In den Startlöchern: Erster GLP-1-Agonist als Tablette besteht umfassenden Studientest – schwächelt aber in einem Punkt
San Francisco – GLP-1-Rezeptor-Agonismus (RA) geht demnächst auch per Tablette. Beim Kongress der American Diabetes Association (ADA) hat das Unternehmen Novo Nordisk eine ganze Palette von klinischen Studien – das PIONEER-Programm – mit seiner neuen oralen Darreichungsform des GLP-1-RA Semaglutid vorgestellt [1].
Angefangen vom Wirksamkeitsnachweis versus Placebo, über die Dosisfindung und den Vergleich zu diversen anderen Antidiabetika sowie die Sicherheitsdaten bis hin zur fertigen kardiovaskulären Endpunktstudie (PIONEER-6) war alles geboten – und wurde in einer Marathon-Sitzung am letzten Kongresstag präsentiert. Doch mischte sich in die Euphorie über die Innovation dabei auch etwas Enttäuschung: Beim Nachweis eines kardiovaskulären Schutzes der damit behandelten Typ-2-Diabetiker schwächelt die neue Zubereitung und kann mit den Daten zur injizierbaren Form nicht mithalten.
Was jetzt noch fehlt, ist eigentlich nur die Zulassung. Sie ist nach Unternehmensangaben bereits im April sowohl bei der EMA als auch der FDA beantragt worden.
Semaglutid als Tablette – senkt HbA1c und Gewicht
„Begeistert“ zeigte sich der Moderator der Sitzung, Prof. Dr. John B. Buse, University of North Carolina School of Medicine, Chapel Hill, in seiner Eröffnung, „nun den ersten oralen GLP-1-Agonisten mit einem kompletten Phase-3-Studienprogramm vorstellen zu können. Wir hoffen alle, dass er bald verfügbar sein wird!“
Der Wirkstoff in der einmal täglich morgens vor dem Frühstück einzunehmenden Semaglutid-Tablette ist das gleiche Molekül wie bei der einmal wöchentlich zu injizierenden Form des GLP-1-RA, das unter dem Handelsnamen Ozempic® angeboten wird. Der Unterschied: Die Tablette enthält als Co-Formulierung ein kleines Fettsäure-Derivat (SNAC = Sodium N-(8-(2-Hydroxybenzoyl-)Amino) Caprylat), das die Semaglutid-Absorption durch das Magen-Darm-Epithel fördert, indem es den pH-Wert am Ort der Absorption erhöht und so die Löslichkeit von Semaglutid steigert und es gleichzeitig vor dem proteolytischen Abbau schützt.
Die Semaglutid-Tablette wurde in den Dosierungen 3, 7 und 14 mg getestet. Die höchste Dosis erwies sich als am wirksamsten und wird auch von der Mehrzahl der Patienten vertragen, berichtete Prof. Dr. Richard E. Pratley vom Florida Diabetes and Endocrine Center in Orlando, der beim Symposium einen Überblick über das PIONEER-Programm gab.
In den Studien, so seine Zusammenfassung, habe sich der orale GLP-1-Rezeptoragonist (RA)
in der HbA1c-Senkung als ebenso effektiv erwiesen wie das einmal täglich zu injizierende Liraglutid 1,8 mg und als stärker wirksam im Vergleich zum SGLT-2-Inhibitor Empagliflozin und dem DPP-4-Hemmer Sitagliptin;
bezüglich der Reduktion des Körpergewichts unter der Therapie war er besser als Sitagliptin, aber auch als Liraglutid, und ähnlich effektiv wie Empagliflozin.
Die Rate an unerwünschten Wirkungen insgesamt war nicht höher als unter den Vergleichssubstanzen,
schwere Hypoglykämien waren selten und
die Hauptnebenwirkungen waren – wie bei allen GLP-1-RA – gastrointestinaler Natur.
