Vor wenigen Monaten wurde die neue S3-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit“ unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) publiziert [1]. Die Leitlinie setzt neue Maßstäbe, ist aber umstritten. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft e.V. (DGSMTW) hatte sich vor der Verabschiedung Bedenkzeit erbeten, die abgelehnt wurde. Das Leitlinienverfahren wurde letztlich ohne die Fachgesellschaft beendet.
Die DGSMTW hat sich inzwischen öffentlich kritisch zu der Leitlinie positioniert. Die Autorengruppe der S3-Leitlinie hat wiederum in einer aktuellen Stellungnahme die Kritik der DGSMTW als haltlos zurückgewiesen. Die Frage darüber, welche Strategien Menschen mit Geschlechtsdysphorie am besten gerecht werden, ohne ihnen im Einzelfall Schaden zuzufügen, bleibt offen.
Medscape stellt in kurzen Zügen die Leitlinie vor und lässt auch ihre Kritiker zu Wort kommen:
Wenn eine Person davon überzeugt ist, dass ihr biologischer Körper nicht ihr eigentlich richtiges Geschlecht präsentiert, spricht man von Geschlechtsinkongruenz. Dieser Begriff hat den früher gebräuchlichen Begriff „Transsexualität“ inzwischen weitgehend abgelöst.
Geschlechtsinkongruenz wird in der ICD-11 nicht mehr als psychiatrische Diagnose aufgeführt, sondern nur noch als „nicht krankheitswertiger Gesundheitszustand“ beschrieben. Krankheitswert hat erst das Leiden an der Diskrepanz zwischen gefühltem und biologischem Geschlecht, das z.B. im DSM-5 mit dem Begriff „Geschlechtsdysphorie“ bezeichnet wird.
Falsches Geschlecht oder verdrängte Homosexualität?
Eine Geschlechtsinkongruenz bzw. -dystrophie kann allerdings viele verschiedene Ursachen haben. Es kann sich um die psychischen Folgen genitaler Fehlbildungen handeln, um eine chromosomale oder hormonelle Erkrankung, um die Folge früherer Traumata wie etwa schwerer Liebesentzug der Eltern wegen eines unerwünschten Geschlechts, um Symptome einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung oder um einen Kompensationsversuch für eine verdrängte oder nicht gestattete Homosexualität. Dies abzuklären und dann das für die einzelne Person optimale Vorgehen zu erarbeiten, ist häufig ein langer, interdisziplinärer Prozess.
Ist eine Geschlechtsdysphorie diagnostiziert, und sind andere Wege, das Leiden am biologischen Geschlecht zu vermindern, gescheitert oder aussichtslos, so sind medizinische Maßnahmen der Angleichung des biologischen an das gelebte Geschlecht eine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen. Die Jahre des Übergangs werden als Transition bezeichnet.
Die Veränderung zum gewünschten Geschlecht verläuft dann bisher in mehreren Stufen. Es ist allerdings möglich, nach jedem einzelnen Schritt festzustellen, dass die Geschlechtsanpassung ausreichend ist, um in einem inneren Gleichgewicht leben zu können: Bei den Stufen 3 und 4 sind Irreversibilität, körperliche Nebenwirkungen, Komplikationen und der Verlust der Fruchtbarkeit zu beachten.
Leben in der gegengeschlechtlichen Rolle im privaten Bereich.
Leben in der gegengeschlechtlichen Rolle im öffentlichen Bereich (Outing).
Blockade der körpereigenen Hormonproduktion. Gegengeschlechtliche Hormongabe.
Operative Interventionen.
A) Mann-zu-Frau: Entfernung von Penis, Hoden und Prostata. Verkürzung und Verlagerung der Harnröhre. Ausbildung einer Klitoris aus der Glans penis. Aufbau von Schamlippen. Ggf. Aufbau einer Neovagina, meist aus der invertierten Haut des Penis. Ggf. Verkleinerung des Schildknorpels, dauerhafte Haar-Epilation, ggf. Gesichtsoperationen.
