Die Notaufnahmen der Krankenhäuser haben alle Hände voll zu tun. Kein Wunder, denn mehr als jeder 3. Patient mit nicht lebensbedrohlichen Beschwerden würde auch dann in die Notaufnahme eines Krankenhauses gehen, wenn die Praxis des niedergelassenen Arztes nebenan geöffnet hat. Und etwa ein Drittel hat genau dies im Laufe der letzten 5 Jahre auch getan – auf eigene Initiative, ohne Überweisung oder Rettungseinsatz. Das sind Ergebnisse der jüngsten Forsa-Umfrage im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) in Hannover [1].
Ein lange bekanntes Problem wird damit erneut belegt: Viele Patienten bevorzugen die Notaufnahmen, obwohl sie da mit ihren oft geringen Beschwerden gar nicht hingehören, und blockieren womöglich die Einrichtung für die wirklichen Notfälle. Aber wie soll man dieses Problem lösen?

Prof. Dr. Martin Möckel
Sollte man das Versorgungsangebot den Patientengewohnheiten anpassen? Dieser Ansicht ist zum Beispiel Prof. Dr. Martin Möckel, Leiter der zentralen Notaufnahmen, Campus Charité Mitte und Campus Virchow-Klinikum.
Oder soll man – umgekehrt – versuchen, die Patientengewohnheiten zu ändern und dem Angebot anzupassen, wie zum Beispiel die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen fordert?
„116117“ fast unbekannt
Forsa befragte Anfang Januar 2019 telefonisch rund 1.000 Menschen zwischen 18 und 70 Jahren. Die Ergebnisse liegen Medscape vor. Eine der Antworten: Wenn die Praxen geschlossen haben, würden 29% der Patienten (mit nicht lebensbedrohlichen Erkrankungen) in eine Krankenhaus-Notaufnahme gehen und nur 33% zum Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigungen.
An fehlender Information über den Bereitschaftsdienst scheint es aber nicht zu liegen: 78% der Befragten gaben an, schon einmal vom Bereitschaftsdienst gehört oder gelesen zu haben.
Dass man ihn über die Nummer 116 117 telefonisch erreicht, wussten aber die wenigsten – nur 15%. „8 Prozent nennen nur einen Teil dieser Telefonnummer (116 oder 117) oder eine andere Notrufnummer (110 bzw. 112) und 77 Prozent fällt dazu spontan entweder gar keine Telefonnummer ein oder eine komplett unpassende (z. B. 113, 114, 115, 118, 119)“, so die Forsa-Umfrage.
Mehr als 40% der Notaufnahme-Nutzer geben als Grund für ihre Wahl an, dass sie sich im Krankenhaus medizinisch besser versorgt fühlen als in der Arztpraxis. 25% wurden von einem niedergelassenen Arzt in die Notaufnahme geschickt, und 24% waren mit der Hoffnung ins Krankenhaus gegangen, hier schneller behandelt zu werden.
In ihrer Selbstwahrnehmung glauben die Patienten jedoch, nur mit wirklichen Notfällen in die Ambulanzen zu gehen. 83% beziehungsweise 87% geben an, sie würden sich nur mit größeren bzw. schweren Beschwerden an die Notaufnahme wenden, also zum Beispiel bei Verdacht auf Knochenbruch, einem ausgekugelten Arm, Verdacht auf Vergiftung oder Blinddarmentzündung.
Die Patienten oder die Versorgung steuern?
Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) würden das Problem gerne lösen, indem sie „die Patientensteuerung verbessern“, wie Dr. Uwe Köster sagt, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN).
Der Gesetzgeber sollte verbindlich regeln, wie Patienten in verschiedene Versorgungskanäle gewiesen werden können. „Und das leistet das neue Terminservice- und Versorgungsgesetz leider nicht“, so Köster. „Es fasst nur die Nummern der Terminservicestellen und 116 117 zusammen.“
Der Gesetzgeber sei zwar in die richtige Richtung gegangen, aber nicht weit genug. Denn die Patienten würden ein Telefonat schlicht umgehen, indem sie einfach in den Notaufnahmen erscheinen.
Deshalb müsste die Lösung direkt im Krankenhaus ansetzen, so Köster: „Da muss es einen Tresen geben, wo eine Fachkraft eine Triage vornimmt. Und dann müssen die Patienten verbindlich in eine Versorgungsform geschickt werden. Das heißt, Krankenhäuser müssen das Recht bekommen, Patienten zurückzuweisen, wenn sie mit offensichtlichen Bagatellerkrankungen in der Notaufnahme erscheinen.“ Hierzu brauche es klare Vorgaben des Gesetzgebers.
Wandert künftig ein großer Teil der Akutversorgung ins Krankenhaus ab?
Das sieht Möckel von der Berliner Charité anders: Er will nicht die Patienten ändern, sondern das Angebot. „Akutpatienten, die in unsere Ambulanzen kommen, als Bagatellpatienten zu diskriminieren, ist politisch motiviert“, sagt Möckel zu Medscape.
Möckel arbeitet derzeit an einer Studie, die Näheres über diejenigen Patienten ermitteln soll, die die Notaufnahme aufsuchen: „INDEED – Inanspruchnahme und sektorenübergreifende Versorgungsmuster von Patienten in Notfallversorgungsstrukturen in Deutschland“.
Ziel sei die „Schätzung von Häufigkeiten adäquater, inadäquater als auch (potenziell) vermeidbarer und defizitärer Versorgung“, so die Projektbeschreibung. Dazu werden KV- und Krankenhausdaten der Patienten, die in die Notaufnahme kommen, verknüpft.
„Wir wollen zum Beispiel wissen, welche Arztkontakte der Notfallpatient vor und nachher gehabt hat. Geht er in weitere Notaufnahmen? Kommen Patienten mit chronischen Beschwerden erst dann in die Notaufnahme, wenn es ihnen schlechter geht? Und was ist mit den ‚frequent flyern‘, dem Drittel von Ambulanzpatienten, die mindestens zweimal im Jahr kommen? Haben diese Patienten keinen Hausarzt?“
Wie dem auch sei, für Möckel sind seine jährlich 120.000 Patienten in der Ambulanz jedenfalls „Leute, die ein gesundheitliches Problem zügig und komplett klären wollen.“
Ob diese Probleme Bagatellen sind oder nicht, könne sich erst nach der Diagnose zeigen. Würden solche Patienten in die Praxen der niedergelassenen Ärzte geschickt, würden die Wartezeiten und eventuelle Facharztbesuche viel Zeit fressen. „Nach 8 Wochen gibt es dann erst eine Lösung.“
Für die Zukunft erwartet der Notarzt, dass ein großer Teil der Akutversorgung ins Krankenhaus abwandert und dort auch in der Notfallambulanz zur Verfügung steht.
„Dafür werden im Niedergelassenen-Bereich vor allem die chronisch kranken Patienten versorgt“, sagt Möckel. Patienten umzuerziehen, sei indessen fruchtlos, so Möckel: „Die Leute suchen sich das Optimum raus und gehen ins Krankenhaus.“
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Diesen Artikel so zitieren: Überfüllte Notfallambulanzen: Was muss sich ändern – das Patientenverhalten oder die Versorgung? - Medscape - 2. Apr 2019.
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