„Zu normal, um Besorgnis zu erregen“ – Patienten mit Hirntumoren schildern für Studie ihre ersten Krankheitsanzeichen

Antje Sieb

Interessenkonflikte

18. April 2019

Die ersten Anzeichen für einen Hirntumor können sehr unterschiedlich und unspezifisch sein. Welche Anzeichen der Krankheit ihnen als erstes aufgefallen sind und was sie schließlich veranlasst hat, den Arzt aufzusuchen – dazu haben britische Wissenschaftler 39 erwachsene Hirntumor-Patienten vor ihrer anstehenden Operation detailliert befragt [1]. Dr. Suzanne E. Scott vom Londoner King’s College und ihre Kollegen wollten damit die Möglichkeiten für eine Früherkennung von bösartigen Hirntumoren verbessern.

Ob die Untersuchung allerdings tatsächlich dazu beiträgt, die Prognose der Patienten zum Positiven zu verändern, da ist der Hirntumor-Experte und Neurologe Prof. Dr. Wolfgang Wick, ärztlicher Direktor der Abteilung für Neuroonkologie am Universitätsklinikum Heidelberg, skeptisch.

Verzögerter Arztbesuch

Bei allen befragten Patienten wurde ein Gliom diagnostiziert, meist Glioblastome oder andere Astrozytome. Die Studienteilnehmer hatten bei den ersten Anzeichen in der Regel zunächst nicht an einen Tumor gedacht und sehr unterschiedlich lange gewartet, bis sie zum ersten Mal einen Arzt zu Rate zogen.

Nur bei 21% war das bereits innerhalb eines Monats der Fall, ein weiteres Viertel befragte immerhin innerhalb des ersten halben Jahres einen Mediziner. Mehr als die Hälfte aller Patienten ließ dagegen über ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr verstreichen, ohne zum Arzt zu gehen.

Wenig verwunderlich: Waren die Symptome heftiger und anhaltend, dann empfanden die meisten einen Arztbesuch als dringender. Wenn die Beschwerden etwa an einen Schlaganfall denken ließen, war das in der Regel ein Grund für schnelles Handeln. Bei milderen Symptomen, die in eher größeren Abständen auftauchten, tendierten die Patienten zum Aufschieben des Arztbesuches.

Ähnliche Untersuchungen in Deutschland

Um welche Symptome es sich handelte, war dabei sehr unterschiedlich. Neben Kopfschmerzen oder einseitiger Schwäche handelte sich oft um mehrere subtile körperliche oder nicht-somatische Veränderungen. Ein Patient beschrieb zum Beispiel Probleme beim Schalten im Auto. Andere schilderten Konzentrationsprobleme, Taubheitsgefühle oder Wortfindungsstörungen.

Häufig erschienen die kleinen und eher trivialen Veränderungen zu „normal“, um wirklich Besorgnis zu erregen. Sie wurden eher mit Stress, Müdigkeit oder Alter in Verbindung gebracht als mit einer ernsten Erkrankung. Patienten, die eine chronische Erkrankung wie Diabetes hatten, führten erste Symptome häufig auf die schon bekannte Krankheit zurück und dachten nicht an eine neue Ursache.

Einige Patienten hatten allerdings auch sehr geringe Erwartungen an die Medizin und vermuteten, dass ihnen ohnehin nicht geholfen werden würde. Andere wollten nicht hysterisch wirken oder hatten einfach in der betreffenden Zeit zu viele dringendere Probleme, um kleinen Veränderungen große Aufmerksamkeit zu schenken. Oder die Patienten nahmen lange Wartezeiten auf einen Termin in Kauf, weil sie zu einem bestimmten Arzt wollten.

