Neuer Therapieansatz bei Depressionen: FDA lässt Ketamin-Nasenspray zu – mit vielen caveats

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

15. März 2019

Die U.S. Food and Drug Administration (FDA) hat ein Enantiomer der Party-Droge Ketamin zur Therapie behandlungsresistenter schwerer Depressionen zugelassen. Der Wirkstoff (S-)Ketamin wird unter dem Namen Spravato™ (Hersteller: Janssen Pharmaceutical Company) vertrieben und als Nasenspray verabreicht [1].

Esketamin gilt als der erste innovative Therapieansatz gegen Depressionen seit 3 Jahrzehnten – damals war Prozac® (Fluoxetin) auf den Markt gekommen.

„Schon seit langem besteht Bedarf an zusätzlichen wirksamen Therapien für behandlungsresistente Depressionen“, betont Dr. Tiffany Farchione, stellvertretende Direktorin der Division of Psychiatry Products im Center for Drug Evaluation and Research der FDA.

„Esketamin ist für therapieresistente Patienten definitiv eine zusätzliche Option“, bestätigt auch Prof. Dr. Gerhard Gründer im Gespräch mit Medscape. Er ist Leiter der Abteilung Molekulares Neuroimaging am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und Leiter des DGPPN-Referates „Psychopharmakologie“. Er verweist darauf, dass der Anteil therapieresistenter Patienten immer noch sehr hoch ist: „30 Prozent ist da schon eine realistische Zahl.“

Therapieresistente Patienten reagieren nicht auf traditionelle Antidepressiva wie den Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Fluoxetin und den Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Duloxetin. Gleichzeitig haben Patienten wenig Alternativen, denn alle gängigen Antidepressiva wirken auf die gleichen 3 Neurotransmitter: Serotonin, Dopamin und Noradrenalin.

Ketamin dagegen hemmt die Andockstelle für den Nervenbotenstoff Glutamat im Gehirn. Ein Vorteil ist auch, dass seine Wirkung sofort einsetzt. Bei herkömmlichen Antidepressiva kann es Wochen bis Monate dauern, bis ein Effekt spürbar ist.

In ihrer Überprüfung hatte die FDA Esketamin auf Grundlage von 5 von Janssen vorgestellten klinischen Studien bewertet. Allerdings zeigten nur 2 der Studien signifikante positive Ergebnisse im Vergleich zu Placebo.

 
Esketamin ist für therapieresistente Patienten definitiv eine zusätzliche Option. Prof. Dr. Gerhard Gründer
 

In einer Studie besserten sich bei rund 53% derjenigen, die einen Monat lang Esketamin 2-mal wöchentlich verwendeten, die depressive Symptomatik deutlich – bei denjenigen, die ein Placebo nahmen, waren es 39%.

Die andere Studie zeigte, dass Menschen, die zunächst auf Esketamin ansprachen, einen Rückfall erlitten, wenn sie auf ein Placebo umgestellt wurden. Patienten dagegen, die das Mittel weiterhin bekamen, erlitten keinen Rückfall.

Bis Esketamin für deutsche Patienten verfügbar ist, wird es noch dauern

Die FDA weist in ihrer Mitteilung darauf hin, dass Patienten nach Erhalt des Mittels mindestens 2 Stunden überwacht werden müssen. Sie dürfen das Nasenspray nicht mit nach Hause nehmen, es wird nur in Fachapotheken, Kliniken und Arztpraxen erhältlich sein und muss vor Ort verabreicht werden: „Aus Sicherheitsgründen wird das Medikament nur über ein eingeschränktes Vertriebssystem erhältlich sein und muss in einer zertifizierten medizinischen Praxis verabreicht werden, in der der Patient überwacht werden kann“, betont Farchione.

Im Oktober 2018 hatte der Hersteller auch die Zulassung für Europa bei der EMA beantragt. Mit der europäischen Zulassung des Mittels durch die EMA wird zwar für spätestens Herbst gerechnet, dann aber muss der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) den Zusatznutzen von Esketamin bewerten.

 
Aus Sicherheitsgründen wird das Medikament nur über ein eingeschränktes Vertriebssystem erhältlich sein. Dr. Tiffany Farchione
 

Um einen möglichen Zusatznutzen zu ermitteln, hat der G-BA dem Hersteller geraten, Esketamin in einer Studie mit einem gängigen Antidepressivum zu vergleichen. „Diese Studie fehlt noch. Und bevor die nicht gemacht und abgeschlossen ist, wird Janssen keinen Markeintritt anstreben“, ist sich Gründer sicher. Bis Esketamin auch in Deutschland für therapieresistente Patienten zu Verfügung steht, dürfte es deshalb mindestens bis 2020 dauern.

Spannend wird auch, wie der G-BA die Erstattungsfähigkeit bewertet. Schaut man sich an, wie teuer Esketamin in den USA ist, dürfte jedenfalls reichlich Konfliktpotenzial vorhanden sein. Im ersten Behandlungsmonat betragen die Therapiekosten dort 4.720 bis 6.785 US-Dollar, die Kosten für eine Erhaltungstherapie werden auf 2.360 bis 3.540 US-Dollar pro Monat geschätzt, schreibt Gründer auf seinem Blog.

