Neue Medikamente, die die Erbkrankheit Morbus Huntington an der Wurzel packen könnten, rufen bei Experten und Betroffenen große Hoffnungen hervor: Ein solcher Wirkstoff war in einer ersten klinischen Studie in der Lage, das mutierte Huntingtin-Protein bei Patienten zu reduzieren [1].

Dr. Ralf Reilmann
„Wir hoffen alle, dass das jetzt ein bahnbrechender Schritt in die richtige Richtung war, der es möglich machen könnte, dass wir in drei, vier Jahren einen krankheitsmodifizierenden Therapieansatz in die Hände bekommen“, sagt der Neurologe Dr. Ralf Reilmann vom George-Huntington-Institut in Münster.
Ein einziges Gen
Das für die autosomal-dominante Erbkrankheit Huntington verantwortliche Gen ist seit 1993 bekannt. Ein Gen auf Chromosom 4 enthält die Basenfolge CAG mehrfach hintereinander – bei Gesunden in der Regel bis zu 25-mal. Im mutierten Gen der Krankheitsträger wiederholt sich das Basentriplett allerdings deutlich häufiger.
Dadurch liegt auch das dort codierte Protein Huntingtin im Körper in einer mutierten Form vor. Die Funktion des Proteins ist zwar noch nicht völlig geklärt. Das veränderte, toxische Protein, das sich in Nervenzellen ansammelt, gilt aber als ein Treiber der Huntington-Erkrankung.
Die Folgen werden meist im Erwachsenenalter sichtbar: Neurologische Schäden führen zu Bewegungsstörungen, kognitiver Verschlechterung, Verhaltensveränderungen und schließlich zum Tod.
Wenn man das mutierte Gen blockieren oder die Eiweißproduktion behindern könnte, dann sollte das auch die Symptome beeinflussen, so die Hoffnung der Huntington-Forscher.
Weniger mutiertes Protein
Dazu scheint nun ein neuer Wirkstoff, IONIS-HTT Rx, in der Lage zu sein. Prof. Dr. Sarah Tabrizi vom University College London und zahlreiche internationale Kollegen konnten das nachweisen: In einer von Ionis Pharmaceuticals und Hoffmann-La Roche finanzierten Phase1/2a Studie an 46 Patienten sanken bei Behandlung die Spiegel des mutierten Huntingtins im Liquor deutlich und dosisabhängig ab.
„Das ist eine bahnbrechende Studie für die Huntington-Community“, sagt Reilmann. Denn: „Sie beweist, dass dieser Ansatz, das mutierte Huntingtin zu reduzieren, im Menschen funktioniert.”
Das Konzept: Der Wirkstoff, ein Antisense-Oligonukleotid, soll die Produktion des Proteins stören. Das Medikament ist so konstruiert, dass es die Messenger-RNA, die als eine Art Arbeitskopie die Information des Gens weiterleitet, abfangen kann. So lässt sich der Produktionsprozess unterbrechen und die Menge an Huntingtin reduzieren.
Noch unklar ist allerdings, ob das am Ende auch die erhofften klinischen Effekte bringt. „In Tiermodellen hat die Behandlung zu einem verlängerten Überleben der Tiere und zu verbesserten Symptomen geführt“, erläutert Reilmann.
Die jetzt veröffentlichte Studie konnte noch keine klaren Verbesserungen bei den Patienten nachweisen – sie sollte allerdings auch nur die Sicherheit des Medikaments prüfen. Für den Wirkungsnachweis sind mehr Probanden und eine längere Behandlung nötig: Das soll die nun startende Phase-3-Studie mit über 600 Patienten schaffen.
Grund zur Zurückhaltung
Wenn das neue Medikament die Hoffnungen erfüllt, dann wäre das ein Durchbruch, sagt Reilmann. Allerdings weiß der Huntington-Experte bei aller Begeisterung auch nur zu gut, welche Fragen noch offen sind. „Wir hoffen, dass das Huntingtin das richtige Target ist“, so Reilmann.
Denn das Huntingtin-Protein ist zwar ein sehr logisches Ziel, aber der Neurologe weist darauf hin, dass das Krankheitsgeschehen komplex ist und auch andere Mechanismen prinzipiell möglich wären.
Und wenn das Protein wie vermutet kausal am Untergang der Nervenzellen beteiligt ist: Kann man es so stark reduzieren, dass man damit den Patienten wirklich hilft? Kommt der Wirkstoff, der über eine Lumbalpunktion verabreicht werden muss, tief genug ins Gehirn, um auch dort einzugreifen, wo er am dringendsten gebraucht wird?
„Die Pathologie beim Huntington sitzt eher in den tieferen Hirnstrukturen“, erklärt Reilmann. In den präklinischen Versuchen an verschiedenen Tieren seien nach Aussage der Pharmafirmen ausreichende Mengen des Wirkstoffs weit ins Gehirn hineingekommen. „Aber man muss natürlich sagen, dass das menschliche Gehirn ein ganzes Stück größer ist als z.B. Makaken-Gehirne.“
Der Idealfall
Wenn tatsächlich aus den aktuellen Studien ein neues Medikament hervorgeht, dann ergeben sich viele weitere Fragen. In einer relativ isolierten Gegend in Venezuela, am Lake Maracaibo, gibt es eine hohe Zahl von Huntington-Kranken und Genträgern. Viele von ihnen haben mit Laborproben und ihrer Familiengeschichte einen großen Beitrag zur Erforschung der Krankheit geleistet. „Für die Spender der Proben, die diesen vielversprechenden Ansatz möglich gemacht haben, sollte das Medikament kostenlos sein“, fordern deshalb Dr. Kenneth Fischbeck, National Institutes of Health, Bethesda, und Prof. Dr. Nancy Wexler, Columbia University, New York, in einem Editorial [2].
Wenn sich die Krankheit tatsächlich bremsen lässt, müsste das so früh wie möglich geschehen, fordert Reilmann – vor dem Auftreten der ersten Symptome. „Wir wissen, dass die Krankheit über Jahrzehnte subklinisch verläuft. Vielleicht könnte es uns gelingen, die Prozesse über 30 oder 40 Jahre subklinisch zu halten, das käme ja schon einer Heilung sehr nahe.“
Wichtig auch für andere seltene Erkrankungen
Im Erfolgsfall könnten eventuell auch andere Erkrankungen von den Studienergebnissen profitieren, hofft Reilmann. „Wenn das beim Huntington gelingen würde, dann hätte das vielleicht auch Auswirkungen auf die Forschung an noch selteneren autosomal-dominanten Erkrankungen, die man mit ähnlichen Konzepten angeben könnte.“
Und auch weitere Wirkstoffe, die auf das Huntingtin-Protein abzielen, stehen in den Startlöchern – so ließe sich eventuell auch das mutierte Gen direkt blockieren, und man könnte auf lange Sicht Patienten mit einer Pille behandeln, statt mit einer monatlichen Lumbalpunktion wie in der aktuellen Studie.
Voraussetzung dafür bleibt allerdings, dass das Grundkonzept erstmal seine Wirksamkeit beweist.
Medscape Nachrichten © 2019
Diesen Artikel so zitieren: „Eine bahnbrechende Studie für die Huntington-Community“ – neues Antisense-Medikament senkt mutiertes Huntingtin-Protein - Medscape - 16. Mai 2019.
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