 
Wir haben keinen Ansatzpunkt für spezielle Muster gefunden. Dr. Simone Goebel
 

Die Psychologin Dr. Simone Goebel hat am Universitätsklinikum Kiel eine ähnliche Studie an 186 Hirntumor-Patienten durchgeführt. Die Ergebnisse sind allerdings bisher nicht veröffentlicht. Im Gespräch mit Medscape berichtet sie, dass sich aus ihren Daten leider keine konkreten Hinweise für Patienten ablesen lassen, die zu einer früheren Diagnose führen könnten. „Wir haben keinen Ansatzpunkt für spezielle Muster gefunden.”

Späte Diagnose die Regel

Auch in Deutschland wird die sehr seltene Diagnose Hirntumor häufig spät gestellt, erklärt Neuroonkologe Wick: „Hirntumore werden erkannt, wenn sie Symptome machen, und das ist natürlich – je nach Lage – oft erst in einer sehr ausgedehnten Phase der Erkrankung der Fall.“ Weil die Tumore oft nicht heilbar sind, bleibt den Patienten dann oft nur noch wenig Zeit.

Doch es gibt auch immer wieder Patienten, die früh von ihrer Krankheit erfahren: „Hirntumore werden auch zum Teil zufällig erkannt, weil eine Kopfschmerz-Abklärung gemacht wird oder man aus irgendeinem Grund ein MRT vom Kopf macht und per Zufall so einen Tumor findet“, sagt der Experte.

 
Früherkennung scheint nicht mit einer besseren Prognose oder besseren Behandelbarkeit einherzugehen. Prof. Dr. Wolfgang Wick
 

Vergleicht man die Prognose solcher Zufallsfunde mit derjenigen von Tumoren, die viel später erst erkannt werden, ergibt sich wenig Anlass zu Optimismus, wie Wick erklärt. „Wir haben zum Zeitpunkt der Diagnose, unabhängig davon, ob das ein Zeitpunkt ist, bei dem der Patient schon starke Symptome hat oder nicht, eigentlich ähnliche Startvoraussetzungen. Also: Früherkennung scheint nicht mit einer besseren Prognose oder besseren Behandelbarkeit einherzugehen.“

Nutzen der Früherkennung nicht abschließend geklärt

Doch sei diese Einschätzung keinesfalls in Stein gemeißelt, denn die bisherigen Studien seien dazu nicht aussagekräftig genug, erklärt Wick: „Das sind insofern keine belastbaren Daten, weil man natürlich sagen muss, das sind wahnsinnig kleine Zahlen. Die paar Leute, die man zufällig findet, mit einem Gehirntumor, sind natürlich im Vergleich zu denen, die erst mit schwerwiegenden Symptomen manifest werden, in der Minderheit.“

Er schränkt aber ein: „Selbst dann, wenn man zum Beispiel sagt, der erste epileptische Anfall ohne weitere neurologische Symptome manifestiert einen möglicherweise sehr kleinen kortikal gelegenen Tumor, im Vergleich zu einem Tumor, der sehr viel Zeit hatte zum Wachsen, auch da haben wir zumindest nicht den Eindruck, dass sich die Prognose dieser Patienten unterscheidet.“

Nutzen oder Schaden?

Wick sieht deshalb zum jetzigen Zeitpunkt keinen Anlass, sich verstärkt um die Früherkennung von Hirntumoren zu bemühen: „Es gibt eine ganze Reihe Patienten, die mir sagen, wenn ich gewusst hätte, was auf mich zukommt, wäre ich sehr froh gewesen, wenn ich noch eine Weile im Ungewissen geblieben wäre.“

 
Dieses Nichtwissen von einem möglicherweise kommenden Ungemach, das sich erst in fünf, zehn Jahren manifestiert, das hat eben auch einen hohen Wert. Prof. Dr. Wolfgang Wick
 

Er ergänzt: „Dieses Nichtwissen von einem möglicherweise kommenden Ungemach, das sich erst in fünf, zehn Jahren manifestiert, das hat eben auch einen hohen Wert. Man kann im Moment keine sinnvollen praktischen Konsequenzen ziehen, und man exponiert Patienten länger gegenüber einer doch sehr unangenehmen Diagnose.”

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....