Luftverschmutzung verkürzt das Leben von Europäern um rund 2 Jahre – das ist das Ergebnis einer Studie von Kardiologen, Umweltmedizinern und Chemikern der Universität Mainz und des Max-Planck-Instituts (MPI) für Chemie, die jetzt im European Heart Journal erschienen ist [1].

Prof. Dr. Thomas Münzel
Ein Wissenschaftlerteam um Prof. Dr. Thomas Münzel, Direktor des Zentrums für Kardiologie der Universitätsmedizin Mainz, und Prof. Dr. Jos Lelieveld, Direktor des MPI für Chemie, bewerteten darin die Gesundheitsrisiken durch Luftschadstoffe neu. Dabei stellten sie fest, dass Luftschadstoffe ein unerwartet hohes Sterblichkeitsrisiko speziell durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen.
Münzel und seine Kollegen aktualisieren mit ihrer Arbeit jüngste Berechnungen der Global Burden of Disease (GBD)-Arbeitsgruppe. Bis vor kurzem ging man aufgrund der GBD-Berechnungen davon aus, dass weltweit durch Luftverschmutzung rund 4,5 Millionen Menschen pro Jahr vorzeitig sterben. Der neu berechnete Wert liegt jetzt bei 8,8 Millionen pro Jahr.
Höhere Krankheitslast durch Luftverschmutzung als angenommen
Allein in Europa sterben demnach jährlich knapp 800.000 Menschen vorzeitig an den Folgen von Luftverschmutzung. Weltweit sind es jährlich etwa 120 Menschen pro 100.000 Einwohner, die vorzeitig den Folgen von verschmutzter Luft zum Opfer fallen, in Europa sogar 133. Laut der Studie beträgt der Wert in Deutschland sogar 154 je 100.000 Einwohner – das ist höher als in Polen, Italien oder Frankreich.
Der größte Anteil der Todesfälle geht dabei nach Ansicht der Wissenschaftler auf verengte Koronargefäße (40%) und Schlaganfälle (8%) zurück. Todesfälle durch Lungenkrebs, Lungenentzündungen und chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen machen zusammen ungefähr 20% aus.
Notwendig wurde die Neu-Berechnung, weil eine kürzlich veröffentlichte Studie die krankheitsspezifischen Gefährdungsraten gegenüber den Werten des GBD deutlich höher ansetzt.
„Unsere Schätzungen übertreffen aktuelle Analysen wie der Global Burden of Disease-Gruppe für 2015 um mehr als den Faktor 2. Wir schätzen, dass die Luftverschmutzung die mittlere Lebenserwartung in Europa um etwa 2,2 Jahre reduziert“, schreiben Münzel und seine Kollegen.
„Unsere Ergebnisse zeigen eine viel höhere Krankheitsbelastung durch Luftverschmutzung als bisher angenommen“, sagt Münzel, der auch Initiator der Stiftung Mainzer Herz ist.
„Luftverschmutzung muss als wichtiger kardiovaskulärer Risikofaktor anerkannt werden, da sie im Körper zusätzliche Schäden durch Diabetes, Bluthochdruck und hohe Cholesterinwerte verursacht. Jetzt ist es noch dringlicher geworden, die Belastung durch Feinstaub weiter zu senken und die Grenzwerte anzupassen“, betont Münzel in einer Stellungnahme der Universität Mainz.
Schlechte Luft gehört zu den bedeutendsten Gesundheitsrisiken
Nach der Neuberechnung der Mainzer Forscher gehört schlechte Luft damit zur Liste der bedeutendsten Gesundheitsrisiken wie Bluthochdruck, Diabetes, Übergewicht und Rauchen. Die WHO schätzt die Mortalitätsrate durch Tabakrauch auf 7,2 Millionen Menschen pro Jahr weltweit – inklusive Passivrauchen. Damit ist Luftverschmutzung ein vergleichbar großer Risikofaktor. Rauchen aber ist individuell vermeidbar, Luftverschmutzung dagegen nicht.
Vor allem Feinstaubteilchen mit einem Durchmesser kleiner als 2,5 Mikrometer (PM2,5) sind die Hauptursache für Atemwegs- und Herzkreislauferkrankungen, betonen die Forscher. Denn diese Partikel können bis in die feinsten Lungenverästelungen vordringen und sind deshalb besonders gefährlich. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass der Europäische Grenzwert für Feinstaub, der für den Jahresdurchschnitt bei 25 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft liegt, viel zu hoch ist“, sagt Münzel. Der Wert liege weit über der Richtlinie der WHO von 10 Mikrogramm pro Kubikmeter.
Ultrafeinstaub – also Teilchen, die kleiner als 0,1 Mikrometer sind – gelangen über die Lunge sofort ins Blut. Kleinstteilchen gehen dabei auch durch die Blut-Hirnschranke ins Gehirn und können bestimmte Areale aktivieren, was zu akuter Blutdrucksteigerung führen könne, ergänzt Münzel.
Je kleiner die Partikel sind, desto wahrscheinlicher sei, dass Feinstaub in die Gefäße gelange und dort Entzündungsreaktionen hervorrufe. Chronische Entzündungsprozesse führen dann dazu, dass die Gefäße verkalken.
„Es macht keinen Sinn, die Grenzwerte für Stickstoffoxide hochzusetzen“, also zu lockern, wie von der Bundesregierung favorisiert. „Es macht mehr Sinn, die Grenzwerte für Feinstaub runterzusetzen, und dann helfen natürlich auch relativ strikte Grenzwerte für Stickoxide“, erklärt Münzel.
