70 Prozent der Schüler haben regelmäßig Kopfweh – meist nicht diagnostiziert, kritisiert Prof. Dr. Hans-Christoph Diener. Plus: Dopamin nach Schlaganfall enttäuscht, aber Migräne-Newcomer erfolgreich.
Transkript des Videos von Prof. Dr. Hans-Christoph Diener
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich bin Christoph Diener von der medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen. Und ich berichte über 4 Studien, die im Juni 2019 publiziert wurden. Der Juni war nicht besonders produktiv, was die Wissenschaft anbelangt.
Lassen Sie mich mit dem aufregendsten Teil dieser neuen Studien beginnen: eine Studie, die sich mit der Huntington´schen Erkrankung beschäftigt. Sie alle wissen, das ist eine autosomal-dominant vererbte Erkrankung. Der Gendefekt ist bekannt. Es kommt zu einem CAG-Repeat (einem Trinukleotid-Repeat). Und je länger dieser Repeat ist, desto mehr pathologisches Protein wird produziert., ein verändertes Huntingtin. Dieses wird in Nervenzellen abgelagert und zerstört sie.
Es wurde jetzt ein Antisense-Oligonukleotid entwickelt, das zumindest in Tierexperimenten die Produktion des mutierten Huntingtins reduzieren kann. Es wurde jetzt die erste Sicherheits- und Dosisfindungsstudie mit Patienten mit Huntington´scher Erkrankung durchgeführt. Diese Patienten erhielten entweder das Medikament in verschiedenen Dosierungen intrathekal alle 4 Wochen oder Placebo. Die Behandlung erstreckte sich über 4 Zyklen.
Die gute Nachricht am Anfang: keinerlei Sicherheitsprobleme. Die zweite Nachricht: Die Konzentration von mutiertem Huntingtin im Liquor nahm dosisabhängig ab. Nun, die Studie war viel zu kurz, und die Patientenzahl war viel zu klein, um zu zeigen, dass es einen klinischen Effekt gibt. Das wird jetzt in einer großen Phase-3-Studie untersucht.
Die zweite Studie ist in Lancet Neurology publiziert. Sie beschäftigt sich mit der Plastizität des Gehirns nach einem Schlaganfall. Es gab eine Reihe kleinerer Studien, die unterstellten, dass die Substitution von Dopamin die Regeneration nach einem Schlaganfall verbessern kann – und auch die Wirkung von Krankengymnastik und Ergotherapie verbessern kann.
Das wurde jetzt in einer großen Studie in England nochmals untersucht mit 593 Patienten, die über einen Zeitraum von 6 Wochen entweder L-Dopa plus Carbidopa erhielten oder Placebo. Leider war die Studie für alle primären und sekundären Endpunkte negativ, auch für die Mortalität. Im Gegensatz zu den kleinen Studien hat die große, placebokontrollierte Studie also keinen Effekt gezeigt.
Nun noch 2 Studien zur Migräne, die erste wurde in Brain publiziert. Lasmiditan ist ein Serotonin-HT1F-Rezeptoragonist und hat damit einen anderen Wirkungsmechanismus als Triptane. Die Substanz ist nicht vasokonstruktiv wirksam.
Sie wurde jetzt in verschiedenen Dosierungen bei 3.000 Patienten, die eine akute Migräneattacke behandelten, im Vergleich zu Placebo untersucht. Der primäre Endpunkt war Schmerzfreiheit nach 2 Stunden und die Abwesenheit des am meisten beeinträchtigenden Symptoms, in dem Fall die Photophobie.
Die Patienten waren im Mittel 42 Jahre alt. Es handelte sich wie immer fast ausschließlich um Frauen. Für die höchste Dosis waren nach 2 Stunden 39% der Patienten schmerzfrei im Vergleich zu 21% mit Placebo. Die Wirkung war eindeutig dosisabhängig.
Die Substanz geht ins Gehirn. Das weiß man deswegen, weil es Nebenwirkungen gibt, nämlich Schwindel, Parästhesien, Müdigkeit, Übelkeit und Muskelschwäche. Diese waren bei machen Patienten schon ausgeprägt. Wichtig ist aber, dass es keinerlei vaskuläre Nebenwirkungen gab.
Nun, das repliziert eine Studie, die bereits vor einem halben Jahr in Neurology publiziert worden ist. Diese Studie hatte 1.856 Patienten und hat auch die Wirksamkeit von Lasmiditan belegt.
Was mich ärgert, ist, dass man nicht versucht hat, eine aktive Vergleichsgruppe, beispielsweise Sumatriptan, mitzuführen. Dann wüssten wir nämlich: a) Wie wirkt die Substanz im Vergleich zu einem Triptan. Und b) – was wir auch nicht wissen – wirkt die Substanz bei Patienten, die auf ein Triptan nicht ansprechen? Deshalb sind im Moment die einzige Zielgruppe Patienten, die wegen vaskulärer Erkrankungen kein Triptan nehmen können.
Die letzte Studie aus Deutschland ist in Cephalalgia publiziert worden: eine epidemiologische Studie mit 2.700 Schülerinnen und Schülern im Alter zwischen 6 und 18 Jahren. Untersucht wurde die Prävalenz von Kopfschmerzen. 37% der Kinder haben mindestens an einem Tag pro Monat Kopfschmerzen; 31% an 2 oder mehr Tagen. Die meisten Kinder nehmen Ibuprofen oder Paracetamol.
Wirklich frustrierend ist, dass beim Löwenanteil dieser Kinder keine Diagnose gestellt wurde.
Die Autoren haben auch untersucht, ob es Prädiktoren für Kopfschmerzen gibt. Sie haben gefunden, was man als Risikofaktoren auch vermuten würde: 1. ein zunehmendes Alter, 2. die Einnahme von Analgetika, 3. Koffein-Konsum – und 4. am wichtigsten die körperliche Inaktivität.
Was wir aus diesen epidemiologischen Studien lernen: Bei Kindern und Jugendlichen kommt es nicht darauf an, Medikamente zu geben. Es kommt darauf an, diese Kinder vernünftig zu instruieren, dass regelmäßige körperliche Betätigung und die Restriktion der Zeit vor einem Bildschirm, ob nun iPhone, iPad, Computer oder Fernseher, einen positiven Effekt auf die Kopfschmerzen hat.
Meine Damen und Herren, 4 Studien aus dem Juni 2019 aus der Neurologie. Ich bin Christoph Diener von der Fakultät für Medizin an der Universität Duisburg-Essen und bedanke mich für das Zuschauen und Zuhören.
Medscape © 2019
Diesen Artikel so zitieren: Neuro-Talk: Neues Migräne-Präparat, Hoffnung bei Huntington und ein Mittel gegen die Kopfweh-Epidemie bei Schülern - Medscape - 22. Jul 2019.
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