Sie heißen „IMPFEN? NEIN, DANKE!“, Impfen…NEIN danke!!!!!“, „Impffreie Zone“, „Corrupt Vaccines“ oder „Vaccine Abolition Society“. Schrill in Ton und Aufmachung wird vor Vergiftungen durch Impfungen gewarnt, der WHO Fake News unterstellt und der Ständigen Impfkommission des Robert Koch-Instituts (RKI), von der Pharmaindustrie gesteuert zu sein.
Andere – wie „Impfkritik.de“– wirken auf den ersten Blick seriöser. Allerdings nur, bis man sich die Seite genauer anschaut. Es ist aufschlussreich, wer solche Seiten ins Netz stellt: „IMPFEN? NEIN, DANKE!“ beispielsweise wird von einem Reichsbürger betrieben, der 2004 in einer Mail an den Bundestag den Massenmord an den Juden im Dritten Reich bestritten hatte. Der Macher von „Impfkritik.de“ will Homosexualität heilen, zweifelt die Existenz von HIV an und hält Ebola für eine „Erfindung der Pharmaindustrie“.
Doch wie unterschiedlich sich diese Seiten auch geben: Sie alle verbindet, dass sie die Angst vor Impfungen schüren, die die Ständige Impfkommission (STIKO) des RKI empfiehlt.
Menschen, die ihre Kinder auf keinen Fall impfen lassen wollen, sind selten; ihr Anteil liegt in Deutschland zwischen 2 bis 5%, sagt Prof. Dr. Cornelia Betsch, die an der Universität Erfurt zu Gesundheitskommunikation mit Schwerpunkt Impfentscheidung forscht. Ein Drittel der Bevölkerung allerdings gilt als unentschlossen.
Verunsichert werden diese Menschen auch dadurch, dass impfkritische Seiten in sozialen Netzwerken verzerrt über das Thema Impfen berichten. Sucht man z.B. auf YouTube nach „Impfstoffen“, erscheint als erster Treffer ein Video, das eine Debatte zwischen Impf-Befürwortern und Impf-Gegnern wiedergibt.
Als vierter Treffer wird die erste Episode von „The Truth About Vaccines“ gezeigt, einer beliebten Dokumentarserie gegen Impfstoffe. Die Episode verzeichnet fast 1,2 Millionen Aufrufe.
Fake News in sozialen Netzwerken als Pandemie-Risiko
2018 gab es weltweit doppelt so viele Maserninfektionen wie noch 2017. Ursache dafür ist nach Einschätzung von Experten auch eine wachsende Impfskepsis in Europa und den USA. Die Anthropologin Prof. Dr. Heidi Larson erforscht mit dem Vaccine Confidence Project™, wie sich das Vertrauen in Impfungen weltweit entwickelt und wie sich dieses Vertrauen auf die Entscheidung für oder gegen eine Impfung auswirkt.
Im Oktober 2018 schlug Larson in einem Kommentar in Nature Alarm: Soziale Netzwerke wie Facebook müssten die Verbreitung medizinischer Falschinformationen unterbinden, denn Fake News in sozialen Netzwerken stellten inzwischen das größte Risiko für das Entstehen einer Pandemie dar, so Larson. Denn sie hätten das Vertrauen in Impfungen in gefährlichem Ausmaß erschüttert.
Larson berichtet, dass auf den Philippinen das Vertrauen in die Sicherheit von Impfstoffen stark gesunken ist: von 82% im Jahr 2015 auf 21% im Jahr 2018. Der heftige Masernausbruch auf den Philippinen vor wenigen Wochen mit über 130 Toten – 40% davon Kinder im Alter zwischen einem und 4 Jahren – dürfte auch auf diesen Vertrauensverlust zurückzuführen sein.
„Die meisten Fake News zum Thema Impfen werden über die sozialen Medien verteilt“, bestätigt Dr. Natalie Grams, Leiterin des Informationsnetzwerks Homöopathie und Mitglied des Münsteraner Kreises, die Einschätzung Larsons gegenüber Medscape. „Wenn man den Begriff ‚impfen‘ googelt, landet man sehr schnell auf impfkritischen Seiten. Und es wird der Eindruck erweckt, es gäbe wissenschaftlich fundierte Gründe, die gegen das Impfen sprechen“, erklärt Grams.
