Ein Bericht vom „Chemo-Boy“ und was am Ende wirklich zählt – Onkologen wollen mehr auf die Patienten hören

Zosia Chustecka

Interessenkonflikte

13. Juni 2019

Dr. Monica Bertagnolli

Chicago – Im Mittelpunkt des Jahreskongresses der American Society of Clinical Oncology (ASCO) 2019 stand unter anderem ein junger Assistenzarzt aus der Onkologie. Die Präsidentin der Gesellschaft, Dr. Monica Bertagnolli, stellte ihn bei der Eröffnungsfeier der versammelten Zuhörerschaft vor.

„Die Geschichte, die er Ihnen zu erzählen hat, spiegelt unser diesjähriges Tagungsthema anschaulich wider: Für jeden Patienten sorgen, von jedem Patienten lernen“, erläuterte sie. Es zeige zudem noch einmal, wie wichtig es sei, zu wissen, was eigentlich für den Patienten bedeutsam ist.

Dr. Edmond Ang

„Ich fühle mich sehr geehrt, diese Eröffnungssitzung hier unter den vielen onkologischen Koryphäen mit einer ganz einfachen, kleinen Geschichte beginnen zu dürfen“, sagte Dr. Edmond Ang, Stipendiat im Bereich Brustkrebs und klinische Frühphasen-Forschung am Auckland City Hospital in Neuseeland.

Erfahrungen als „Chemoboy“ auf Borneo

„Die Geschichte ereignete sich vor etwa 10 Jahren. Ich sehe mich noch am Bett dieser Patientin stehen, alle Augen auf mich gerichtet. Ich hatte Angst und schämte mich fürchterlich“, sagte er.

„Ich war damals seit gerade einmal fünf Monaten Assistenzarzt auf einer gynäkologischen Onkologiestation in einer malaysischen Klinik auf Borneo“, erinnert er sich. „Die Hoffnungen und der Idealismus eines jungen Arztes waren angesichts der zahllosen Arbeitsstunden und der hohen Belastung schon bald verflogen.“

„Ich war damals ‚Chemoboy‘, eine Funktion, die es in westlichen Kliniken so nicht gibt. Zu meinen Aufgaben gehörte die umfassende Verantwortung für die Betreuung von Patienten, die sich einer Chemotherapie unterzogen“, erklärte er. „Mein Oberarzt unterzeichnete die Rezepte, die ich dann zur Apotheke brachte, wo das Medikament zubereitet wurde. In der Zwischenzeit untersuchte ich die Patienten, ließ ihr Blut überprüfen, legte den Zugang und holte dann das Medikament ab. Dann verabreichte ich die Prämedikationen und schließlich die Chemotherapeutika, wobei mir auch die Behandlung aller aufkommenden Komplikationen oblag.“

„An den Wochenenden gab es keine Apothekenbereitschaft, sodass wir Assistenzärzte nach kurzer Anleitung einige der Grundstoffe selbst herstellen mussten. Außerdem standen uns keine Infusionspumpen zur Verfügung, sodass wir viel Übung darin hatten, die Durchflussraten für die Chemotherapie selbst zu berechnen“, berichtete er. Der Stress wurde dann noch mal dadurch verstärkt, dass uns ein ziemlich strenger Oberarzt, der bekanntermaßen den jungen Assistenzärzten nicht sonderlich zugetan war, ständig beäugte.“

„Eines Morgens hatte ich alle Aufgaben erledigt und glaubte auch, alles gut und richtig gemacht zu haben“, fuhr Ang fort, „doch ich wurde vom Oberarzt vor versammelter Mannschaft heruntergeputzt. Was war passiert? Die Chemotherapie der Patientin, die über 4 Stunden infundiert werden sollte, war in einer Stunde durchgerauscht. Ich war völlig irritiert, weil ich mir sicher gewesen war, richtig gerechnet zu haben.“

„Ich war am Boden zerstört und wünschte mir, ein Riesenloch hätte sich aufgetan und mich einfach verschlungen. Aber: Als der Visitentross weitergezogen war, zog die Patientin mich zu sich heran und sagte: ‚Es tut mir wirklich leid, Doktor, aber als Sie heute Morgen den Raum verlassen hatten, habe ich die Infusion selbst hochgestellt.‘“

„Sie müssen das verstehen“, erklärte sie, „ich liege hier seit 2 Wochen. Aber ich habe eine junge Familie in meinem Dorf und ich muss unbedingt nach Hause.“ Dann fügte sie noch hinzu, dass die Heimreise durch den tropischen Regenwald Borneos und über einen Fluss führe und mindestens 6 Stunden dauern würde.

