Sind ungezählte Überstunden von Klinikärzten bald passé? EuGH mahnt Pflicht zur systematischen Arbeitszeit-Erfassung an

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

15. Mai 2019

Überstunden, die nicht gezählt werden? Für viele Ärzte in Kliniken ist das Alltag. Durch ein aktuelles Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) könnte sich das bald ändern [1]. Darin heißt es: Die Mitgliedstaaten der EU müssen die Arbeitgeber verpflichten, ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.

 
Wir wollen, dass sich der Umgang mit der ärztlichen Arbeitszeit grundlegend ändert (…) Rudolf Henke
 

Grundlage dafür sind die Arbeitszeit-Richtlinie und die Grundrechtecharta der Europäischen Union. Nur so lasse sich überprüfen, ob zulässige Arbeitszeiten überschritten würden, heißt es in der Begründung.

Die – auch in Deutschland übliche – Erfassung nur von Überstunden reicht demnach nicht aus. Das Urteil könnte große Auswirkungen auf den Arbeitsalltag auch in Deutschland haben. Denn längst nicht in allen Branchen werden Arbeitszeiten systematisch erfasst.

Der Marburger Bund fühlt sich durch das EuGH-Urteil gestärkt. „Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs stärkt uns in den aktuellen Verhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern den Rücken. Die Verpflichtung der Arbeitgeber zur objektiven und verlässlichen Erfassung der Arbeitszeit von Ärzten in den Krankenhäusern kann dabei nur ein erster Schritt sein. Wir wollen, dass sich der Umgang mit der ärztlichen Arbeitszeit grundlegend ändert und Höchstarbeitszeitgrenzen nicht länger von den Kliniken missachtet werden“, kommentiert Rudolf Henke, 1. Vorsitzender des Marburger Bundes (MB), das EuGH-Urteil in einer Stellungnahme des MB [2].

Durch die Präzisierung bereits bestehender Rechtsgrundlagen weist der EuGH laut Marburger Bund auf Rechtsverstöße hin, die von EU-Mitgliedstaaten schon längst hätten erkannt und geahndet werden müssen.

 
Überschreitungen der Höchstarbeitszeitgrenzen sind in deutschen Krankenhäusern an der Tagesordnung. Rudolf Henke
 

„Überschreitungen der Höchstarbeitszeitgrenzen sind in deutschen Krankenhäusern an der Tagesordnung, ohne dass die Aufsichtsbehörden diesem Missstand im erforderlichen Umfang begegnen“, kritisierte Henke.

In einer Umfrage des Hartmannbundes unter Assistenzärzten berichteten 48,57% der Befragten, dass ihre Überstunden nicht konsequent dokumentiert würden. Junge Ärzte berichten auch von Klinikabteilungen, in denen Überstunden nicht existieren, weil die Zeit zum Ausgleichen ohnehin fehlt. Oder in denen Überstunden ohne Rücksprache gestrichen werden.

Für Arbeitnehmer praktisch unmöglich, ihre Rechte durchzusetzen

Der EuGH mahnt daher ein System zur Arbeitszeiterfassung an und teilt dazu mit: „Der Gerichtshof stellt fest, dass ohne ein System, mit dem die tägliche Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen werden kann, weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung, noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden kann, so dass es für die Arbeitnehmer äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich ist, ihre Rechte durchzusetzen.“

In den aktuellen Tarifverhandlungen mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) fordert der Marburger Bund eine manipulationsfreie, automatisierte Arbeitszeiterfassung als Voraussetzung für die Anordnung von Bereitschaftsdiensten der Ärzte.

 
Anwesenheit im Krankenhaus ist Arbeitszeit – dieser Grundsatz darf nicht länger in Frage gestellt werden. Rudolf Henke
 

In den Krankenhäusern werde die Arbeitszeit häufig unsystematisch, teilweise gar per Hand erfasst. Nicht ungewöhnlich sei auch, dass geleistete Arbeitszeit pauschal und nachträglich gestrichen werde. Die erfassten Arbeitszeiten würden im Nachgang ‚passend gemacht‘ und Überschreitungen von Höchstgrenzen nicht berücksichtigt, so der Marburger Bund.

„Es muss sich jetzt endlich etwas ändern. Anwesenheit im Krankenhaus ist Arbeitszeit – dieser Grundsatz darf nicht länger in Frage gestellt werden“, bekräftigte Henke.

Hartmannbund begrüßt das Urteil

Die Assistenzärzte im Hartmannbund begrüßen das EuGH-Urteil, das über die bisherige deutsche Gesetzgebung hinausgeht. „Die Erfahrungen der Betroffenen zeigen, dass die bestehenden gesetzlichen und tarifvertraglichen Regelungen offenbar nicht ausreichend sind. Wenn ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes hier die Initialzündung für eine signifikante Verbesserung der seit Jahren unbefriedigenden Arbeitssituation der Assistenzärzte auch in Deutschland sein kann, ist dies als positiv zu werten“, teilt Dr. Michael Vogt, Sprecher des Hartmannbundes, auf Anfrage von Medscape dazu mit.

Die aktuelle – auch durch nicht kompensierbaren strukturellen Personalmangel bedingte – Situation stelle für Assistenzärzte wie für Patienten ein Gesundheits- bzw. Qualitätsrisiko dar. Auch in Krankenhäusern müssen die Grundrechte auf Begrenzung der Höchstarbeitszeiten und der Anspruch auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten endlich gewahrt bleiben. Für die Assistenzärzte bleibe zu hoffen, dass sich „die Umsetzung des EuGH-Urteils auf nationaler Ebene sich zeitnah auf den Berufsalltag in deutschen Krankenhäusern auswirkt. Der Hartmannbund wird sich hierfür, wie bisher, mit ganzer Kraft einsetzen“, so Vogt.

 

Kommentar

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