Älteren Menschen mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung werden in den letzten Lebensmonaten häufig noch Medikamente zur Krankheitsprävention verschrieben, deren Nutzen sie sehr wahrscheinlich nicht mehr erleben werden.
Zu diesem Ergebnis kommen Lucas Morin und andere Forscher des „Aging Research Center“ am Karolinska Institut in Stockholm anhand einer Kohortenstudie mit über 150.000 älteren Frauen und Männern, die in Schweden zwischen 2007 und 2013 an einer Krebserkrankung gestorben sind [1].
Geeignete „Deprescribing“-Strategien seien erforderlich, um die Last an Medikamenten, die nur einen begrenzten klinischen Nutzen haben, am Ende des Lebens zu verringern, schreiben Morin und seine Kollegen.
Dr. Constanze Rémi, Fachapothekerin für Klinische Pharmazie an der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin am Klinikum der Universität München, kann sich im Gespräch mit Medscape der Schlussfolgerung der schwedischen Arbeitsgruppe im Prinzip nur anschließen. „Wegen verschiedener Komorbiditäten haben alte Menschen im Laufe ihres Lebens einen bunten Blumenstrauß an Medikamenten zusammenbekommen. Am Lebensende stellt sich die grundsätzliche Frage: Können sie noch von allen verschriebenen Medikamenten profitieren?“, sagt die Mitherausgeberin des Fachbuches „Arzneimitteltherapie in der Palliativmedizin“.
Polymedikation sehr häufig
In Ländern mit hohem sozioökonomischem Status sind heutzutage fast 2 Drittel der Menschen, die an einer Krebserkrankung sterben, älter als 70 Jahre. In der klinischen Onkologie ist daher eine chronische Multimorbidität verbunden mit einer Polymedikation nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Bisher gibt es nur wenige Studien, die erfassen, welche Medikamente Menschen im Einzelnen während ihrer letzten Lebensphase bekommen. Die Studie der Wissenschaftler vom Karolinska Institut sei die erste, die sich umfassend mit der Verschreibungspraxis bei dieser Patientengruppe in einem Land beschäftige, geben die schwedischen Autoren an.
In der Kohortenstudie erfassten Morin und seine Kollegen die Daten von 151.201 Männern und Frauen über 65 Jahre (Durchschnittsalter 81,3 Jahre), die in Schweden in der Zeitspanne von 2007 bis 2013 einem Krebsleiden erlegen waren. Zu den häufigsten Komorbiditäten in dieser Gruppe zählten: Hypertonie, koronare Herzkrankheit, Herzschwäche, Vorhofflimmern und Typ-2-Diabetes.
Im Laufe des letzten Lebensjahres stieg laut der Studienergebnisse die durchschnittliche Anzahl der verschriebenen Medikamente von 6,9 auf 10,1. Der Anteil der Personen, die 10 oder mehr Medikamente erhielten, erhöhte sich von 26% auf 52%. Zu den Medikamenten mit präventiver Wirkung zählen die schwedischen Wissenschaftler beispielsweise Antihypertensiva, Antikoagulanzien, Statine, orale Antidiabetika und Mineralstoffsupplemente.
Der Anteil der Personen, bei denen eine Medikation noch bis in den letzten Lebensmonat fortgesetzt wurde, reichte von 57% für Bisphosphonate (Osteoporose-Therapie), über 65% für Statine und Vitamine, bis zu über 80% für Betablocker, Insulin, Vitamin-B12 und Folsäure. Bei fast einem Viertel der Personen wurde im letzten Lebensjahr eine Medikation gegen Bluthochdruck noch neu begonnen, bei knapp 5% eine Behandlung mit Statinen.
Senkung des therapeutischen „Ballasts“
Medikamente mit präventiver Wirkung seien nicht generell ungeeignet am Lebensende, schreiben Morin und seine Kollegen. Einige verhinderten schwere Komplikationen, wie die krebsassoziierte Thrombose (durch Antikoagulanzien) oder Knochenmetastasen bei Frauen mit Brustkrebs (durch Bisphosphonate). Allerdings halte die Wirkung der Bisphosphonate, schreiben die schwedischen Autoren, nach Langzeitbehandlungen etwa der postmenopausalen Osteoporose nach dem Absetzen noch für 3 bis 5 Jahre an.
Die mittleren Kosten für Medikamente betrugen laut der Studie pro Patient im letzten Lebensjahr 1.482 US-Dollar – 213 US-Dollar davon entfielen im Durchschnitt auf die medikamentöse Prävention: Das entspricht etwa einem Fünftel der gesamten Arzneimittelkosten in dieser Lebensphase.
„Die Senkung des therapeutischen ‚Ballasts‘ bei Menschen mit einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung hat nicht nur das Potenzial, unerwünschte Nebenwirkungen zu verringern und die Lebensqualität zu verbessern, sondern auch die finanzielle Belastung für die Patienten einzudämmen“, schreiben Morin und seine Kollegen.
