München – Das Klientel der Chirurgen wird immer älter. Operationen bei Patienten in der Altersklasse 80+ sind inzwischen keine Seltenheit mehr. Doch es gibt neue Ansätze, solche alte Patienten vor dem Eingriff „fitter“ zu machen. „Blood-Management“ und „Prähabilitation“ heißen Stichworte dazu. Was sich dahinter verbirgt, wurde beim Chirurgenkongress in München erläutert [1].
Inzwischen ist rund jeder 10. Empfänger eines neuen Hüftgelenks 85 oder älter, berichtete PD Dr. Andreas Strauß von der Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Bonn, in einer Sitzung zu Möglichkeiten und Grenzen in der Alterschirurgie, die den Zusatztitel trug: „80 ist das neue 60“.
Tatsächlich sind es oft die Patienten, die auch im hohen Alter noch die Operation einfordern. Weil sie sich von einem neuen Knie- oder Hüftgelenk den Erhalt der Selbständigkeit versprechen oder von der Tumorresektion beim Pankreas- oder Darmkarzinom noch 2 bis 3 zusätzliche Jahre mit den Enkeln.
Endoprothesen bis ins hohe Alter
Und auch in der Chirurgie hat in den letzten 20 Jahren ein Umdenken stattgefunden, berichtete Strauß. Noch in seiner Ausbildungszeit sei man mit Operationen bei Hochbetagten eher zurückhaltend gewesen. Doch inzwischen gelte: „Endoprothesen machen auch in diesem Alter oft noch Sinn. Bei einer sorgfältig selektierten Klientel sind ähnliche funktionelle Ergebnisse zu erreichen wie bei Jüngeren.“
Sein Kollegen Dr. Robert Grützmann, Tumorchirurg am Universitätsklinikum Erlangen, ergänzte für seine Spezialisierung: „Bei neun von zehn Patienten im Alter 85+ mit kolorektalem Karzinom entscheiden wir uns heute für eine Resektion.“ Vor 20 Jahren sei dieser Prozentsatz noch sehr viel geringer gewesen.
Beide waren sich einig, dass selbstverständlich nicht das kalendarische, sondern das biologische Alter für die OP-Indikation entscheidend ist. Und dass Komorbiditäten ein wichtiges Kriterium der Patientenselektion sind. Allerdings, so räumten sie auch beide ein, ist natürlich das Komplikations- und Sterberisiko bei Operationen bei geriatrischen Patienten trotz allem deutlich erhöht.
Bei einer Kongress-Pressekonferenz unterfütterte dies der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) Prof. Dr. Dieter C. Wirtz mit Zahlen: Bei 440.000 jährlich eingesetzten Hüft- und Knie-Endoprothesen in Deutschland waren 40% der Empfänger 75 Jahre oder älter. Aber: „Nach einem primären Kunstgelenkersatz mit Hüft- oder Knie-Totalendoprothese haben Patienten über 80 Jahre eine dreifach höhere Wahrscheinlichkeit perioperativ einen Myokardinfarkt zu erleiden und eine 3,5-fach höhere Wahrscheinlichkeit für eine postoperative Pneumonie.“ Auch Luxationen und Wundheilungsstörungen sowie Nachblutungen sind bei ihnen sehr viel häufiger.
Patient Blood Management: Weniger Transfusionsbedarf
Und hier kommen die Ansätze ins Spiel, die dazu beitragen sollen, das Komplikationsrisiko dieser Patienten zu mindern. Ein Aspekt, den Wirtz nannte, ist das sogenannte Patient Blood Management (PBM). Ziel von PBM ist es, die Patienten optimal auf die OP vorzubereiten und Blutverluste während des Krankenhausaufenthalts zu minimieren. Dazu wird im Vorfeld des Eingriffs der Hämoglobinwert ermittelt. Beträgt er unter 12 mg/dl und ist die Ursache z.B. ein Eisenmangel, wird dieser vor der OP ausgeglichen.
„Mit dem Ergebnis, dass die älteren Patienten dann nach dem Eingriff schneller auf den Beinen sind und vor allem weniger Transfusionen benötigen“, so Wirtz. Eine geringere Transfusionsrate sei nach Studiendaten wiederum mit einer geringeren Sterblichkeit und weniger Pneumonien assoziiert.
Das Frankfurter PBM-Team, in dessen Namen Prof. Dr. Thomas Schmitz-Rixen das Konzept in München vorstellte, hat im vergangenen November eine Meta-Analyse zum Patient Blood Management in „Annals of Surgery“ publiziert. Laut dieser Analyse von 17 Studien mit 235.779 Patienten reduziert PBM den Transfusionsbedarf, die Krankenhausverweildauer, die Komplikationsraten und die Sterblichkeit signifikant.
Daneben nannte Wirtz als weiteren Ansatz, um hochbetagte Patienten für die bevorstehende OP fitter zu machen, die bei ihnen häufige Polypharmazie auf den Prüfstand zu stellen, da jede zusätzliche Arznei das Narkose- und OP sowie postoperative Komplikationsrisiko erhöhen kann.
