Hilft Psychotherapie Menschen bestimmter sozialer Milieus mehr als anderen?

Heike Dierbach

Interessenkonflikte

17. April 2019

Berlin Psychotherapie ist für alle Patienten da. Diesen Satz würden vermutlich die meisten Therapeuten unterschreiben. Doch in der Realität finden Patienten aus niedrigen sozialen Schichten seltener den Weg in eine Praxis oder Klinik als Gutsituierte. Diese Tatsache ist in der Psychotherapie seit längerem bekannt – doch führt dies bislang kaum zu Gegenmaßnahmen.

Die Schön Klinik Roseneck in Bayern, eine psychosomatische Akutklinik, hat sich die Mühe gemacht zu prüfen, inwiefern ihre Patienten der sozialen Verteilung in der Normalbevölkerung entsprechen oder nicht. Oberarzt Dr. Ullrich Stattrop erläuterte auf dem Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Berlin die teilweise überraschenden Ergebnisse [1].
 

Vor allem die „sozial-ökologischen“ Patienten kommen

„Bislang gibt es de facto keine tragfähigen Daten zu klinischer Therapie in Abhängigkeit vom sozialen Kontext eines Patienten“, sagte Stattrop, „das zeigt die sozialpolitische Sprengkraft des Themas.“ Für die Studie wurden 2.500 Patienten und ihre Therapieverläufe untersucht.

 
Bislang gibt es de facto keine tragfähigen Daten zu klinischer Therapie in Abhängigkeit vom sozialen Kontext eines Patienten. Dr. Ullrich Stattrop
 

Die Einteilung erfolgte dabei nicht einfach nach Schicht, sondern differenzierter nach den sogenannten Sinus-Milieus. Diese Milieus beruhen auf Fragebögen des Sinus-Instituts in Heidelberg. Sie charakterisieren Menschen auch nach der Schichtzugehörigkeit, aber zusätzlich nach ihrer Werte- und Lebenseinstellung: auf einer Skala von „Tradition“ über „Modernisierung/Individualisierung“ bis „Neuorientierung“.

Aus der Kombination werden 10 verschiedene Milieus abgeleitet. Das Sinus-Institut berechnet zudem regelmäßig, wie viel Prozent der deutschen Bevölkerung sich einem Milieu zuordnen lassen. So sind beispielsweise 10% „Konservativ-Etablierte“ (Oberschicht, Tradition), 13% „Bürgerliche Mitte“ (Mittelschicht, Modernisierung/Individualisierung) und 15% „Hedonisten“ (Untere Mittelschicht, Neuorientierung). Diese Verteilung galt auch als „Normalverteilung“ für die aktuelle Studie.

Im ersten Schritt wollten die Forscher wissen, ob die Milieus in der Klinik Roseneck gleichmäßig vertreten sind. Dazu füllten die 2.500 Patienten einen Sinus-Fragebogen aus und wurden einem Milieu zugeordnet. Die Ergebnisse:

  • Das Milieu „Sozial-Ökologisch“ war stark überrepräsentiert. Während es in der Gesamtbevölkerung nur 7% ausmacht, waren es in der Klinik 35%.

  • Durchschnittlich vertreten, entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil, waren die „Konservativ-Etablierten“, die „Liberal-Intellektuellen“, die Hedonisten und die „Expeditiven“ (eine Art gesellschaftliche Avantgarde, die zum einen die Anforderungen der modernen Leistungsgesellschaft erfüllt, andererseits aber auch ihren Alltag hedonistisch überformt – und bei der jüngeren Generation einen Anteil von rund 20% hat).

  • Seltener den Weg in die Klinik fanden die meisten Milieus der Unterschicht, aber auch die der Bürgerlichen Mitte sowie die in der oberen Mittelschicht verorteten „Performer“.

Schrecken englische Begriffe untere Schichten ab?

Wie kommt es zu dieser unterschiedlichen Inanspruchnahme des Angebots? Dies hat die Studie zwar nicht im Detail erforscht, aber doch Hinweise gefunden. Die Patienten wurden nämlich auch gefragt, ob sie an Burnout litten. Dies beantworteten besonders viele aus den Oberschicht-Milieus mit ja.

Zusätzlich wurden die Teilnehmer gefragt, ob sie sich ausgebrannt fühlen. „Das ist ja eigentlich dieselbe Frage, nur in der deutschen Übersetzung“, sagte Stattrop. Doch hier war plötzlich das unterste Milieu, die „Prekären“, als einziges überrepräsentiert. „Sie fühlten sich offensichtlich vom englischen Begriff zuvor nicht angesprochen“, sagt der Mediziner. Die Gutverdiener hingegen denken offenbar, wenn sie „Burnout“ auf der Klinik-Webseite lesen: „Hier bin ich richtig!“

Im zweiten Schritt analysierten die Forscher die Verteilung jeweils für eine Diagnose:

  • Bei den Patienten mit der (häufigsten) Diagnose Depression war nur noch das Milieu „Adaptiv-Pragmatische“ (Mittelschicht, Neuorientierung) unterrepräsentiert. Überrepräsentiert waren hingegen alle Milieus der Oberschicht und die „Traditionellen“ (obere Unter- und Mittelschicht).

  • Bei Essstörungen verlief die Grenze nicht zwischen oben und unten, sondern zwischen Tradition und Neuorientierung, wobei die traditionsorientierten Milieus unterrepräsentiert waren.

Patienten in prekärer Lage waren am wenigsten zufrieden

Im dritten Schritt verglichen die Forscher den Therapieerfolg nach Milieus. Als Maß galt hier die Gesamtsymptomatik nach dem Brief-Symptom-Inventory (BSI). Ergebnisse:

  • Alle Milieus der unteren Schicht und die bürgerliche Mitte lagen unterhalb des Durchschnitts.

  • Alle Milieus der Oberschicht hatten sich mindestens durchschnittlich gebessert.

  • Besonders profitiert vom Klinikaufenthalt hatten die Liberal-Intellektuellen, die Adaptiv-Pragmatischen und die Expeditiven.

Eine ähnliche Verteilung ergab sich bei der Frage: „Würden Sie die Klinik weiterempfehlen?“ Fast alle Milieus der Oberschicht lagen hier über dem Durchschnitt an Zustimmung, mit Ausnahme der Liberal-Intellektuellen. Hingegen würden alle Milieus der Unterschicht die Klinik seltener als der Durchschnitt weiterempfehlen. Am wenigsten zufrieden waren die Prekären – also das unterste Milieu.

 
Menschen aus bestimmten Milieus werden nicht nur mit geringerer Wahrscheinlichkeit aufgenommen, sie haben wahrscheinlich auch subjektiv und objektiv einen geringeren Therapieerfolg. Dr. Ullrich Stattrop
 

„Menschen aus bestimmten Milieus werden nicht nur mit geringerer Wahrscheinlichkeit aufgenommen“, konstatiert Stattrop, „sie haben wahrscheinlich auch subjektiv und objektiv einen geringeren Therapieerfolg, sind also doppelt benachteiligt.“

Bei der Frage, wie man dies ändern könnte, gab es einige Anregungen aus dem Publikum. Ein Therapeut berichtete, dass er mit zusätzlichen Verfahren wie Kunst- oder Musiktherapie auch bei diesen Klienten gute Erfolge erreiche. Ein anderer wandte ein, dass es gar nicht so schwierig sei, auch Patienten mit sozial schwächerem Hintergrund zu behandeln: „Es liegt an uns selbst, uns an den Klienten anzupassen und die Therapie so zu gestalten, dass sie auch ankommt.“

 

Kommentar

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