Nach dieser Vorstellung des neuen oralen Antidiabetikums allgemein, gehörte die Bühne des Symposiums dann den Ergebnissen der großen doppelblind randomisierten kardiovaskulären Endpunktstudie PIONEER 6 mit dem Wirkstoff, die zeitgleich zur Präsentation im New England Journal of Medicine veröffentlicht worden ist [2].
PIONEER-6: Fast 5 kg weniger Gewicht nach 16 Monaten
Insgesamt 3.188 Patienten mit Typ-2-Diabetes sind für die weltweite Studie randomisiert worden. Sie waren im Schnitt 66 Jahre alt, hatten einen HbA1c-Wert um die 8,2% bei Behandlung mit meist mehreren Antidiabetika (Metformin erhielten 75-80%, Insulin 60%, Sulfonylharmstoffe 33%, SGLT-2-Hemmer rund 10%). Es handelte sich um eine kardiovaskuläre Risikopopulation: Jeder 3. hatte schon einen Herzinfarkt hinter sich, jeder 7. einen Schlaganfall oder eine TIA. Viele hatten milde bis moderate Nierenfunktionseinschränkungen, der mittlere BMI lag über 32 kg/m².
Die Studienteilnehmer erhielten randomisiert und doppelblind additiv zu ihrer Basistherapie mit Antidiabetika entweder orales Semaglutid oder Placebo. In der Dosierung wurde bei rund 80% die Maximaldosis von 14 mg erreicht. Insgesamt waren aber die behandelnden Ärzte in der Studie angehalten, den Blutzucker bei allen Teilnehmern so weit möglich entsprechend der gültigen ADA-Leitlinien auf unter 7% zu senken. Denn zur besseren Vergleichbarkeit der Gruppen sollten sich diese im HbA1c-Wert möglichst wenig unterscheiden.
Dies gelang allerdings nicht wirklich: In der Gruppe, die die Semaglutid-Tabletten nahm, war der HbA1c-Wert um im Schnitt 0,7%-punkte niedriger – obwohl diese Patienten insgesamt weniger zusätzliche Antidiabetika hatten, berichtete Prof. Dr. Ofri Mosenzon, Leiterin des klinischen Diabetesforschungszentrums an der Hadassah Hebrew Universitätsklinik in Jerusalem, Israel, die ebenfalls Teil der PIONEER-6-Studiengruppe ist.
Auch in punkto Körpergewicht schnitten diejenigen, die Semaglutid-Tabletten nahmen, deutlich besser ab. Sie nahmen in den knapp 16 Monaten Beobachtungsdauer in der Studie im Schnitt 4,2 kg ab, in der Placebo-Gruppe waren es im Schnitt nur 0,8 kg. Außerdem nahm der systolische Blutdruck unter der Therapie leicht ab, die Herzfrequenz stieg leicht – beides Effekte, die von den injizierbaren GLP-1-RA her bekannt sind.
Bei den Risiken der Therapie wurde vor allem auf Retinopathien, Pankreatitis, Gallenblasenerkrankungen und neoplastische Veränderungen geachtet, berichtete Mosenzon – bei keiner dieser Erkrankungen fanden sich Signale für eine Risikoerhöhung.
Im primären Endpunkt reichte es nur zur „Nicht-Unterlegenheit“
Und der primäre kardiovaskuläre Studien-Endpunkt? Die Rate von Herzinfarkt, Schlaganfall oder kardiovaskulär bedingtem Tod – diese 3er-Kombination ist der vorgegebene Endpunkt aller großen kardiovaskulären Endpunktstudien mit Antidiabetika – war unter dem oralen Semaglutid um nicht signifikante 21% geringer als unter Placebo (HR: 0,79; 76 vs 61 Ereignisse), berichtete Studienleiter Prof. Dr. Mansoor Husain, Universität Toronto, Kanada.
Damit war das eigentliche Studienziel, die Nicht-Unterlegenheit nachzuweisen, zwar erreicht. Erhofft hatte man sich aber mehr: Immerhin hatte die wöchentlich zu injizierende Form von Semaglutid in der SUSTAIN-6-Studie im Vergleich zu Placebo Herzinfarkte und Schlaganfälle signifikant reduziert. Dies gelang mit der Tablettenform nun nicht – bei beiden Endpunkten zeigten sich keine Vorteile zugunsten des oralen GLP-1-RA.
