CGRP-Antikörper als Prophylaxe-Option für Patienten mit schwerer Migräne – Erfahrungen aus dem Praxisalltag

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

30. April 2019

Etwa jeder 10. in Deutschland leidet an Migräne. Bei sehr häufigen Anfällen und wenn die Patienten sehr häufig deswegen Schmerzmittel nehmen, besteht die Gefahr chronischer Schmerzmittel-induzierter Kopfschmerzen. Einen Ausweg aus dem Dilemma bietet eine Migräne-Prophylaxe, für die es seit kurzem als neue Option monoklonale Antikörper gibt.

Anfang April hat bereits der dritte Antikörper zur Migräneprophylaxe die EU-Zulassung erhalten. Nach Erenumab (Aimovig®) und Galcanezumab (Emgality®), ist nun auch Fremanezumab (Ajovy®) zur Vorbeugung von Migräne-Attacken verfügbar. Patienten setzen zum Teil sehr große Hoffnungen auf die neuen Möglichkeiten.

Dr. Astrid Gendolla

Dr. Astrid Gendolla behandelt seit 25 Jahren Migräne-Patienten in ihrer Praxis für Neurologie, Psychosomatik, Psychiatrie, Nervenheilkunde, Psychotherapie und Spezielle Schmerztherapie in Essen, die auch Regionales Schmerzzentrum der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) ist. In die Schwerpunktpraxis kommen viele Patienten, die eine lange Migräne-Geschichte hinter sich haben und bei denen vorherige Therapien erfolglos verlaufen sind. Für Medscape berichtet die Fachärztin für Neurologie von ihren Erfahrungen mit den neuen Antikörper-Möglichkeiten – vor allem mit dem seit November 2018 für Patienten mit episodischer und chronischer Migräne verfügbaren humanisierten monoklonalen Antikörper Erenumab (Aimovig®)

Erfahrungen mit Erenumab

Dieser richtet sich gegen das Neuropeptid Calcitonin-Gene-Related-Peptid (CGRP). CGRP erweitert die Blutgefäße – nicht nur im Kopf, sondern im ganzen Organismus. Die Blockade des CGRP-Signalwegs soll die Entstehung der Kopfschmerzen verhindern und gilt als (nebenwirkungsarme) Alternative zu den bisherigen präventiven Medikamenten wie Amitriptylin, Topiramat, Valproinsäure, Flunarizin, Betablockern und Botulinumtoxin.

In der LIBERTY-Studie reduzierte Erenumab (vs. Placebo) bei 30% der Patienten die Zahl der Migräne-Tage pro Monat um mindestens die Hälfte. Doch der Preis des Mittels ist hoch: 688 Euro pro Monat für 70 mg Erenumab, über das Jahr sind das 8.260 Euro. Zum Vergleich: Das auch nicht gerade billige Botulinumtoxin zur Prophylaxe kostet ca. 1.500 Euro im Jahr.

 
Es kann aber durchaus sein, dass einige Patienten einfach viel mehr Zeit brauchen als den Zeitraum, den wir ihnen bislang einräumen. Dr. Astrid Gendolla
 

Gendolla hat bereits einige Erfahrung mit Erenumab gesammelt: 182 Patientinnen und Patienten therapiert sie derzeit damit. Das Haupterkrankungsalter für Migräne liegt zwischen 25 und 45 Jahren, „die meisten Patienten, die mit Erenumab behandelt werden, sind in ihren 40-ern, sie weisen also schon eine längere Krankengeschichte auf“, berichtet sie im Gespräch mit Medscape.

Die Ansprechraten: Höher als in klinischer Studie

Nicht jeder Patient mit chronischer oder episodischer Migräne spricht auf den Antikörper an: in den klinischen Studien nur etwa die Hälfte. Doch das gilt nicht für die Praxis, sagt Gendolla. Sie erinnert daran, dass Studien wie LIBERTY Patienten eingeschlossen hatten, die sehr studienerfahren waren, also eine besondere Klientel: „Diese Patienten zeigen ein anderes Konditionsmuster und eine geringere Erwartungshaltung gegenüber Medikamenten.“

Insofern seien die Ansprechraten bei studienerfahrenen Probanden nicht unbedingt gleich zu setzen mit dem Ansprechen von Patienten im Alltag. Gendollas Erfahrung mit Erenumab ist, dass nur rund 30% der Patienten gar nicht auf die Substanz ansprechen.

Womöglich könnte der Anteil an Respondern aber noch höher sein. „Wir behandeln Patienten initial mit 70 mg Erenumab. Zeigt sich nach 3 Monaten keine Reduktion der Migräne-Tage um mindestens 30%, wird auf 140 mg erhöht. Zeigt sich auch unter dieser Dosierung nach 3 Monaten keine Verbesserung um 30%, wird die Therapie abgebrochen. Es kann aber durchaus sein, dass einige Patienten einfach viel mehr Zeit brauchen als den Zeitraum, den wir ihnen bislang einräumen“, meint Gendolla. Schließlich handele es sich um chronisch kranke Patienten.

Wer soll es bekommen?

