MEINUNG

Experten-Rat: Neue Ära der Migräne-Prophylaxe mit Antikörpern – wie die Therapie funktioniert, wer sie bekommt

Claudia Gottschling

Interessenkonflikte

27. März 2019

Patienten mit episodischer und chronischer Migräne können künftig auch von einer Injektion mit humanisierten monoklonalen Antikörpern profitieren. Diese richten sich gegen das Neuropeptid Calcitonin-Gene-Related-Peptide (CGRP) oder seinen Rezeptor. Die Blockade des Signalwegs, der wahrscheinlich am Entzündungsgeschehen während eines Migräneanfalls beteiligt ist, soll den Kopfschmerz prophylaktisch verhindern. In der LIBERTY-Studie (Medscape berichtete) reduzierte z.B. der Antikörper Erenumab bei 30 Prozent der Patienten die Zahl der Migräne-Tage pro Monat um mindestens die Hälfte.

Prof. Dr. Hans-Christoph Diener

Inzwischen hat der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) bereits 3 Antikörper gegen Migräne zugelassen (Medscape berichtete). Prof. Dr. Hans-Christoph Diener von der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen in Essen erklärt im Interview, wie die Antikörper die Behandlung der Migräne künftig verändern werden, welche Patienten zu welchem Zeitpunkt dafür in Frage kommen und wer die Therapie durchführen kann.

Medscape: Es gibt für Europa inzwischen 3 zugelassene Antikörper – Fremanezumab (Ajovy®, TEVA GmbH), Erenumab (Aimovig®, Novartis) und Galcanezumab (Emgality®, Eli Lilly) gegen Migräne. Ist es denn schon klar, welche Patienten künftig was bekommen?

Prof. Diener: Bisher ist erst einer der Antikörper (Erenumab) verfügbar. Erenumab ist seit November 2018 in Apotheken erhältlich. Die beiden anderen Antiköroer kommen im Laufe des Jahres in den Markt. Im Moment gibt es hierzulande nur Anwendungsempfehlungen für Erenumab. Der Hersteller Novartis empfiehlt ihn für Patienten mit Migräne, bei denen 4 (bei episodische Migräne) oder 6 (bei chronische Migräne) vorherige Prophylaxe-Therapien entweder versagt haben, nicht vertragen wurden oder kontraindiziert sind.

Außerdem gibt es eine Stellungnahme vom IQWiG. Basierend auf den Daten der LIBERTY-Studie hat man dort für diese Patientengruppe einen erheblichen Zusatznutzen gesehen. Nun warten alle im Moment auf die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hinsichtlich der Kostenerstattung. Möglicherweise wissen wir im April mehr.

Medscape: Wissen Sie, wie viele Patienten in Deutschland bereits den Antikörper bekommen und wie viele ihn künftig noch bekommen könnten?

Prof. Diener: Die aktuelle Zahl der Behandelten kenne ich nicht. Ich vermute, dass die Kollegen am Anfang zurückhaltend sein werden, allein wegen der Jahres-Behandlungskosten. Wahrscheinlich warten die meisten jetzt mal ab, was der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt.

Medscape: Was kostet die Therapie denn?

Prof. Diener: Die Behandlungskosten – der Antikörper wird alle 4 Wochen gespritzt –  liegen bei etwas über 688 Euro pro Monat für 70 mg Erenumab. Übers Jahr macht das 8.260 Euro. Bei der Dosis von 140 mg, die in der LIBERTY-Studie verwendet worden ist, würden die Jahres-Therapie-Kosten sogar bei 16.521 Euro liegen.

Medscape: Wie lange ist eine solche Therapie nötig?

Prof. Diener: Es gilt laut Leitlinien dasselbe wie für andere Formen der Migräne-Prophylaxe. Man probiert sie für 6 bis 12 Monate und pausiert dann, um zu sehen, ob der Patient sie noch braucht.

Medscape: In der LIBERTY-Studie reduzierten sich die Migräne-Tage der Patienten im Schnitt um 4 Tage pro Monat. Unter Placebo allerdings auch schon um 2 Tage. Betrachten Sie dies wirklich als Erfolg, der die hohen Kosten von 688 Euro pro Monat rechtfertigt?

Prof. Diener: Das ist ja ein Mittelwert zwischen denjenigen, die gut ansprechen und jenen, die überhaupt nicht ansprechen. Man muss einfach berücksichtigen, dass es Patienten gibt, die wirklich einen dramatischen Effekt erleben. Bei denen gehen die Kopfschmerztage von 24 auf 3 runter.