B) Frau-zu-Mann: Brustentfernung, Entfernung von Eierstöcken und Gebärmutter. Entfernung der Vagina und der Schamlippen. Aufbau von Hodensäcken. Aufbau eines Neo-Penoids meist aus einem Gewebetransplantat aus dem Unterarm. Verlagerung der Klitoris in das Penoid. Verlängerung der Harnröhre bis zum Ausgang des Neo-Penoids.
Vor der Bewilligung hormoneller oder operativer Maßnahmen erwarten die Medizinischen Dienste der Krankenkassen bei gesetzlich krankenversicherten Personen heute in der Regel eine einjährige Erprobungszeit unter psychotherapeutischer Begleitung in der neuen Rolle. Zudem muss ein Psychiater die Diagnose stellen, um sicherzustellen, dass tatsächlich eine transsexuelle Entwicklung vorliegt und andere als diese Maßnahmen nicht zu einer dauerhaften Entlastung führen.
Dieser Gutachtenprozess soll absichern, dass es sich tatsächlich um eine Geschlechtsdysphorie vom transsexuellen Typ handelt, und dass eine Verbesserung der individuellen psychischen Situation nur durch die medizinischen Maßnahmen erreicht werden kann.
Interessen der Patienten im Vordergrund
Entsprechend der neuen S3-Leitlinie sind nun Maßnahmen der hormonellen und operativen Geschlechtsanpassung bei Geschlechtsdysphorie grundsätzlich die Mittel der Wahl; die Entscheidung trifft die Patientin oder der Patient selbst.
Die neue Leitlinie unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung – übrigens keine ärztlich-medizinische, sondern eine sexualwissenschaftliche Fachgesellschaft – unterscheidet sich von allen Vorgängerversionen in erster Linie dadurch, dass sie die Interessen der Patienten in den Vordergrund stellt.
Sie sollen die ärztlichen Maßnahmen im Rahmen einer Transition möglichst ohne Verzögerungen erhalten: „Nach Möglichkeit sollte versucht werden, den diagnostischen Prozess so kurz wie möglich zu halten, um den Leidensdruck nicht unnötig zu verlängern und die Diagnosestellung nicht unnötig hinauszuzögern, da negative gesundheitliche Folgen für die Behandlungssuchenden bei einer Diagnostik von ungewisser Dauer evident sind.“ (S. 22) Die Patienten selbst – und nicht die begutachtenden Ärzte und nicht-ärztlichen Therapeuten – sollen Entscheider in eigener Sache sein.
Grundlage ist die These, dass die Geschlechtsdystrophie einen schweren inneren Leidensdruck einschließlich psychischer Erkrankungen und erhöhter Suizidalität erzeugt. Die beste Maßnahme, um den Leidensdruck zu beseitigen, besteht demnach darin, alle gewünschten Maßnahmen zur Geschlechtsanpassung zügig zu genehmigen und durchzuführen.
In diesem Sinne
fordert die Leitlinie nur noch eine über 6 Monate bestehende, ausgeprägte Diskrepanz zwischen Gender und Zuweisungsgeschlecht (S. 19) vor dem Beginn der somatischen Geschlechtsanpassung,
hält sie selbst bei begleitenden psychischen Störungen eine „Verzögerung körpermodifizierender Behandlungen häufig nicht [für] zielführend“ (S. 22),
fordert sie, dass „Alltagserfahrungen mit dem Wechsel von der bisherigen Geschlechtsrolle in eine andere […] keine notwendige Voraussetzung für den Beginn körpermodifizierender Behandlungen zur Unterstützung einer Transition dar[stellen sollen]“ (S. 46) Das bedeutet, dass zum Beispiel Hormonbehandlung und Mastektomie mit ihren irreversiblen Folgen bereits durchgeführt werden können, wenn der Patient im Alltag noch nie in der neuen Gender-Identität gelebt hat.