Wissenschaftlich seriöse Seiten, die über das Impfen informieren, tauchen in Suchmaschinen hingegen eher nachrangig auf. Es fehle die Balance: „Wenn YouTube, Pinterest und Facebook diese durch die angekündigten Maßnahmen wiederherstellen wollen, dann finde ich das gut. Man darf auch nicht vergessen, dass mit Filmen wie ‚Vaxxed‘, die Angst vor dem Impfen schüren, Geld verdient wird“, fügt Grams hinzu.
Änderungen bei YouTube und anderen Plattformen
Plattformen wie YouTube, deren Algorithmen impfkritische Videos hoch listen, reagieren jetzt und haben angekündigt, dass YouTuber, die gegen Impfungen agitieren, künftig keine Werbeeinnahmen mehr über ihre Videos generieren können. Pinterest will künftig generell keine Suchergebnisse mehr zum Thema Impfen anzeigen, und Facebook teilt mit, dass geprüft werde, ob sich Anti-Impf-Kampagnen aus den Softwaresystemen entfernen lassen.
„YouTube ist ein Ort, den Nutzer nicht nur zur Unterhaltung besuchen. Sie kommen auch, um Informationen zu finden, um etwas über Dinge zu erfahren, um zu entdecken und um nachzuforschen“, stellt Sundar Pichai, CEO von Google, klar.
Die Entscheidung von YouTube, gegen die Agitation vorzugehen, erfolgte gleichwohl nicht ganz freiwillig. Mehrere Unternehmen hatten sich offenbar beschwert, dass ihre Spots vor impfkritische Videos geschaltet wurden. Angeblich drohten sie, die Zusammenarbeit mit YouTube zu beenden, sollte sich daran nichts ändern.
Bislang hatte YouTube bei Suchphrasen zur Sicherheit von Impfungen zwar Inhalte von Kinderkrankenhäusern oder vergleichbaren Autoritäten an erster Stelle angezeigt. Die per Algorithmus gesammelten ähnlichen Inhalte führten dann aber zu Videos, die sich gegen Impfungen richten. Dank der eingeblendeten Werbung erhalten die Macher solcher Beiträge sogar Geld dafür.
Einzelfallberichte verzerren Risiko-Wahrnehmung
„Das Internet hat beides – die besten Informationen, sehr gut aufbereitet, und haufenweise Falschinformationen. Das Problem ist, dass die Menschen oft auf impfkritischen Seiten landen und nicht den sachlichen, informativen Seiten“, stellt Betsch im Interview mit Spiegel online fest.
Betsch und ihre Kollegen haben untersucht, was passiert, wenn Menschen auf impfkritischen Seiten nach Informationen suchen. „Wir haben herausgefunden, dass schon eine Suche von 5 bis 10 Minuten das wahrgenommene Impfrisiko signifikant erhöht und die Impf-Intention für viele verschiedene Impfungen senkt“; berichtet Betsch.
Es sind vor allem Einzelfallberichte im Stil von „mein Sohn wurde geimpft und dann ist folgendes passiert...“ im Zusammenhang mit vermeintlichen Impfschäden, die die Risiko-Wahrnehmung beim Lesenden in die Höhe treiben. „Das ist schon eine besondere Art von Information. Und dagegen ist jede Statistik natürlich Schall und Rauch“, betont Betsch.
Die Wahrscheinlichkeit, durch Masern schwer geschädigt zu werden, ist 1.000-mal größer als die Wahrscheinlichkeit eines Impfschadens. Aber: „Wir haben eine kognitive Einstellung und eine affektive Einstellung – und die können auseinandergehen. Ich kann wissen, Impfen ist gut, und ich kann trotzdem sagen: Hoffentlich passiert nichts“, erklärt Betsch in einer Dokumentation auf 3SAT das Dilemma, in dem sich viele Eltern befinden.
„Das Problem ist: Objektiv betrachtet birgt die Krankheit mehr Risiken als die Impfung, doch nicht das objektive Risiko beeinflusst die Impf-Entscheidung, sondern das subjektive Risiko. Was ich selbst wahrnehme, ist sehr leicht verzerrbar – etwa durch Geschichten aus dem Internet oder durch eigene Erfahrungen“, erklärt Betsch.
„Die Autoren dieser Seiten tun oft so, als würden sie die Studienlage aufarbeiten und allgemeinverständlich erklären, was in Fachartikeln steht. Sie suchen sich da aber immer die Rosinen raus – genau wie alle anderen Leute, die Wissenschaft ablehnen, seien es die Klimawandel-Leugner oder andere Verschwörungstheoretiker“, berichtet Betsch in dem Interview mit Spiegel online.