Medscape: Mehr als die Hälfte der Patienten spricht aber gar nicht auf Antikörper an. Wie schnell ist denn klar, ob die neue Behandlung wirkt?

Prof. Diener: Das ist ja ein wesentlicher Vorteil der neuen Präparate. Man kann eigentlich in der Regel nach 2-3 Monaten sagen, ob der Patient einen Benefit hat oder nicht. Wenn der Patient wieder zur Arbeit gehen oder eine Frau sich wieder um ihre Kinder kümmern kann, dann wird man sicher weitermachen.

Die Erfahrung mit Botox war ähnlich. Als Botox zugelassen wurde, hatten wir alle furchtbare Angst, es würde jetzt alle Budgets sprengen. Das passierte aber nicht, weil es nur Patienten erhalten haben, bei denen es wirklich indiziert ist. Man sollte bei allen Optionen der medikamentösen Prophylaxe nicht vergessen, dass unsere Leitlinien die Bedeutung der nicht-medikamentösen Therapie herausstellen und empfehlen dasseine Prophylaxe mit Medikamenten eigentlich nur die Zeit überbrücken sollte, bis die nicht medikamentösen Maßnahmen greifen. Sehr viele Patienten kommen z.B. gut zurecht, wenn sie konsequent Sport treiben, Entspannungsverfahren und Stressbewältigung machen. Da kann man auf lange Sicht mehr erreichen als mit Medikamenten.

Medscape: Sind die anderen Antikörper, die nun kommen werden, ähnlich teuer?

Prof. Diener: Wenn man in die USA blickt, wie die Medikamente dort kalkuliert wurden, dann werden die Kosten vergleichbar sein.

Medscape: Hat man schon Erfahrungen, ob bei Therapieversagen mit dem einen Antikörper vielleicht einer der anderen beiden wirkt?

Prof. Diener: Nein.

Medscape: Sind denn die Biologika in der Migräne-Prophylaxe eine Alternative zu Botox-Injektionen, ist das die gleiche Zielgruppe?

Prof. Diener: Was die Kriterien für die Erstattung angeht, weiß man das noch nicht. Das kommt auf die Entscheidung des G-BA an. Botox ist natürlich mit Kosten von ungefähr 1.500 Euro im Jahr deutlich billiger. Ich würde daher sagen, dass man in Zukunft erst mal bei chronischer Migräne Botox ausprobiert. Und bei den 50 Prozent der Patienten, bei denen es nicht hilft, würde man dann auf Antikörper umsteigen.

Medscape: Hat man denn schon eine Idee, warum bei so vielen Patienten die Antikörper keine Wirkung haben?

Prof. Diener: Nein. Auch bei Botox wissen wir überhaupt nicht, warum es bei mehr als der Hälfte der Patienten nicht hilft. Wenn es wirkt, dann ist der Benefit eindeutig. Und beim Rest ist die Wirkung eigentlich gleich Null. Warum wir diesen Schwarz-Weiß-Effekt sehen, wissen wir nicht. Das ist bei den Antikörpern ähnlich.

Medscape: Wer wird denn die Behandlung mit Antikörpern durchführen, Schmerzzentren, niedergelassene Neurologen oder sogar Hausärzte?

Prof. Diener: Das sind ganz schwierige Patienten, bei denen vorherige Therapien schiefgegangen sind. Die erreichen wir in der Regel in Kopfschmerzzentren, Kopfschmerz-Ambulanzen oder bei niedergelassenen Neurologen, die sich auf Kopfschmerzen spezialisiert haben. Das ist definitiv keine Therapie, die der Hausarzt oder der Internist erstmal verschreiben würde. Zumindest in den ersten Jahren.

Medscape: Können die Kosten das Budget, etwa eines auf Kopfschmerz spezialisierten Neurologen sprengen?

Prof. Diener: So lange man den G-BA-Vorgaben folgt und alles gut dokumentiert, muss man keine Angst vor Regress haben.

Medscape: Müssen die Ärzte die Behandlungshistorie ihrer Patienten ausführlich dokumentieren, bevor sie eine Therapie mit Antikörpern beantragen können?

Prof. Diener: Das ist noch nicht bekannt. Wahrscheinlich wird es reichen, wenn der behandelnde Arzt den Verlauf in der Patientenakte dokumentiert. Aber die meisten Ärzte haben die Patienten ja schon lange in Betreuung.