Verkürzung aller Entscheidungsschritte problematisch
An dieser Stelle setzt die Kritik der Deutschen Gesellschaft für Sexualmedizin, -therapie und -wissenschaft an. Mit ihrer Forderung nach einer Verkürzung aller Indikations- und Entscheidungsschritte und einer Abschaffung der obligatorischen psychotherapeutischen Begleitung werde die Leitlinie nicht allen Menschen mit Geschlechtsdysphorie gerecht: „Die meisten Personen mit einer Geschlechtsdysphorie dürften von einer psychotherapeutischen Behandlung profitieren, und ihr Leidensdruck dürfte sich signifikant senken lassen. Nur bei Personen mit einer Geschlechtsdysphorie, bei denen unumkehrbar eine Transposition der Geschlechtsidentität erfolgt ist, sind körperverändernde Maßnahmen nicht nur zweckmäßig, sondern auch aus medizinischer Sicht notwendig. Alleine der Wunsch einer Person nach ästhetisch-chirurgischen Eingriffen oder Verschreibung von Hormonen stellt hingegen noch keine hinreichende Indikation für körperverändernde Maßnahmen dar.“
Prof. Dr. Stefan Siegel, Berlin und Nürnberg, Psychiater, Sexualmediziner und Vorstandsmitglied der DGSMTW, betont: „Ein wichtiger Schritt in der Transition ist der Beginn der hormonellen Behandlung, also zunächst eine Blockade der körpereigenen Sexualhormone und danach eine Substitution der gewünschten Hormone. Ein Jahr dauert es, bis man abschließend beurteilen kann, welche Wirkung die Hormone im Einzelfall haben, wie sich Stimme, Körperbau, Muskelmasse, und Fettansatz, Gesichtszüge, Brust und auch die Psyche verändert haben. Es sollte den Patienten die Möglichkeit gegeben werden, vor der Entscheidung für operative Maßnahmen zu überlegen, ob diese Transition vielleicht schon ausreicht, gegebenenfalls ergänzt durch kleinere somatische Maßnahmen wie eine Nadelepilation bei starkem Bartwuchs.“
Zudem würden in der Leitlinie ausreichende Hinweise auf Risiken und Komplikationen der operativen Eingriffe fehlen. Auch werde nicht darauf hingewiesen, dass es keineswegs sicher sei, dass nach der chirurgischen Geschlechtsanpassung Schmerzfreiheit, eine einigermaßen befriedigende genitale Sexualität und eine befriedigende sexuelle Erlebnisfähigkeit erreicht werden können. Solche Komplikationen könnten die Zufriedenheit mit der Transition erheblich verschlechtern.
Die DGSMTW führt aus: „Für besonders problematisch halten wir den Verzicht auf jegliche Alltags-Erprobung des Patienten in der innerlich gefühlten Geschlechtsrolle, der Alltags-Rolle, vor Beginn irreversibler somato-medizinischer Behandlungsmaßnahmen: So [durch die lange Alltagserfahrung] konnte bislang die notwendige diagnostische Sicherheit erreicht werden, um Rückumwandlungsbegehren zu minimieren.
Zwar wird in den Leitlinien auf die Arbeit von De Cuypere und Vercruysse (2009) hingewiesen, die gezeigt haben, dass fehlende bzw. unzureichende und/oder enttäuschende Alltagserfahrungen in der angestrebten Geschlechtsrolle das Risiko einer Re-Transition erhöhen – daraus werden jedoch keine praktischen Schlussfolgerungen gezogen.“
Es sei zu befürchten, so die DGSMTW, dass die bisher geringen Raten von Patienten, die die chirurgische Geschlechtsanpassung bedauert haben, in Zukunft ansteigen werden. Die Leitlinie lasse außerdem, so Siegel, auch die Hinweise außer Acht, dass nach allen geschlechtsanpassenden Maßnahmen weiterhin das Risiko für psychische Erkrankungen und Suizidalität enorm erhöht bleibt – entgegen der Vorstellung vieler Ratsuchender, dass körperverändernde Maßnahmen ein „Wundermittel“ für alle ihre Lebensprobleme darstellen: „Die psychotherapeutische Begleitung bei Geschlechtsdysphorie muss ein zentraler Baustein der Behandlung bleiben und irreversible Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit einer Person durch chirurgische Maßnahmen dürfen nur als letzter Schritt in einer Behandlungskette gesehen werden.“
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Diesen Artikel so zitieren: Geschlechtsinkongruenz: Aktuelle Leitlinie setzt neue Maßstäbe, ist aber umstritten - Medscape - 6. Mär 2019.
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