Bestimmte Details würden so aus den Publikationen rausgepickt. Als Laie lese man das und denke: „Endlich hat sich mal jemand die Arbeit gemacht, die kritischen Studien rauszusuchen und zu unterstreichen, was an Datenlage fehlt.“ Letztendlich aber werde auf diesen Seiten völlig vernachlässigt, wie groß der Konsens unter den Wissenschaftlern sei, dass Impfungen sicher und effektiv sind. Dafür gebe es eindeutige Evidenz, betont Betsch.
Ängste und Gefühle von Impfskeptikern ernst nehmen
Sie erinnert daran, dass es wichtig ist, die Ängste und Gefühle von Impfskeptikern ernst zu nehmen: „Diese Menschen wollen ja informiert werden. Haben sie das Gefühl, jemand will sie überreden, dann werten sie das sehr stark ab und machen womöglich komplett dicht.“
Aus ihrer Sicht hilft deshalb nur: aufklären, die Krankheitsrisiken bewusst machen und verbreitete Mythen – Stichwort „Autismus“ durch Impfungen – entkräften. Es lohne sich auch darauf hinzuweisen, welchen gemeinschaftlichen Nutzen Impfungen haben, Stichwort „Herdenschutz“.
Die Impfskepsis hat offenbar zugenommen
Um der Impfskepsis etwas entgegen zu setzen, hatte sich Anfang September 2018 ein breites Bündnis in Paris getroffen. 21 Länder, darunter 17 EU-Mitgliedsstaaten, die EU-Kommission, die WHO und die OECD sowie Vertreter von Universitäten und der Zivilgesellschaft kamen zusammen, um über eine wirksame und langfristige Zusammenarbeit bei impfpräventablen Krankheiten zu beraten.
Die Koordination liegt bei Frankreich. Insgesamt 3,5 Mio. Euro aus einem Gesamtbudget von 5,8 Mio. Euro für die kommenden 3 Jahre kommen aus dem EU-Haushalt.
Impfskepsis wird dabei definiert als zögerliche Akzeptanz oder die Ablehnung von Impfstoffen, obwohl ein Impfservice angeboten wird. Weltweit, so das Bündnis, gebe das schwindende Vertrauen der Öffentlichkeit in Impfungen Anlass zur Besorgnis und stelle eine große Herausforderung für das öffentliche Gesundheitswesen dar.
Impfskepsis führe derzeit in einigen europäischen Ländern zu vermeidbaren Masernepidemien. Europa exportiere die Masern auch in andere Teile der Welt. In einigen EU-Ländern könnte sogar Kinderlähmung (Polio) wieder ausbrechen, eine Krankheit, die in der EU eigentlich schon als ausgerottet galt.
Fatale Folgen von Kampagnen radikaler Impfgegner
Erst Ende Januar 2019 hatte die WHO die Verzögerung oder Vermeidung von Impfungen als eine der „10 weltweit größten globalen Gesundheitsbedrohungen“ bezeichnet (wie Medscape berichtete ). Dazu zählen u.a. auch Ebola, HIV, Antibiotika-Resistenzen oder die Folgen des Klimawandels. „Impfungen sind eine der kostengünstigsten Möglichkeiten, Krankheiten zu vermeiden – sie verhindern derzeit 2 bis 3 Millionen Todesfälle pro Jahr, und weitere 1,5 Millionen könnten vermieden werden, wenn sich global die Impfraten verbessern“, teilt die WHO dazu mit.
Welche fatalen Folgen die Kampagnen von radikalen Impfgegnern haben können, beschreibt die japanische Ärztin und Journalistin Dr. Riko Murakana in einem Gastbeitrag auf MedWatch . Murakana hatte vergeblich versucht, in Japan einen „Anti-Impf-Tsunami“ gegen die HPV-Impfung aufzuhalten. Unwissenschaftliche Behauptungen von Impfgegnern über angebliche Nebenwirkungen der HPV-Impfung lösten dort Zweifel und Verunsicherung aus und senkten die Impfquote drastisch: von über 70% auf unter 1%.
Murakana hat für ihren Mut und ihr Engagement für die Wissenschaft von Nature einen Preis erhalten. In ihrer Heimat aber werden sie und ihre Familie beschimpft, durch einen Impfgegner verklagt und ihre Texte von vielen Zeitungen nicht mehr veröffentlicht.
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Diesen Artikel so zitieren: Impfkritische Seiten: Soziale Medien erweisen sich als Fake-News-Schleuder - Medscape - 15. Mär 2019.
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