Allerdings fand sich – aufgeschlüsselt nach den einzelnen Endpunkten – immerhin bei der kardiovaskulären Mortalität und der Gesamtmortalität ein Unterschied zugunsten des neuen Wirkstoffes, und die Differenz war auch nominell statistisch signifikant: Die Rate war jeweils unter Semaglutid nur etwa halb so hoch (HR: 0,49 und 0,51). Aber mit nur 30 versus 15 kardiovaskulären Todesfällen und 23 versus 45 Todesfällen insgesamt seien die Zahlen zu gering – und die Studie für solche Auswertungen auch nicht gepowert gewesen, warnte Husain vor einer Überinterpretation der Ergebnisse.
Zumindest geben die Resultate Sicherheit, betonte er. Dies gelte noch mehr, wenn man den primären Endpunkt noch um Hospitalisierungen wegen Herzinsuffizienz und instabiler Angina erweitere – auch dann schnitt die Semaglutid-Gruppe im Trend günstiger ab.
Wird es die zu spritzenden GLP-1-RA bald alle ersetzen?
Der als (kritischer) Kommentator eingeladene Prof. Dr. Vivian Fonseca, Leiter der Abteilung für Endokrinologie am Tulane University Medical Center, New Orleans, USA, fand dann im Anschluss an die Präsentationen auch wenig an den Studiendaten auszusetzen. Er zeigte sich ebenfalls von der Neuentwicklung angetan. Die orale Applikation könne der Verbreitung der Wirkstoffgruppe, die sich bekanntlich besonders günstig auf die Gewichtsentwicklung der meist deutlich übergewichtigen Typ-2-Diabetiker auswirkt, in der klinischen Praxis deutlichen Auftrieb geben, meinte er.
Die Tablette sei nach den präsentierten Daten – bei gleicher Wirksamkeit – eher verträglicher als die injizierbaren GLP-1-RA, zeigte sich Fonseca überzeugt.
Als Limitationen und Fragen, die noch bleiben, verwies er unter anderem auf die kurze Studiendauer von PIONEER-6 von nur knapp 16 Monaten. So blieben bei der Sicherheit noch einige Fragezeichen – auch wenn die bisherigen Daten gut aussähen. Wie berichtet, hatte in der SUSTAIN-6-Studie eine erhöhte Rate an Retinopathien unter der Injektionsbehandlung für einige Schlagzeilen und Diskussionen gesorgt.
Die Frage sei auch, so Fonseca, wie sich die Semaglutid-Tablettentherapie dann im Praxisalltag gestalte. Unbequem für die Patienten könne sein, dass es morgens etwa 30 Minuten vor der ersten Mahlzeit genommen werden müsse. „Werden sich die Patienten daran halten? Und – falls sie es nicht tun – wird dies die Wirksamkeit beeinflussen?“, fragte er.
Und weiter: „Wie sieht es mit Medikamenten-Wechselwirkungen aus? Wie mit den Kosten der Therapie?“ Und schließlich erinnerte er daran, dass Patienten mit fortgeschrittener Retinopathie aufgrund der SUSTAIN-6-Daten aus der PIONEER-6-Studie ausgeschlossen waren: „Sollen wir es in der Praxis genauso halten?“
Ohne Zweifel habe das neue Antidiabetikum großes Potenzial, sagte Fonseca. Aber: „Wir benötigen Daten zur Adhärenz im klinischen Alltag.“ Auch er zeigte sich unzufrieden, dass in PIONEER-6 keine signifikante Überlegenheit im primären kardiovaskulären Endpunkt gezeigt werden konnte: „Wir benötigen noch eine längere und stärker gepowerte Studie, so dass wir zeigen können, dass es auch langfristig in den kardiovaskulären Endpunkten gleichwertig zu anderen GLP-1-RA ist!“