Fibromyalgie – was sind Fakten, was „Fake News“? Experten geben Tipps zu Diagnose und Therapie

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

11. Juni 2019

Wiesbaden Um die Entstehung und Behandlung einer Fibromyalgie, aufgrund der Komplexität der Beschwerden auch als Fibromyalgie-Syndrom (FMS) bezeichnet, ranken sich offenbar immer noch allerlei Mythen. Um deren Aufklärung bemühten sich Spezialisten auf dem 125. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) in Wiesbaden [1].

Neue Klassifizierung in der ICD-11: Paradigmenwechsel

„Zu behaupten, es gebe die Pathophysiologie der Fibromyalgie, ist Fake News“, sagte Prof. Dr. Rolf-Detlef Treede, Lehrstuhl für Neurophysiologie am Centrum für Biomedizin und Medizintechnik Mannheim, zur Eröffnung des klinischen Symposiums zu „Fibromyalgie – Fakten, alternative Fakten und ‚fake News‘“: „Wir alle haben die Erkrankung noch nicht vollständig verstanden.“

Treede untersucht unter anderem die Psychophysik, Elektrophysiologie und funktionelle Bildgebung bei Patienten mit chronischen Schmerzen. Ziel sei eine Phänotypisierung von Patienten mit chronischen neuropathischen Schmerzen sowie eine Mechanismen-basierte Klassifikation von Schmerzpatienten, erklärte der Neurophysiologe, der in einer internationalen Arbeitsgruppe an der Neu-Klassifizierung der Fibromyalgie mitgearbeitet hat, die in die kürzlich von der WHO beschlossenen und erstmals digitalen Auflage der International Disease Classification (ICD-11) aufgenommen wurde.

2022 soll das neue Diagnostik-Manual in Kraft treten. In der ICD-10 war Schmerz zwar als Symptom, nicht jedoch als Erkrankung aufgeführt. „Es gibt einen großen Streit darüber, ob Schmerz nur ein Symptom oder eine eigenständige Krankheit ist“, erklärte Treede.

 
Zu behaupten, es gebe die Pathophysiologie der Fibromyalgie, ist Fake News. Prof. Dr. Rolf-Detlef Treede
 

Bei der Fibromyalgie, die zwar bereits seit 1996 von der WHO klassifiziert wird, bislang jedoch in die Kategorie der rheumatischen Erkrankungen sortiert war, sei der Schmerz aber die eigentliche Erkrankung. In der ICD-11 besteht nun eine eigene Kategorie „Chronische primäre Schmerzsyndrome“: So heißt ein Schmerzsyndrom, das länger als 3 Monate andauert oder im Laufe der 3 Monate ständig erneut auftritt.

Durch ein Defizit in der endogenen Schmerzkontrolle komme es beim FMS zu „chronic widespread pain“, chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen also. Durch diese Neu-Kategorisierung des FMS in die chronischen Schmerzsyndrome könnten Patienten rascher an einen Schmerztherapeuten überwiesen werden. „Wir erhoffen uns außerdem mehr Klarheit zur Klassifizierung der Schmerzen“, sagte Treede.

Es gebe weitere Kriterien der Erkrankung, so der Experte, die Fibromyalgie-Patienten von anderen Patienten mit chronischen Schmerz-Syndromen abgrenze: Viele von ihnen berichten über eine lokale Empfindlichkeit gegenüber äußeren Reizen. Das gilt nicht nur für Schmerzreize, sondern z.B. auch für Geräusche oder Gerüche.

Weitere Symptome, die Studien zufolge bei mehr als 75% der Fibromyalgie-Patienten auftreten: Müdigkeit, Muskelsteife und Schlafstörungen.

Häufig sind außerdem Komorbiditäten wie Depression, Ängstlichkeit oder Schlafstörungen.

Daher empfiehlt die S3-Leitlinie zum Fibromyalgie-Syndrom bei Patienten mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen und fehlenden Hinweisen auf internistische, orthopädische oder neurologische Erkrankungen ein Screening auf seelische Belastungen wie Angst oder Depression.

Diagnostik: „Jede Menge Fake News“

Noch immer haben viele Ärzte Schwierigkeiten, ein Fibromyalgie-Syndrom zu diagnostizieren, bemerkte Prof. Dr. Winfried Häuser, Klinikum Saarbrücken gGmbH, in seinem Vortrag zu Differenzialdiagnosen des chronischen Schmerzsyndroms. „Zudem existieren rund um das FMS jede Menge Fake News“, so die Einschätzung des Facharztes für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

„Einige Ärzte behaupten sogar immer noch, dass es die Erkrankung gar nicht gibt.“ Dabei existieren mittlerweile zahlreiche Leitlinien mit diagnostischen Kriterien der chronischen Schmerzerkrankung, die wörtlich übersetzt „Faser-Muskel-Schmerz“ bedeutet. „Das FMS ist in den meisten Fällen einfach zu diagnostizieren“, so der Experte für Schmerztherapie. Jedoch seien zahlreiche Irrtümer immer noch weit verbreitet.