Medscape: Gibt es einen Hype um die neue Therapie-Option, sodass Patienten auch verstärkt danach fragen und sich ein Wundermittel gegen ihr jahrelanges Leiden erhoffen?

Prof. Diener: Patienten fragen natürlich nach. Aber der Hersteller Novartis hält sich aus gutem Grund zurück mit dem Marketing, weil sie abwarten, was der G-BA zur Erstattung sagt, um keine unrealistischen Erwartungen hervorzurufen.

In England hat sich das NICE klipp und klar gegen eine Erstattung ausgesprochen. Sie stützen sich auf Kosten-Nutzen-Analysen. Der Preis von 8.000 Euro sei zu hoch. In Frankreich kann man ebenfalls erwarten, dass die Therapie nicht erstarrtet wird, weil es zu teuer ist. Wenn der G-BA dem IQWiG -Gutachten folgt, wird es wahrscheinlich in Deutschland erstattet werden. Der wesentliche Vorteil der Antikörper ist die extrem gute Verträglichkeit. Es gibt kaum Patienten, die abbrechen. Anders als bei allen anderen Mitteln zur Prophylaxe, da sind Nebenwirkungen ein häufiger Abbruchgrund.

Medscape: Sind die Antikörper die ersten spezifischen Prophylaxe-Mittel?

Prof. Diener: Sie sind die ersten, die mit einem pathophysiologischen Ansatz gezielt entwickelt worden sind. Die Wirksamkeit der anderen Migräne-Mittel zur Prophylaxe wurde immer zufällig entdeckt:  Patienten mit Hypertonie wurden mit Propanolol behandelt, dann kamen die Patienten zurück und haben gesagt, dass ihre Kopfschmerzen besser geworden sind.

Botox wurde initial kosmetisch eingesetzt und Frauen haben dann berichtet, dass sich ihre Migräne gebessert hat. Dann haben wir aber 10 Jahre gebraucht, um herauszufinden, wohin und in welcher Dosis man spritzen muss, um eine Überlegenheit gegenüber Placebo zu zeigen. Man muss schon Erfahrung haben, wie man mit Botulinumtoxin umgeht. Wir setzen ja pro Behandlung 31 Injektionen. Dieser Zeitaufwand wird in unserem Gesundheitssystem nicht bezahlt.  

Medscape: Sind Antikörper-Injektionen auch während einer Schwangerschaft oder bei Komorbiditäten geeignet?

Prof. Diener: Eine Schwangerschaft oder eine geplante Schwangerschaft ist definitiv eine Kontraindikation. Weil etwa ab dem 4. Monat die Plazenta durchgängig für Antikörper wird. Das heißt, sobald eine Frau weiß, dass sie schwanger ist, muss auf jeden Fall die Therapie beendet werden. Das ist aber kein Problem, weil die Antikörper, die nur einmal im Monat gegeben werden, nach sechs Wochen endgültig aus dem Körper verschwunden sind.

Das Zielmolekül CGRP spielt eine wichtige Rolle in der Darm-Mukosa. Aus rein hypothetischen Erwägungen sollten daher Menschen, die eine entzündliche Darmerkrankung wie Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn haben, sie erstmal nicht erhalten. Man weiß noch nicht, ob es in dem Bereich durch die Antikörper zu Veränderungen kommen würde.

Medscape: Eigenen sich die Antikörper theoretisch auch zur Akuttherapie?

Prof. Diener: Nein. Sie werden immer eine Prophylaxe bleiben.  

Medscape: Kann man andere Medikamente parallel nehmen, zusätzlich zu den Antikörpern, etwa bei einer Attacke dann ein Triptan?

Prof. Diener: Ja, das ist kein Problem.

Medscape: Manchmal wird für die neue Prophylaxe-Strategie der Begriff Migräne-Impfung verwendet….

Prof. Diener: Ja, aber das ist ganz falsch. Man kann von Immuntherapie sprechen. Aber es entsteht keine anhaltende Immunantwort. Man muss wissen, dass CGAP ubiquitär im Gehirn vorhanden ist. Dort hat das Peptid offenbar wichtige Funktionen, die wir kaum kennen. Da möchte man nicht eine dauerhafte Veränderung der Physiologie durch einen Impfstoff riskieren.

Medscape: Wann wird die neue Leitlinie kommen, die die Antikörperbehandlung berücksichtigt?

Prof. Diener: Die ist gerade im Moment in Arbeit. Es wird zu jener vom April letzten Jahres eine kurze Ergänzung geben. In einem längeren Appendix werden wir dann dazu die Wissenschaft diskutieren.
 

Kommentar

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