„Deprescribing“ – eine Herausforderung
Die Apothekerin Dr. Isabel Waltering vom Institut für Pharmazeutische und Medizinische Chemie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster versteht unter dem Begriff des „Deprescribing“ einen systematischen Prozess, „bei dem Arzneimittel identifiziert und abgesetzt werden, bei denen potenzielle und manifeste Risiken und Schäden den tatsächlichen oder zu erwartenden Nutzen übersteigen“.
Wie Waltering auf einem Vortrag bei der diesjährigen „Interpharm“ in Stuttgart referierte, tauchte der Begriff vor 12 Jahren zum ersten Mal in einer französischen Publikation auf, 2018 hätte man bereits 132 Treffer zum „Deprescribing“ gefunden. Allerdings sei das „Deprescribing“ im klinischen Alltag eine Herausforderung. Eine Studie zeige, dass Ärzten durchaus bewusst war, dass sie etwas ändern sollten, aber sie wussten nicht wie. Das unkritische Reduzieren von Arzneimitteln sei zu vermeiden, warnt Waltering.
Angemessene und unangemessene Medikamente am Lebensende
Eine Vorarbeit für ein strategisches Vorgehen bei der Identifikation, Dosisreduktion oder gar beim Absetzen eines Medikamentes lieferten im letzten Jahr Morin und seine Kollegen aus Frankreich, Italien und Schweden.
Die Forscher hatten im Rahmen einer Delphi-Befragung 40 europäische Experten aus Geriatrie, klinischer Pharmakologie und Palliativmedizin um eine Einschätzung gebeten. Die Fachleute aus 10 verschiedenen Ländern sollten angeben, welche Arzneistoffgruppen sie für Menschen mit einem Lebensalter über 75 und einer wahrscheinlichen Restlebenserwartung von 3 oder weniger Monaten einstufen würden als „häufig angebracht“, „fragwürdig“ oder „häufig unangebracht“.
Als „häufig angemessen“ stuften die Experten 14 Wirkstoffklassen ein, dazu zählen unter anderem:
Schilddrüsenhormone
Wirkstoffe gegen Obstipation
Opioid-Analgetika
Nicht-Opioid-Analgetika
Antiepileptika
Levodopa
Salbutamol (Inhalat)
Glukokortikoide systemisch oder als Inhalat;
Als „fragwürdig“ wurden 28 Wirkstoffklassen eingestuft, unter anderem:
Orale Antidiabetika, ausgenommen Metformin
Vitamin-K-Antagonisten
Niedrig dosierte Acetylsalicylsäure (ASS)
Antikoagulanzien
Digitalis-Glykoside
Antianämische Wirkstoffe
Als „häufig unangemessen“ wurden 10 Wirkstoffgruppen eingeschätzt, unter anderem:
Vitamin D
Calcium-Supplemente
Antihypertensiva, ausgenommen Alpha-Blocker
Periphere Vasodilatatoren
Lipidsenkende Wirkstoffe
Immunstimulanzien
Bisphosphonate
Wirkstoffe gegen Demenz
Intensive Kommunikation zwischen Arzt und Patient nötig
Auch in Deutschland gebe es Bestrebungen, die Arzneimittelsicherheit zu erhöhen und kritisch zu hinterfragen, ob dieses oder jenes Medikament noch Sinn mache oder durch die Einnahme sogar ein Nachteil entstehe, sagt Rémi. Ähnlich zur in den USA gestarteten Kampagne „Choosing wisely“ ruft hierzulande zum Beispiel die „Klug-Entscheiden-Initiative“ der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin zum reflektierten Umgang mit Verschreibungen auf (wie Medscape berichtete ).
Riskant sei allerdings bei der Diskussion um das „Deprescribing“, allein auf die Anzahl der verschriebenen Medikamente zu schauen. „Wer sagt: 10 Medikamente sind zu viel, greift zu kurz“, kritisiert Rémi. Es könne sein, dass auch bei 10 Arzneimitteln jedes einzelne in der aktuellen Situation noch sinnvoll sei. Die Sinnhaftigkeit einer Therapie gelte es aber immer wieder im aktuellen Patientenkontext zu evaluieren. „Was heute noch richtig ist, kann morgen schon falsch sein“, sagt Rémi.
Der Prozess des Weglassens von Medikamenten sei zeitaufwändig, schreiben Morin und seine schwedischen Kollegen. Eine intensive Kommunikation zwischen Arzt und Patient sei notwendig, um herauszufinden, ob die verschriebenen Medikamente und Behandlungsmaßnahmen und ihr möglicher Nutzen zudem überhaupt noch mit den Vorstellungen übereinstimmten, die der Patient selbst habe.
Medscape Nachrichten © 2019
Diesen Artikel so zitieren: Schwer krebskranke alte Menschen bekommen häufig präventive Medikamente mit für sie zweifelhaftem Nutzen verschrieben - Medscape - 29. Apr 2019.
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