Zu diesen Irrtümern gehören:

  • die Annahme, dass es sich bei der Diagnose des FMS ausschließlich um eine Ausschlussdiagnose handelt,

  • dass die Diagnose durch einen Rheumatologen gestellt werden muss,

  • dass es sich bei FMS um eine Frauenkrankheit handelt,

  • dass es keine Differenzialdiagnosen gibt.

All diese „Fake News“ können Experten, die sich mit der Erkrankung beschäftigen, heute entkräften, erklärte Häuser. Fakt sei, dass das FMS sowohl im ICD-10 als auch im ICD-11 der WHO gelistet sei und symptombasiert diagnostiziert werden könne.

 
Einige Ärzte behaupten sogar immer noch, dass es die Erkrankung gar nicht gibt. Prof. Dr. Winfried Häuser
 

Zahlreiche Ärzte, monierte er, diagnostizieren das Syndrom immer noch auf Basis der 1990 vom American College of Rheumatology (ACR) festgelegten Kriterien, nach denen zur Diagnose des FMS ein Druckschmerz-Empfinden in 11 von 18 Sehnenansatzpunkten („Tender Points“) vorliegen sollte.

In der Aktualisierung der ACR-Kriterien aus dem Jahr 2010 gehört das Abtasten der Tender Points nicht mehr zur positiven Bestätigung der Diagnose Fibromyalgie. „Zur Diagnose ist keine Tender-Point-Untersuchung notwendig“, betonte Häuser.

In den aktuellen deutschen Leitlinien zum FMS seien Kernsymptome als Positiv-Kriterien zum typischen Beschwerdebild enthalten:

  • chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen seit mehr als 3 Monaten,

  • körperliche und geistige Erschöpfung,

  • nicht erholsamer Schlaf,

  • Steifigkeitsgefühl der Hände oder Füße und

  • reduzierte körperliche und/oder geistige Leistungsfähigkeit.

Nach Angaben Häusers liefern weitere Hinweise in der Anamnese:

  • ähnliche chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen bei Familienmitgliedern,

  • Schmerzen im Bewegungsapparat, Kopf oder Bauch in der Kindheit oder Jugend,

  • hoher Leidensdruck,

  • eine Schmerzzunahme bei Massage und

  • eine erfolglose orthopädische Behandlung.

Immer häufiger bekämen Schmerzmediziner Patienten mit Verdacht auf Fibromyalgie von Orthopäden zugewiesen.

Auch bei der Annahme, das FMS sei eine reine Frauenkrankheit, handelt es sich laut Häuser um einen Mythos. Zwar befänden sich in klinischen Einrichtungen 8- bis 10-mal mehr Frauen als Männer mit einem FMS; jedoch betrage das Verhältnis Frauen:Männern in bevölkerungsbasierten Studien nur 1,5-2:1, betonte der Experte. Die Krankheit trete zudem auch bei Jugendlichen und Kindern auf.

Krankheitsbilder vermischen sich

Entgegen häufiger Behauptungen existieren zahlreiche Differenzialdiagnosen – Krankheitsbilder also, die das Bild des FMS mit „chronic widespread pain“ vollständig überlappen. Häuser zählte einige Differenzialdiagnosen auf:

  • systemisch-rheumatische Erkrankungen,

  • neurologische Erkrankungen,

  • Schilddrüsenerkrankungen,

  • Vitamin-D-Mangel,

  • bakterielle Infektionen wie Borreliose,

  • Statin-assoziierte Muskelsymptome (SAMS),

  • Hypophosphatasie, eine seltene Störung im Knochenstoffwechsel,

  • Morbus Fabry, eine lysosomale Speichelerkrankung, oder

  • Polyneuropathie.

Bei letzterem Beispiel trete durch Wärmebehandlung eine Verschlimmerung, beim FMS jedoch „fast immer“ eine Verbesserung ein, bemerkte Häusser.