Die für die Migräne-Prophylaxe verfügbaren Alternativen, etwa Amitriptylin, Topiramat, Valproinsäure, Flunarizin oder Betablocker sind natürlich kostengünstiger – und auch oft wirksam. Doch haben diese Wirkstoffe alle nicht unerhebliche Nebenwirkungen und werden deshalb von vielen Patienten nicht langfristig eingenommen.

 
Es gibt keine Prädiktoren – welcher Patient respondiert, das weiß man leider noch nicht. Dr. Astrid Gendolla
 

Erenumab wird vom Hersteller empfohlen für Patienten mit Migräne, bei denen 4 (bei episodischer Migräne) oder 6 (bei chronischer Migräne) vorherige Prophylaxe-Therapien entweder versagt haben, nicht vertragen wurden oder kontraindiziert sind. Die Indikation gilt für Migräne-Patienten mit mindestens 4 Migräne-Tagen im Monat.

Wer profitiert? Register geplant

Kann man vorher absehen, wer wahrscheinlich gut anspricht und wer nicht? Nicht wirklich, stellt Gendolla klar. „Da gibt es die Patientin mit 17 Migräne-Tagen im Monat, die auch an starken Depressionen und an einer ausgeprägten Hundephobie leidet – mit Erenumab gelang es, die Migräne-Tage auf 4 im Monat zu reduzieren.“

Aber es gibt auch den Geschäftsführer eines großen Unternehmens, der keine Komorbiditäten aufweist, sich penibel an die Einnahme hält – und er spricht überhaupt nicht auf das Medikament an. „Es gibt keine Prädiktoren – welcher Patient respondiert, das weiß man leider noch nicht“, erklärt sie.

Geplant ist nun ein Register zu Erenumab. Die darin aufgeführten Real-World-Daten lassen dann womöglich Rückschlüsse darüber zu, welcher Patient eher profitiert und welcher nicht.

Die Erwartungen der Patienten

Für ein großes Problem hält Gendolla die hohen Erwartungen an Erenumab, die nicht zuletzt in der Presse geschürt wurden. „Vom frühen Ansprechen wird ja immer wieder berichtet. Ich bekomme im Alltag von meinen Patienten das auch gespiegelt: Sie erwarten, dass ihnen das Mittel rasch hilft, sind enttäuscht, wenn das nicht so passiert, oder aber sie suchen bei sich selbst die Schuld dafür.“

Gendolla berichtet von einer Patientin, bei der Erenumab über 2 Monate die Migräne-Tage wirksam reduziert hatte und die dann feststellen muss, dass die Zahl der Migräne-Tage unter der weiteren Antikörper-Therapie wieder zunimmt.

 
Im Alltag zeigen sich etwas mehr Nebenwirkungen als in der Studienpopulation. Dr. Astrid Gendolla
 

Nach Hersteller-Empfehlungen sollte sich der Nutzen innerhalb von 3 Monaten nach Therapiebeginn zeigen, ist das nicht der Fall, sollte ein Therapieabbruch erwogen werden. „Es ist schwierig zu sagen, wie lange jemand damit behandelt werden sollte – ich denke aber, dass eher 6 Monate die Regel sein sollten als 3 Monate.“

Der Preis dafür

Der Preis für eine monatliche Injektion (70 mg Dosierung) liegt bei 688 Euro, pro Jahr summieren sich die Therapiekosten auf 8.260 Euro. Spricht ein Patient erst auf die Dosis von 140 mg an, liegen die Jahres-Therapie-Kosten bei 16.521 Euro. „Natürlich beeinflusst der Preis die Denkweise. Und es wäre sinnvoll und im Sinne der Patienten, wenn die Prophylaxe-Therapien gleichpreisig wären“, sagt Gendolla.

Schon jetzt drängten gesetzliche Kassen darauf, das Mittel „wirtschaftlich“ zu verordnen, und es gebe erste Rabattverträge. „Bei 182 Patienten ist das schon ein Budget-Problem“, räumt sie ein.

Nebenwirkungen und Kontraindikationen

In der LIBERTY-Studie hatte sich Erenumab als gut verträglich und sicher erwiesen, am häufigsten hatten die Patienten über Schmerzen an der Injektionsstelle, über Nasopharyngitis und Rückenschmerzen geklagt.

„Im Alltag zeigen sich etwas mehr Nebenwirkungen als in der Studienpopulation: Wenige Tage anhaltende Hautirritationen an der Einstichstelle, auch Obstipation tritt auf. Aber insgesamt ist Erenumab sehr gut verträglich“, berichtet Gendolla von ihren bisherigen Erfahrungen. Keiner ihrer Patienten musste die Erenumab-Therapie aufgrund von Nebenwirkungen abbrechen.

Bei 2 Gruppen von Patienten ist Erenumab allerdings kontraindiziert:

  • „Das sind zum einen Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn.“ CGRP spielt eine wichtige Rolle im Darm und wird dort benötigt. Eine Blockade von CGRP sei bei diesen Patienten nicht wünschenswert.

