TIR statt HbA1c und „Closed-Loop“-Systeme im Eigenbau – wie sich die Insulintherapie junger Typ-1-Diabetiker verändert

Dr. Klaus Fleck

Interessenkonflikte

7. März 2019

Berlin – Digitaler Wandel und damit verbundene moderne Techniken sorgen in der Kinderdiabetologie für rasante Veränderungen. „Wir befinden uns in der Mitte eines Hochgeschwindigkeitsprozesses, der entscheidend von den Patienten und ihren Familien gesteuert wird …“, sagte Prof. Dr. Thomas Danne vom Kinderkrankenhaus auf der Bult, Hannover, auf einer Pressekonferenz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Berlin [1]. Die Entwicklung sei aber auch mit großen Herausforderungen für das gesundheitliche Regulationssystem verbunden.

Prof. Dr. Thomas Danne

Zeit im Zielbereich versus HbA1c

Neue Technologien wie kontinuierliche Glukosemessung (CGM), Flash Glucose Monitoring (FGM) und Sensor-unterstützte Pumpentherapie (SuP) haben Danne zufolge gerade bei jungen Diabetikern wegen der alterstypischen Stoffwechselschwankungen besondere Bedeutung.

 
Die Zeit im therapeutischen Glukose-Zielbereich wird den HbA1c-Wert als Kriterium zunehmend ablösen. Prof. Dr. Thomas Danne
 

Ein besonders wichtiger Parameter für die Stabilität der Glukoseeinstellung ist dabei die Zeit im Glukose-Zielbereich (TIR, Time In Range), die mittels CGM/FGM gemessen wird: Sie liefert wichtige Zusatzinformationen, die im HbA1c-Wert als Parameter der Langzeiteinstellung nicht oder nur unzureichend abgebildet, aber für die Therapie entscheidend seien, so Danne. Seine Prognose: „Die Zeit im therapeutischen Glukose-Zielbereich wird den HbA1c-Wert als Kriterium zunehmend ablösen.“

Jeder zweite junge Diabetiker hat eine Insulinpumpe

Anders als erwachsene Typ-1-Diabetiker, die mehrheitlich noch eine intensivierte Insulintherapie per Pen oder Spritze durchführen, werden heutzutage bereits mehr als die Hälfte (51%) der jungen Diabetiker (unter 20 Jahre) mittels Insulinpumpe behandelt – bei Kindern unter 5 Jahren sind es sogar mehr als 90%. Dies geht aus Registerdaten des DPV-Programms (Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation) hervor. Sie sind im aktuellen von DDG und diabetesDE herausgegebenen Deutschen Gesundheitsbericht Diabetes 2019 veröffentlicht.

Für die Pumpe spricht dem Hannoveraner Diabetologen zufolge, dass Insulin in der Basalrate fein dosierbar ist, Mahlzeiteninsulin bei nicht planbarem Essen repetitiv ohne zusätzliche Injektionen gegeben werden kann und auch dabei die Bolusgabe fein dosierbar ist.

Weniger Hypoglykämien und Ketoazidosen

Zu den Vorteilen der Pumpentherapie im Vergleich zur intensivierten Spritzentherapie gehören dem Bericht zufolge auch ein geringeres Risiko für Hypoglykämien und diabetische Ketoazidosen. Ebenso fand sich bei Kindern und Jugendlichen mit Insulinpumpe im Mittel eine bessere Stoffwechseleinstellung.

Vorteile gibt es auch für die Betreuungspersonen von an Diabetes erkrankten Kindern: „Der Vergleich einer Initialbehandlung von Kindern mit einer Insulinpumpe gegenüber der Spritzentherapie zeigte“, so Danne, „dass sich insbesondere die Mütter wesentlich schneller von einer Depression erholen konnten, die oft entsteht, wenn die Familie erstmals mit der Diagnose einer lebenslangen Erkrankung bei ihrem Kind konfrontiert wird.“

Und bei Kindergartenpersonal sei die Hemmschwelle bei der Bedienung einer Insulinpumpe wesentlich geringer als bei Injektionen. Patienten und Angehörige seien dank der technischen Hilfe unabhängiger und eigenständiger, was sich auch auf ihre Lebensqualität auswirke. Allerdings hätten manche Patienten durchaus auch Vorbehalte gegen die Pumpe, etwa Jugendliche in der Pubertät, die mit dem – wenn auch kleinen – Gerät nicht auffallen möchten.

Die Nutzung einer Insulinpumpe muss individuell bei der jeweiligen Krankenkasse beantragt werden. Gegebenenfalls wird nach Konsultation des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen ein ärztlicher Befundbericht angefordert.

 
Das volle Potenzial der Digitalisierung ist meiner Meinung nach noch längst nicht ausgeschöpft. Prof. Dr. Thomas Danne
 

„Die Kostenübernahme durch die GKV variiert regional, im Norden Deutschlands ist sie offenbar einfacher als im Süden“, berichtete Danne. „Den Kosten von Pumpe und Gebrauchsmaterial sollten aber auch ihre Vorteile gegenübergestellt werden. Langfristig könnte dann die Pumpe sogar günstiger als die herkömmliche Insulintherapie sein“, sagte der Hannoveraner Diabetologe im Gespräch mit Medscape.

