Nur eine „Alibi-Veranstaltung“? Harsche Kritik von Kinderärzten und Kassen an der Nationalen Reduktionsstrategie

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

26. Februar 2019

Weniger Fett, weniger Zucker und weniger Salz in Lebensmitteln: Für Julia Klöckner, Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, ist die auf freiwilliger Selbstverpflichtung basierende Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie der richtige Weg hin zu gesünderem Essen.

Doch die Strategie ist hoch umstritten: Bereits im Vorfeld der Auftaktsitzung des Begleitgremiums am 12. Februar 2019 hatte die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG) ihre Teilnahme abgesagt. Das Gremium, teilte die DDG mit, sei praktisch wirkungslos. Wissenschaftliche Erkenntnisse würden in den konkreten Reduktionszielen kaum berücksichtigt.

Dem Gremium gehören Verbandsvertreter aus den Bereichen Ernährung, Gesundheit, Lebensmittelwirtschaft, Verbraucherschutz und Wissenschaft ebenso an wie Vertreter von Bundes- und Landesministerien. Das Gremium tritt mindestens einmal im Jahr zusammen. Verbände der Lebensmittelwirtschaft stellen dort ihre geplanten produkt-und branchenbezogenen Zielvereinbarungen vor. Die medizinischen Fachgesellschaften können – wie alle Mitglieder des Gremiums – Hinweise auf zusätzlichen Forschungsbedarf oder Empfehlungen für weitere Maßnahmen geben.

In einem Statement vom 14. Februar 2019 hatte das Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) die Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie als „wissenschaftlich fundierte Strategie“ und als „Ergebnis eines gemeinsamen Prozesses mit Beteiligung … der Wissenschaft“ bezeichnet.

Kein gemeinsamer Prozess

Dagegen verwahren sich jetzt die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG), die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) und der AOK-Bundesverband in einer gemeinsamen Pressemitteilung.

„Mit der Formulierung ‚gemeinsamer Prozess‘ erweckt das Ministerium den Eindruck, es handele sich bei der Erstellung der Reduktionsstrategie um einen partizipativen Prozess der Entscheidungsfindung. Das entspricht nicht den Tatsachen. Wir sind angehört worden, aber unsere evidenzbasierten Empfehlungen pro verpflichtende Maßnahmen sind nicht berücksichtigt worden. Das Ergebnis ist weder ein Konsens, noch hatten wir ein Veto-Recht“, stellt DAG-Präsidentin Prof. Dr. Martina de Zwaan klar.

 
Wir sind angehört worden, aber unsere evidenzbasierten Empfehlungen pro verpflichtende Maßnahmen sind nicht berücksichtigt worden. Prof. Dr. Martina de Zwaan
 

Der AOK-Bundesverband und die DAG fordern, dass vor der geplanten Sitzung im Herbst 2019 klare operationale Zielvorgaben für alle Produktgruppen vorliegen müssen. Die Maßnahmen der Lebensmittelwirtschaft sollten überwacht werden – mit konkreter Zeitplanung und der Vorab-Bekanntgabe von Veröffentlichungsterminen der Ergebnisse der Reformulierungen. „Wir erwarten eindeutige Zielmarken, die sich an international erreichten Reduktionserfolgen mit alternativen politischen Maßnahmen messen lassen müssen: Berechenbarkeit und Transparenz in der Performance und regulatorische Konsequenz bei Underperformance“, betont de Zwaan.

Bislang nur vereinzelt freiwillige Ziele

Auf die gemeinsame Pressemitteilung der Verbände gibt es noch keine Reaktion des BMEL. Dr. Stefanie Gerlach, Pressesprecherin der DAG, rechnet auch nicht damit. Niemand könne derzeit sagen, wie das weitere Vorgehen der Verbände aussieht, wenn es keine klaren Zielvorgaben geben sollte, so Gerlach. „Klar ist derzeit: Das Ministerium will keine Ziele festlegen. Das wäre eine verbindliche Vorgabe, deren Nichteinhaltung auch irgendwie geahndet werden müsste“, sagt Gerlach gegenüber Medscape.