  • Aber auch bei Patienten mit kardiovaskulären Vorerkrankungen ist Erenumab kontraindiziert. Bei kardiovaskulären Ereignissen wie einem Myokardinfarkt könnte eine CGRP-Blockade riskant sein.

In die Zulassungsstudie waren Patienten mit Gefäßerkrankungen, schwerwiegenden Erkrankungen des respiratorischen Systems und des Darms nicht aufgenommen worden.

Wie geht die Therapie praktisch?

Ähnlich wie Insulin-pflichtige Diabetiker spritzen sich Migräne-Patienten Erenumab selbst. „Wir führen eine Injektion in der Praxis einmal mit dem Patienten zusammen durch, danach sollte das selbständig gemacht werden“, erklärt Gendolla.

Der Alltag zeige aber, dass die vermeintlich einfache Anwendung nicht immer umgesetzt wird: „Dass es zu Fehlern kommen kann, sollte man nicht unterschätzen.“

Wie Gendolla berichtet, hatte sich eine Patientin Erenumab nicht alle 4 Wochen injiziert, „sondern alle 2 Wochen, weil sie im Internet gelesen hatte, dass eine häufigere Injektion besser wirkt“. Es stellte sich heraus, dass sich die Patienten das Mittel von 2 Ärzten verordnen ließ.

Eine weitere Patientin hatte nicht unter die Haut gespritzt, sondern versehentlich an der Hautfalte vorbei. Gendolla empfiehlt deshalb, darauf zu achten, dass die Patienten gut geschult sind, und auch nachzufragen, wie und wie häufig die Patienten sich spritzen.

Die Erstattungsfähigkeit

Der G-BA hat angekündigt, Anfang Mai seine Entscheidung über die Erstattungsfähigkeit von Erenumab mitzuteilen. Gendolla rechnet damit, dass der G-BA die Einschätzung des IQWiG teilt, das einen „Hinweis auf einen beträchtlichen Zusatznutzen von Erenumab“ attestiert hatte. „Es wäre wirklich wünschenswert, dass Erenumab die Erstattungsfähigkeit erhält“, sagt sie.

Zugelassen ist Erenumab zur Migräne-Prophylaxe bei Erwachsenen mit mindestens 4 Migränetagen pro Monat. Um die Erstattungsfähigkeit attestiert zu bekommen, beantragt Hersteller Novartis diese für eine spezielle Gruppe: Patienten, die unter schwerer Migräne leiden und die mindestens vier- bis fünffach erfolglos mit einer zugelassenen Prophylaxe vortherapiert worden sind. Laut Hersteller sind das in Deutschland zwischen 13.000 und 15.000 Patienten.

Wie Erenumab im Direktvergleich wirkt, soll die Ende Februar gestartete Hersteller-finanzierte Studie HER-MES klären, die bei 700 Patienten Erenumab (70 mg und 140 mg) gegen Topiramat (50 bis 100 mg pro Tag) zur Prophylaxe prüft.

 
Es wäre wirklich wünschenswert, dass Erenumab die Erstattungsfähigkeit erhält. Dr. Astrid Gendolla
 

Allerdings hält Gendolla Erenumab durchaus auch für Patienten für sinnvoll, die nicht erst mehrfach erfolglos vortherapiert worden sind: „Ich würde mir wünschen, dass wir künftig auch eine junge Abiturientin mit hochfrequenter Migräne direkt mit Erenumab behandeln können, ohne erst verschiedene Prophylaxe-Therapien auszuprobieren und ohne die vielen Nebenwirkungen, die damit einhergehen, in Kauf nehmen zu müssen.“

Emotionen und Lebensqualität

Die Diskussion um Erenumab erlebt sie als wenig sachlich: „Während meiner ganzen Praxiszeit habe ich noch nie so eine emotionale Diskussion erlebt wie um diesen Wirkstoff. Man könnte auch sagen: Es ist doch sehr erfreulich, dass es endlich eine Therapieoption für Patienten mit schwerer Migräne gibt, die bislang nicht erfolgreich behandelt werden konnten. Bei vielen anderen Erkrankungen wird nicht gefragt: Weshalb ist das denn so teuer? Bei Migräne ist das anders.“

Dabei sei Migräne die häufigste neurologische Erkrankung überhaupt – was in der Öffentlichkeit aber offenbar noch lange nicht angekommen sei. Da tauche Migräne noch häufig als „Befindlichkeitsstörung“ auf. Immer wieder werde den Patienten auch der Eindruck vermittelt, sie seien (durch ihr Verhalten) verantwortlich dafür, dass sie Kopfschmerzen bekommen – und viele Patienten glaubten das auch.

 
Während meiner ganzen Praxiszeit habe ich noch nie so eine emotionale Diskussion erlebt wie um diesen Wirkstoff. Dr. Astrid Gendolla
 

Jedoch ist die Einschränkung der Lebensqualität und der Leidensdruck aufgrund der Migräne-Attacken beträchtlich. Und nicht nur das: Verschiedene Studien beziffern die direkten und indirekten Kosten, die durch Migräne in Europa entstehen, auf zwischen 18 und 27 Milliarden Euro pro Jahr.
 

Kommentar

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