Closed-Loop-Systeme

Zu den jüngsten, noch lange nicht abgeschlossenen Entwicklungen gehört die Sensor-unterstützte Pumpentherapie (SuP) mit dem Ziel eines in sich geschlossenen Regelkreises (Closed-Loop-System, artifizielles Pankreas). Voraussetzung dafür ist die kontinuierliche Blutzuckermessung. Ein Sensor im Unterhautfettgewebe misst dabei die Glukosekonzentration in der interstitiellen Flüssigkeit.

Closed-Loop-System geben Insulin automatisch bedarfsgerecht über eine Schnittstelle zur Pumpe ab. Bei absehbarem Unterschreiten des voreingestellten Glukose-Schwellenwerts wird die Insulinzufuhr unterbrochen und bei sich erholendem Glukosespiegel wieder aufgenommen.

Seit 2 Jahren ist ein – teilweise automatisches – Hybrid-Closed-Loop-System in den USA und seit kurzem auch in Europa erhältlich. „Hierbei ist bislang zumindest die Basalinsulin-Gabe automatisch geregelt. Der Patient ist damit weitgehend vor nächtlichen Hypoglykämien geschützt, muss tagsüber aber auch weiterhin Nahrungsaufnahme und körperliche Aktivität mit dem System abstimmen“, erläuterte Danne.

In Deutschland könnte ein solches Industrie-gefertigtes teil-automatisches System ab dem kommenden Jahr verfügbar sein. Ob es dann auch erstattet wird, ist Danne zufolge zurzeit noch nicht absehbar.

Closed-Loop-Systeme „Marke Eigenbau“

Einige – und offenbar immer mehr – junge Patienten bauen sich Closed-Loop-Systeme mit Bauteilen aus dem Elektronik-Markt und Anleitungen aus dem Internet bereits selbst: Dabei verschalten diese „Looper“ die Komponenten Glukosesensor, Smartphone bzw. Messgerät und Insulinpumpe.

Empfehlungen zum Umgang von Ärzten mit solchen Patienten enthält ein von der DDG in Auftrag gegebenes „Looper“-Gutachten, in dem überprüft wurde, welche medizin-, straf- und zivilrechtlichen Vorgaben in diesem Zusammenhang zu beachten sind.

Demnach gilt für Ärzte u.a.: Sollte ein Patient von sich aus Interesse an einem selbst gebauten geschlossenen System bekunden oder ein solches System bereits benutzen, ist der Arzt verpflichtet, über den bestimmungswidrigen Gebrauch eines Medizinprodukts und die damit ggf. verbundenen Risiken aufzuklären. Wird diese Pflicht zur therapeutischen Aufklärung verletzt, drohen Haftungsansprüche. Es empfiehlt sich, eine erfolgte Aufklärung zu dokumentieren.

Zu den Risiken für Patienten sagte Diabetologe Danne gegenüber Medscape: „Wir wissen ja von Computerprogrammen, wie schwierig es ist, kleine Programmierungsfehler auszuschließen. Gerade bei Systemen, wo mehrere Menschen in ihrer Freizeit programmieren, kann trotz aller Bemühungen ein kleiner Fehler vorkommen und bei einer automatischen Insulindosierung unter Umständen fatale Folgen haben. Mir sind solche Vorkommnisse bei den Do-It-Yourself-Loopern nicht bekannt, aber es ist natürlich menschlich, dass man im Internet eher Erfolge als Schwierigkeiten postet.“

Auch die bei der DDG-Pressekonferenz anwesende Typ-1-Diabetikerin und Diabetes-Bloggerin Stephanie Haack ist ein solcher bekennender „Looper“ und hat sich ihr System selbst zusammengebaut. „Meine Insulinpumpe wird über eine Smartphone-App teilweise automatisch gesteuert, was bei mir zu fantastischen Ergebnissen geführt hat. Der digitale Wandel hat meine Diabetes-Therapie grundlegend verändert und mir ein großes Maß an Lebensqualität geschenkt. Doch das volle Potenzial der Digitalisierung ist meiner Meinung nach noch längst nicht ausgeschöpft“, zeigte Haack sich euphorisch.

Für ihr Diabetes-Management wünscht sie sich dabei unter anderem, weniger oft in die Diabetespraxis fahren zu müssen und Routinegespräche per Videochats führen zu können, Rezepte elektronisch übermittelt und Befunde in ihrer E-Patientenakte gesammelt zu bekommen. „Auf persönliche Betreuung möchte ich deshalb nicht komplett verzichten, sondern ich möchte sie gezielt nutzen – für medizinische Untersuchungen und persönliche Gespräche mit wertvollem Inhalt“, sagt sie.
 

Kommentar

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