Kein Wundermittel

Ketamin wurde erstmals in den 1960er-Jahren als Anästhetikum eingesetzt. In den 1990er-Jahren war Ketamin aufgrund seiner dissoziativen Eigenschaften zu einer beliebten Club-Droge geworden.

Die erste Studie über Ketamin als Antidepressivum wurde im Jahr 2000 veröffentlicht, wobei eine Einzeldosis des Medikaments die Symptome von Depressionen bei einer Mehrheit der Patienten dramatisch verbessert hatte. In der Folge entstanden Ketamin-Kliniken, in denen Ärzte Patienten das Medikament off-label verabreichten.

In Einzelfall-Berichten hat sich das Medikament als bemerkenswert wirksam erwiesen, Patienten mit Suizidgedanken berichten darüber hinaus, dass ihnen das Medikament das Leben gerettet habe.

Viele Psychiater und Apotheker sehen die Zulassung als Gewinn für verzweifelte Patienten mit wenigen Therapiealternativen. Doch viele sind auch besorgt wegen der Nebenwirkungen von Ketamin.

Besorgniserregende Nebenwirkungen

„Eine der bekanntesten Nebenwirkungen ist die sogenannte Dissoziation, das bedeutet, dass man keinen Teil des Körpers mehr spürt, man fühlt sich an einem anderen Ort. Und das könnte für einige Leute sehr verstörend sein“, erklärt Steven Meisel, Direktor für Arzneimittelsicherheit bei Fairview Health Services und Mitglied des FDA-Beratungsausschusses.

 
Eine der bekanntesten Nebenwirkungen ist die sogenannte Dissoziation. Steven Meisel
 

Die häufigsten Nebenwirkungen sind daneben Schwindel, Übelkeit, Sedierung, verminderte Emotionen oder Empfindlichkeit, Angst, Lethargie, erhöhter Blutdruck, Erbrechen und Trunkenheitsgefühl. Auch anhaltende Blutdruckveränderungen und Blasenprobleme werden beobachtet.

„Insgesamt denke ich, dass sie [die FDA mit der Zulassungsentscheidung] die richtige Wahl getroffen haben“, sagt Richard Friedman, Professor für Psychiatrie am Weill Cornell Medical College. „Denn therapieresistente Patienten sind eine Gruppe von Menschen, die wirklich krank sind und für die es nur begrenzte Therapeutika gibt. Es steht außer Frage, dass Ketamin eine antidepressive Wirkung hat“, so Friedman, der nicht an der FDA-Empfehlung beteiligt war.

 
Es ist eine Droge, die einer Minderheit von Menschen sehr zugute kommen wird. Steven Meisel
 

Die am FDA-Review beteiligten Wissenschaftler äußern sich dagegen eher zurückhaltend: „Ich denke, dass wir Hoffnungen, es handele sich um ein neues Wundermittel, eindämmen sollten“, betont Meisel und fügt hinzu: „Es ist eine Droge, die einer Minderheit von Menschen sehr zugute kommen wird, und einer Mehrheit von Menschen überhaupt nicht. Bei denjenigen, denen es hilft, könnte es eine dramatische Wirkung entfalten, doch das wird nur einer Minderheit sein.“

Missbrauchspotenzial und Risiko für Nebenwirkungen bestehen

Die Euphorie um Esketamin teilt auch Gründer nicht uneingeschränkt. So weist er in seinem Blog darauf hin, dass Esketamin einen opioidergen Wirkmechanismus haben könnte, was ein Missbrauchspotenzial einschließe.

Das Risiko für Nebenwirkungen und Missbrauch sei nicht unerheblich, betonen auch Meisel und Friedman. Sie glauben dennoch, dass die Vorteile überwiegen: So verüben Menschen mit behandlungsresistenter Depression 15-mal häufiger Suizidversuche als Menschen ohne Depression. Damit könnte eine neue effektive Behandlung buchstäblich Leben retten.

„Das Risiko für Nebenwirkungen ist da. Andererseits ist das Risiko einer unbehandelten, behandlungsresistenten Depression weitaus größer“, sagt Friedman.

 
Weder Ketamin noch Esketamin stellen ‚Lösungen‘ für die steigende Zahl von Suiziden in den USA dar. Prof. Dr. Gerhard Gründer
 

Gründer weist auf einen Bericht der New York Times hin: Die Zeitung hatte 2 Tage nach der Esketamin-Zulassung berichtet, dass Todesfälle aufgrund von Drogenmissbrauch und Suiziden in den USA einen Rekord erreicht haben: Mehr als 150.000 Amerikaner starben im Jahr 2017 aufgrund von Alkohol und Drogen oder begingen Suizid. Fast ein Drittel der Todesfälle (47.173) gingen auf Selbsttötungen zurück.

Diese Zahlen sind doppelt so hoch wie 1999, als die Datenerhebung begann. Starben 1999 noch weniger als 1.000 Amerikaner an einer Überdosis synthetischer Opioide, so waren es 2017 schon 28.000 Todesfälle.

„Esketamin ist sicherlich eine hilfreiche Erweiterung unseres therapeutischen Rüstzeugs bei schweren Depressionen. Ich bin mir aber sicher, dass weder Ketamin noch Esketamin ‚Lösungen‘ für die steigende Zahl von Suiziden in den USA darstellen; diese sind ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Veränderungen, denen sich die Psychiatrie zu stellen hat“, betont Gründer.

 

Kommentar

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