„Fakt ist: Ein reines FMS ist selten“, bemerkte Häuser; allerhöchstens trete ein isoliertes FMS bei jungen Patienten um die 30 Jahre auf. Je älter der Patient, desto wahrscheinlicher seien Mischbilder. Häufig gehe ein FMS einher mit Arthrose, myofaszialen Schmerzen, entzündlich-rheumatischen Erkrankungen, anderen funktionellen Schmerzstörungen oder psychischen Störungen.

 
Zur Diagnose ist keine Tender-Point-Untersuchung notwendig. Prof. Dr. Winfried Häuser
 

Auch die Überlappung von posttraumatischen Belastungsstörungen mit dem FMS sei groß. „Das Problem ist, dass die Fibromyalgie-Komponente häufig übersehen wird“, sagte der Spezialist für Schmerztherapie.

Aerobes Training, Tai-Chi und Entspannungsmusik

Vielen Patienten sei schon geholfen, wenn ein Arzt ihre Schmerzen wirklich ernst nehme, sagte Prof. Dr. Christoph Baerwald, Klinik und Poliklinik für Gastroenterologie und Rheumatologie am Universitätsklinikum Leipzig, in seinem Vortrag zur Therapie des FMS.

Die deutsche Leitlinie empfehle bei leichter Ausprägung „angemessene körperliche und psychosoziale Aktivität“. Bei schweren Verläufen rate sie zu „multimodaler Therapie und zeitlich befristeter medikamentöser Therapie“. Allerdings ist aktuell in Deutschland kein Medikament für die Behandlung des FMS zugelassen.

In Ermangelung an Alternativen wird empfohlen, das Antidepressivum Amitriptylin zur Schmerzbehandlung für etwa 6 Monate einzusetzen. Wissenschaftliche Studien haben auch bei Patienten, die nicht an depressiven Verstimmungen leiden, eine schmerzlindernde Wirkung gezeigt.

Ebenfalls empfohlen wird eine etwa 6-monatige Therapie mit dem krampflösenden, in den USA bereits für die Behandlung der Fibromyalgie zugelassene Medikament Pregabalin bei Patienten mit komorbider generalisierter Angststörung.

Eine US-Studie hat gezeigt, dass Pregabalin gegen Schmerzen, Schlaflosigkeit und Morgensteifigkeit hilft. Die EMA hat diese Zulassung jedoch mangels weiterer Studien bislang verweigert. In Deutschland ist das Medikament zur Therapie von neuropathischen Schmerzen und generalisierten Angststörungen zugelassen.

„Aktuell wird medizinisches Cannabis heiß diskutiert und von Patienten oft nachgefragt“, sagte Baerwald. Jedoch lassen bisherige Studien keine Rückschlüsse auf den Nutzen eines Einsatzes von Cannabis-Präparaten gegen Symptome des FMS zu, so das aktuelle Fazit des Experten. Daher sei in den Leitlinien eine negative Empfehlung zu Cannabinoiden aufgeführt.

Ausdrücklich empfohlen wird 2- bis 3-mal wöchentlich ein 30-minütiges Ausdauertraining mit geringer bis mittlerer Intensität. „Wenn eine Verbesserung durch aerobes Ausdauertraining erzielt wird, sollte das dauerhaft durchgeführt werden“, rät Baerwald.

Außerdem werden in der Leitlinie Wassergymnastik, Funktionstraining oder Trockengymnastik, eine Kombination aus aerobem Training plus Flexibilitäts-, Koordinations- und Kräftigungsübungen, empfohlen.

Geringer fällt die Evidenz aus zur Wirkung von reinem Krafttraining, Spa-Therapie, Muskeldehnung und Vibrationstraining.

 
Meine Empfehlung daher: ein gutes Glas Rotwein bei entspannender Musik genießen. Prof. Dr. Christoph Baerwald
 

Auch zu komplementären und alternativen Verfahren sei die Evidenz bislang gering. Tai-Chi, Qi-Gong und Yoga erhielten daher bislang lediglich eine einfache Empfehlung. Allerdings hat Tai-Chi in einer 2018 im British Medical Journal veröffentlichten Studie hinsichtlich der Minderung der Fibromyalgie-Symptome sogar besser abgeschnitten als aerobes Training (wir berichteten).

In einer britischen Kohortenstudie ging Alkoholgenuss von bis zu 5 Einheiten/Woche mit einer signifikanten Minderung der „chronic widespread pain“ und der Beeinträchtigung durch Schmerz einher.

In einer weiteren Studie habe sich wohltuende Musik als schmerzlindernd erwiesen, bemerkte Baerwald am Ende seines Vortrags. „Meine Empfehlung daher: ein gutes Glas Rotwein bei entspannender Musik genießen.“
 

Kommentar

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