„Bislang liegen nur vereinzelt freiwillige Zielformulierungen vor.“ Letztlich warte man also auf freiwillig formulierte Ziele der Verbände. Doch selbst, wenn diese kämen, könnten sie unbefriedigend sein. „Dazu kommt, dass nicht alle Unternehmen einer Branche in einem Verband organisiert sind und letztlich der Verband auch keine Durchgriffsmöglichkeiten hat: Die Hoheit über die Rezepturen liegt bei den Unternehmen selbst.“

Ministerin Klöckner drohe damit, dass die Fortschritte öffentlich gemacht werden und hoffe so auf den entstehenden Zugzwang. Nur: Wann, in welchem Umfang, wie engmaschig der Prozess transparent gemacht werde, sei ebenfalls offen.

Effektivere Maßnahmen gegen Übergewicht und Adipositas sind notwendig

Die Bemühungen von Landwirtschaftsministerin Klöckner für eine gesunde Ernährung seien anzuerkennen, erklärt PD Dr. Burkhard Rodeck, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Allerdings habe das Treffen des Begleitgremiums der Nationalen Reduktions- und Innovations-Strategie des Ministeriums gezeigt, „dass der Input der Wissenschaft bezüglich gesunder Ernährung kaum bis gar nicht inhaltlich diskutiert wird“.

 
Das sind 7 verlorene Jahre für die derzeit heranwachsenden Kinder. Dr. Sigrid Peter
 

Rodeck und Prof. Dr. Berthold Koletzko, die die DGKJ in den Gesprächen zur BMEL-Reduktionsstrategie vertreten, sehen die freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie schon jetzt dadurch konterkariert, dass einzelne Verbandsvertreter keine Garantie für die Erfüllung dieser Selbstverpflichtung abgeben konnten. „Die Zielvereinbarungen sind zudem nicht konsequent genug, die Strukturen zur Überprüfung der Einhaltung noch nicht etabliert, eine klare Ankündigung von Sanktionen bei Nichterfüllung fehlt“, fasst Rodeck zusammen.

Effektivere Maßnahmen gegen Übergewicht und Adipositas fordert auch der BVKJ: „Wir kritisieren neben der Freiwilligkeit der Strategie und der mangelnden Definition von Obergrenzen kritischer Nährstoffe (Fett, Salz, Zucker) in verpackten Lebensmitteln insbesondere die lange Zeitdauer für die Umsetzung der Reduktionsziele“, sagt Dr. Sigrid Peter, Vizepräsidentin des BVKJ.

„Das sind 7 verlorene Jahre für die derzeit heranwachsenden Kinder – in diesem Zeitraum werden fortgesetzt Fakten für Übergewicht und Adipositas durch überzuckerte Produkte geschaffen! Gerade für Softgetränke benötigen wir eine effektivere Zuckerreduktion als vorgeschlagen – oder eine Softdrinksteuer“, mahnt Peter.

Nicht zufrieden zeigt sich auch die AOK: „Auch unsere Erwartungen an die Strategie des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft bleiben derzeit unerfüllt“, bestätigt Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbands. „Die Zielmarken sind so unambitioniert und unverbindlich, dass mittlerweile der Eindruck einer Alibi-Veranstaltung entstehen kann“, sagt Litsch.

 
Die Zielmarken sind so unambitioniert und unverbindlich, dass … der Eindruck einer Alibi-Veranstaltung entstehen kann. Martin Litsch
 

Sowohl die DAG als auch die DGKJ, der BVKJ und die AOK sind aber bereit, sich weiter konstruktiv im Begleitgremium zu beteiligen: „Wir haben uns auf einen schwierigen und langwierigen Prozess eingelassen, obwohl wir wissen, dass es wissenschaftsbasiert erfolgversprechendere Wege gibt, die Bevölkerung zu unterstützen, die gesunde Wahl zur einfacheren Wahl zu machen und die Lebensmittelindustrie zu motivieren, ihre Rezepturen gesundheitsförderlicher zu gestalten. Diese Lösungen sind derzeit aber politisch nicht gewollt. Dennoch wollen wir weiter gesprächsbereit bleiben“, signalisiert DAG-Präsidentin de Zwaan.

DAG, DGKJ, BVKJ und AOK-Bundesverband erneuern ihre Forderung nach einem generellen Werbeverbot von an Kinder und Jugendliche gerichteter Werbung für übergewichtsfördernde, verarbeitete Lebensmittel sowie nach einer interpretativen, leicht verständlichen Nährwertkennzeichnung auf der Verpackungsvorderseite.

 

Kommentar

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