Wenn die Rendite über die Beatmung entscheidet: AWMF entwirft Positionspapier für eine patientenorientierte Medizin

Heike Dierbach

Interessenkonflikte

23. April 2019

Berlin – Die Leitlinie empfiehlt, dass Patienten auf der Intensivstation möglichst früh von der Beatmung entwöhnt werden sollen. Doch für einen nicht-beatmeten Patienten bekommt die Klinik weniger Geld – zugleich erfordert die Entwöhnung mehr Personalzeit.

„Das ist ein typisches Beispiel für einen Fehlanreiz, der durch das DRG-Abrechnungssystem entsteht“, sagt Dr. Monika Nothacker, stellvertretende Leiterin des Instituts Medizinisches Wissensmanagement der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).

Gegen die zunehmende Dominanz wirtschaftlicher Interessen bei medizinischen Entscheidungen wendet sich die AWMF jetzt mit einem Positionspapier [1]. Sie fordert unter anderem den Abbau von Krankenhaus-Überkapazitäten in Deutschland, eine bessere Vergütung der sprechenden Medizin und die Abschaffung bonusabhängiger Chefarztverträge.

Einfluss der Ökonomie auf die Medizin ist Alltag

„Medizin und Ökonomie schließen sich nicht grundsätzlich aus“, sagt Prof. Dr. Rolf Kreienberg, Präsident der AWMF und ehemaliger Direktor der Frauenklinik der Universität zu Ulm. Eine effiziente Verwendung von solidarisch finanzierten Ressourcen sei durchaus geboten. „Aber ökonomische Interessen dürfen medizinische Entscheidungen nicht unangemessen beeinflussen.“

 
Ökonomische Interessen dürfen medizinische Entscheidungen nicht unangemessen beeinflussen. Prof. Dr. Rolf Kreienberg
 

Genau dies werde aber durch die jetzigen Rahmenbedingungen gefördert. In einer Studie der Universität Bremen und der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin sagen fast alle befragten Ärzte, dass es in ihrer Klinik Alltag sei, dass betriebswirtschaftliche Interessen Einfluss auf medizinische Entscheidungen haben. „Die patientenzentrierte, wissenschaftlich begründete Versorgung und das Vertrauen in Ärzte sind gefährdet“, sagt Nothacker.

 
Die patientenzentrierte, wissenschaftlich begründete Versorgung und das Vertrauen in Ärzte sind gefährdet. Dr. Monika Nothacker
 

Die AWMF macht verschiedene Gründe für diese Schieflage aus. Zum einen gebe es zu viele Krankenhausbetten in Deutschland und zu viele kleine Kliniken. Man könnte sagen: Der „Kuchen“ an Patienten reicht nicht für alle Kliniken.

Hinzu kämen die genannten Anreize durch das DRG-System. Diese führten nicht nur dazu, dass Leistungen durchgeführt werden, die medizinisch gar nicht notwendig sind – es werden auch notwendige Leistungen seltener angeboten, weil sie weniger lukrativ sind.

Und schließlich müssten DRG-Mittel aus der Versorgung abgezweigt werden, um Investitionen in die Infrastruktur querzufinanzieren. Diese sollen eigentlich die Länder sichern. „Diese Finanzierung findet aber nicht in dem Maße statt, wie sie eigentlich vereinbart wurde“, sagt Dr. Manfred Gogol, AWMF-Präsidiumsmitglied und Chefarzt der Klinik für Geriatrie im Krankenhaus Lindenbrunn in Coppenbrügge. Profitorientierte Kliniken wollen zudem noch eine Rendite ausschütten.

Wege zur patientenorientierten Medizin

Wie lässt sich also der Einfluss der Ökonomie am Krankenbett zurückdrängen? „Es gibt dafür nicht den einen Hebel“, sagt Nothacker, „man muss an vielen Stellen gleichzeitig ansetzen.“ Neben dem Abbau von Überkapazitäten müsse das DRG-System angepasst werden. „Die Vergütung sollte sich dabei an einem Modell der patientenorientierten Medizin orientieren.“

Ein Beispiel: Derzeit werde die ambulante Versorgung in der Notaufnahme nicht kostendeckend vergütet. Lukrativ werde es erst, wenn der Patient stationär aufgenommen wird. „Solche Anreize müssen reduziert werden.“

 
Privat geführte Krankenhäuser sollten ausschließlich im Sinne von Non-Profit-Unternehmen geführt werden. AWMF
 

Umgekehrt brauche es mehr Mittel für das Gespräch mit dem Patienten. Profite aus DRG-Mitteln zu erwirtschaften, lehnt die AWMF ab: „Privat geführte Krankenhäuser sollten ausschließlich im Sinne von Non-Profit-Unternehmen geführt werden“, heißt es in dem Positionspapier.

Krankenhäuser bräuchten eine Führungsstruktur, die den Einfluss von Evidenz und Leitlinien stärkt: „Die Abschaffung fallzahl-bezogener Chefarztverträge, die seit langem gefordert wird, ist unbedingt durchzusetzen“ – hier sei im Zweifel auch der Gesetzgeber gefragt, so die AWMF. Die ärztliche und pflegerische Leitung brauche in begründeten Fällen ein Vetorecht, etwa wenn Versorgungsqualität oder Patientensicherheit betroffen sind.

 
Die Abschaffung fallzahl-bezogener Chefarztverträge, die seit langem gefordert wird, ist unbedingt durchzusetzen. AWMF
 

Und schließlich brauche es für eine gute Qualität auch ausreichend Personal: „In den vergangenen Jahrzehnten wurden viele Berufsgruppen im Bereich Pflege, Physio- und Ergotherapie nicht ausreichend wertgeschätzt“, sagt Gogol. Die Folge: Viele seien in andere Bereiche abgewandert und fehlen nun für die Versorgung.

Patienten besser informieren

Ein weiterer Hebel, um die Versorgung stärker am Patienten auszurichten, ist die gemeinsame Entscheidungsfindung. Aber wie kann der Patient dafür ausreichend informiert werden – schließlich liest er ja keine Leitlinien?

Das tut er vielleicht doch, wenn man sie ihm in verständlicher Form präsentiert. Die AWMF hat dazu mehrere „Patientenleitlinien“ herausgegeben, etwa zu HIV-Infektion. „Das können wir aber bisher nur im Rahmen von Programmen, die extra finanziert werden“, sagt Nothacker.

Es sei auch nicht notwendig, dass der Patient alle Inhalte einer Leitlinie lese. „Aber man kann die Punkte, die entscheidungsrelevant sind, zusammenfassen und laienverständlich darstellen.“

Immerhin: Die allermeisten Ärzte wissen, dass wirtschaftliche Interessen eigentlich im Zweifel hintenan zu stehen haben – und sie sind nicht glücklich mit dem Status Quo. In der Studie äußerte sich kein einziger Arzt positiv über den großen Einfluss der Ökonomie.

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....