Charaktereigenschaften zugeschrieben, etwa „willensschwach“ zu sein.
„Von der Stigmatisierung abgesehen, die die Betroffenen verletzt und ihnen schadet, entspricht eine solche Zuschreibung auch nicht dem Stand der Forschung. Der zeigt, dass bei der Entstehung einer Adipositas verschiedene, komplexe Prozesse eine Rolle spielen“, erklärt Schroeder.
„Es ist deshalb wichtig, sachlich aufzuklären, gerade auch über die psychologischen Faktoren. Und man muss auch verdeutlichen, dass Adipositas eben keine psychische Erkrankung ist, sondern eine Erkrankung, bei der psychische Faktoren – wie bei vielen anderen Erkrankungen eben auch – eine gewisse Rolle spielen“, betont Schroeder. Gelinge es, mehr Verständnis für die Erkrankung zu schaffen, ließen sich auch die Prozesse, die dazu führen, besser verändern.
Medscape Nachrichten © 2019 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Abnehmen beginnt im Kopf – wie Persönlichkeitsmerkmale das Körpergewicht beeinflussen - Medscape - 24. Jun 2019.
Kommentar