„Ich nahm ihre Hand und sagte: Es ist okay. Lassen Sie uns nachsehen, ob Sie alles vertragen haben und ich werde mein Bestes tun, damit Sie so schnell wie möglich nach Hause gehen können, aber bitte, tun Sie das nie wieder!“

„Es ist jetzt 10 Jahre her, dass ich der ‚Chemoboy‘ war. Aber lassen Sie mich bitte dennoch ein paar hochaktuelle Gedanken äußern: Zunächst möchte ich mich bei unseren besten Lehrern bedanken – unseren Patienten. Denn unsere berufliche Laufbahn besteht nicht nur aus dem Abschluss oder der Anzahl unserer Publikationen. Ich denke, dass der Kern unseres Berufslebens die menschlichen Begegnungen mit unseren Patienten sind“, sagte er, und: „Ich bin das Produkt hunderter Geschichten wie dieser, die einst dem ‚Chemoboy‘ passierte. Sie alle beeinflussen die Art, wie ich meinen Beruf ausübe, und lassen mich zu einem besseren Arzt werden.“

Was für Patienten wichtig ist

Dieses Thema wurde auf der Eröffnungsfeier auch von dem Gastredner Dr. Atul Gawande aufgegriffen, Chirurg am Bostoner Brigham and Women's Hospital und Bestsellerautor, der u.a. das Buch „Sterblich sein: Was am Ende wirklich zählt. – Über Würde, Autonomie und eine angemessene medizinische Versorgung“ geschrieben hat.

Gawande sprach über den für viele Onkologen schwierigen Moment, wenn ein Krebspatient nicht mehr auf die Therapie anspricht und es darum geht, was als Nächstes zu tun ist. Dabei betonte er die Rolle der Palliativmedizin. Eine Palliativschwester, die er eine Weile begleitet hatte, erklärt ihm das Ziel: „Es geht darum, mithilfe der Medizin dem Patienten heute den bestmöglichen Tag zu bereiten, ohne sich zu sehr um das Morgen oder die Zukunft zu sorgen.“

Das könne natürlich für jeden Patienten etwas anderes bedeuten, betonte er. Ein Patient sagte einst zu ihm: „Ich bin zufrieden, solange ich Schokoladeneis essen und im Fernsehen Fußball schauen kann. Aber wenn das nicht mehr drin ist, dann lassen Sie mich bitte gehen.“

 
Es geht darum, mithilfe der Medizin dem Patienten heute den bestmöglichen Tag zu bereiten, ohne sich zu sehr um das Morgen oder die Zukunft zu sorgen. Dr. Atul Gawande
 

Er berichtete auch von einer Krebspatientin, die früher die Klavierlehrerin seiner Tochter war. Sie hatte einen Punkt erreicht, an dem es keine therapeutischen Möglichkeiten mehr gab. Als sich die Frage nach der Teilnahme an einer klinischen Studie mit einer experimentellen Therapie stellte, entschied sie, sich in der vertrauten häuslichen Umgebung palliativmedizinisch versorgen zu lassen, wodurch sie weitere 6 Wochen Klavierunterricht geben konnte. Sie hatte keine eigenen Kinder und stets eine enge Bindung zu ihren Schülern gesucht und genossen.

Eine Kombination aus Morphium, Gabapentin und Ritalin erlaubte es ihr, den Schmerz zu kontrollieren und dennoch funktionsfähig zu bleiben. Sie unterrichtete weiter und gab noch 2 Klavierabende. Gawande zeigte ein Foto der Patientin am Klavier stehend, mit stolzem Blick auf ihre Schüler.

Das sei es, was die Palliativmedizin zu leisten vermag, sagte er. Wenn man aufmerksam dem Patienten zuhöre und ihn nach dem frage, was ihm wichtig ist, was seine Prioritäten sind, könne man die Medizin einsetzen, um diese Ziele zu erreichen und so wieder „ein lebenswertes Leben“ ermöglichen – und sei es auch nur für kurze Zeit.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert

 

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