Außerdem könnten ältere Patienten schon vor dem Eingriff auf die spätere Physiotherapie vorbereitet werden. „Sie üben schon mal, wie sie danach am besten aus dem Bett steigen, welche Bewegungen förderlich sind und welche nicht“, erläuterte Wirtz, der Direktor der Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie an der Universitätsklinik Bonn ist. Laut Studien erlangten Patienten, die präoperativ eine solch physiotherapeutische Schulung erhalten haben, danach schneller wieder ihre Gehfähigkeit.
„Prähabiltation“ – Patienten durch Training fit für die OP machen
Noch einen Schritt weiter geht das Konzept der „Prähabilitation“, das Prof. Dr. Stefan Breitenstein, Chefarzt der Klinik für Viszeral- und Thoraxchirurgie am Kantonsspital Winterthur, in München vorgestellt hat. Es handelt sich dabei um eine Art Reha, die aber vor dem Eingriff stattfindet. Das Ziel ist, durch ein mehrwöchiges Training vor der OP die kardiovaskulären, muskulären und respiratorischen Voraussetzungen bei den Patienten zu verbessern – und damit die postoperative Komplikationsrate zu senken und für eine bessere und schnellere funktionelle Erholung danach zu sorgen.
„Im Idealfall“, so Breitenstein, „umfasst die Prähabilitation physisches Training, Ernährung und psychisches Wohlbefinden.“ Das heißt, das körperliche Training wird durch einen optimierten Ernährungsplan, bei dem Defizite aufgedeckt und ausgeglichen werden (etwa mit proteinreicher Kost) und durch eine mentale Vorbereitung ergänzt, die der Motivation, dem Angstabbau und der Vertrauensbildung dient.
Bislang gibt es allerdings zu diesem Vorgehen kaum Evidenz, räumte der Schweizer Chirurg ein. Einige wenige Studien belegten, dass eine gute körperliche Fitness, die im Rahmen einer Physiotherapie vor der Operation erreicht wird, die Erholung nach dem Eingriff positiv beeinflussen könne.
Für das präoperative Training empfiehlt Breitenstein eine leichte Anstrengung etwa 30 Minuten (oder 3 x 10 Minuten) täglich mit dem Ziel von 150 Minuten pro Woche. Dabei sollten die trainierten Muskelgruppen täglich wechseln, um eine adäquate Erholung zu gewährleisten. Auch Bewegungsziele wie 10.000 Schritte täglich seien hilfreich.
Lungenkrebs-Patienten trainieren auf dem Fahrradergometer
Als Beispiel verwies er auf eine Studie aus dem Jahr 2017 mit 150 Lungenkarzinom-Patienten. Die Hälfte der Patienten absolvierte in den 25 Tagen vor der OP eine „Prähabilitation“, bei der sie 2- bis 3-mal pro Woche unter physiotherapeutischer Aufsicht hoch intensiv auf dem Fahrradergometer trainierten. Die Trainingsgruppe hatte nach dem Eingriff weniger pulmonale Komplikationen und eine bessere Lungenfunktion.
Schon seit dem Jahr 2013 wird am Kantonsspital Winterthur für Patienten mit Erkrankungen des Dickdarms eine „Prähabilitation“ im Rahmen eines standardisierten Behandlungspfades nach den ERAS-Leitlinien (Enhanced Recovery after Surgery) angeboten, berichtete Breitenstein. Dieses Vorgehen wird nun in einer eigenen noch laufenden Studie evaluiert.
Dazu wird eine Patientengruppe, die vor der Operation Physiotherapie erhält, mit einer zweiten (Kontroll-)Gruppe verglichen, die gemäß dem aktuellen Standard behandelt wird, also ohne präoperative Physio. Die Studie ist randomisiert und für die behandelnden Ärzte verblindet. 112 Patienten werden eingeschlossen, von denen die Hälfte vor der geplanten Operation für 2 bis 3 Wochen ein physiotherapeutisches Training absolvieren. 2-mal wöchentlich findet das Training in der Klinik statt, ein drittes wöchentliches Training sollen die Teilnehmer selbst zuhause absolvieren.
Als Endparameter sollen die Morbidität, die Dauer des Klinikaufenthaltes, die Wiederaufnahmerate, die Mortalität und die Kosten erfasst werden. Insgesamt, so Breitensteins Fazit, gebe es bei diesem neuen Ansatz noch viel Forschungsbedarf, etwa was die beste Art und Dauer der Prähabilitation angeht und auch hinsichtlich der Patientenselektion oder dem Einfluss der Operationstechniken.
Medscape Nachrichten © 2019 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Mit 80+ noch unters Skalpell: „Prähabilitation“ und „Blood-Management“ machen alte Menschen für die OP fit - Medscape - 4. Apr 2019.
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