Neubewertung der Grenzwerte: Scheuer kassiert eine Abfuhr
Mit Verweis auf die Stellungnahme von Köhler und seinen Kollegen hatte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer von der EU-Kommission eine Neubewertung der Grenzwerte gefordert. Die hat jetzt sein Ansinnen mit deutlichen Worten zurückgewiesen. In einem Brief, der der Süddeutschen Zeitung vorliegt, schreiben 3 EU-Kommissare, dass wissenschaftliche Erkenntnisse rund um Stickstoffdioxid und Feinstaub „immer wieder auf negative Auswirkungen auf die Gesundheit hindeuten“.
„Unser gemeinsames politisches Ziel ist ein Europa, das die Menschen vor Luftverschmutzung schützt, innerhalb eines verständlicherweise dringlichen Zeitrahmens“, schreiben Verkehrs-Kommissarin Violeta Bulc, Umwelt-Kommissar Karmenu Vella und Binnenmarkt-Kommissarin Elżbieta Bieńkowska. Es gebe nun die rechtliche Verpflichtung, die Grenzwerte für die Luftqualität einzuhalten – schließlich hätten das die Mitgliedstaaten „einschließlich Deutschlands“ so beschlossen.
Deutschland aber hinkt den Klimazielen mittlerweile deutlich hinterher: Die Emissionen sind nicht gefallen, sondern gestiegen. Von zuletzt rund 170 Millionen Tonnen Kohlendioxid soll der Verkehrsbereich bis 2030 auf unter 100 Millionen Tonnen reduziert werden.
Schon unmittelbar nach ihrem Erscheinen war die Stellungnahme Köhlers kritisiert worden. Sie stehe in „wesentlichen Teilen in deutlichem Widerspruch zur seit langem von den pneumologischen Fachgesellschaften und Berufsverbänden publizierten klaren Stellungnahmen zur Relevanz von Luftschadstoffen für die Gesundheit, wie beispielsweise dem Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie“, schrieb der Berufsverband der Pneumologen, Schlaf- und Beatmungsmediziner (BdP) in seiner Pressemitteilung.
Inzwischen hat sich auch gezeigt, dass den Berechnungen in der Stellungnahme Rechenfehler zugrunde lagen.
Es gibt auch Kritik: „Musterbeispiel einer Unstatistik“
Für die Studie ermittelten die Mainzer Forscher zunächst die regionale Belastung mit Feinstaub und Ozon mit Hilfe eines etablierten, datengestützten Atmosphären-Chemiemodells. Dann verknüpften sie die Expositionswerte mit krankheitsspezifischen Gefährdungsraten aus epidemiologischen Daten, sowie Bevölkerungsdichte und Todesursachen in den einzelnen Ländern.
Schon vor dem Erscheinen der Studie regte sich allerdings auch Kritik. So bezeichnete die Statistikerin Katharina Schüller das Konzept der „Anzahl vorzeitiger Todesfälle“ als „Musterbeispiel einer Unstatistik“ und schreibt in der „Unstatistik des Monats“: „In Deutschland stirbt kein einziger Mensch an Feinstaub, sondern an Erkrankungen, die durch Feinstaub (mit) verursacht sein können, es aber nicht müssen.“ Hinter den Zahlen, so Schüller weiter, stünden ja nicht nur Daten, sondern Annahmen über die Realität, die mit einer Unsicherheit von 50% verbunden seien.
Auf den Unsicherheitsfaktor der Berechnungen weisen allerdings schon Münzel und seine Kollegen in der Studie hin, sie schreiben: „Die zurechenbare Sterblichkeitsrate von etwa 8,79 Millionen pro Jahr liegt bei einer Gesamtunsicherheit von etwa ±50% vor.“
Feinstaubbelastung sollte ernster genommen werden
Zwar ist die Studie eine Modellrechnung. Doch das Forscherteam sieht in den Ergebnissen Anlass genug, die Feinstaub-Belastung – auch durch Flugverkehr und Ofenheizungen – ernster zu nehmen. „Wir kommen zu dem Schluss, dass die Verbesserung der europäischen Luftqualität eine erreichbare, hochwirksame und daher zwingende Maßnahme zur Gesundheitsförderung ist“, schreiben Münzel und seine Kollegen. Und sie betonen, dass es jetzt noch dringlicher geworden sei, die Belastung durch Feinstaub weiter zu senken und die Grenzwerte anzupassen.
Auch müsse Feinstaub als Verursacher von Herz-Kreislauf-Erkrankungen stärker in den Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie in den Vordergrund gerückt werden.
Weil ein Großteil des Feinstaubs und anderer Luftschadstoffe aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe stammt, plädieren die Wissenschaftler für den Ersatz fossiler Energieträger zur Energiegewinnung. Saubere, erneuerbare Brennstoffe könnten die errechnete Sterblichkeitsrate in Europa deutlich senken.
„Wenn wir saubere, erneuerbare Energien einsetzen, erfüllen wir nicht nur die in Paris getroffenen Vereinbarungen zur Eindämmung der Folgen des Klimawandels“, sagt Lelieveld. „Wir können damit auch die von Luftverschmutzung verursachte Sterberate in Europa bis zu 55 Prozent verringern.“ Weitere Reduzierungen wären aus Sicht der Wissenschaftler durch die zusätzliche Kontrolle anderer industrieller und landwirtschaftlicher Schadstoffquellen möglich.
Medscape Nachrichten © 2019
Diesen Artikel so zitieren: Kostet 2 Lebensjahre und schadet vor allem dem Herzen – Mainzer Forscher bewerten das Risiko durch Luftschadstoffe neu - Medscape - 14. Mär 2019.
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