Eigentlich sollen Schwerstkranke in einer extremen Notsituation in Deutschland tödlich wirkende Betäubungsmittel legal erhalten können – das hat das Bundesverwaltungsgericht (BVG) bereits im Jahr 2017 entschieden. Doch praktisch hat das zuständige Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bisher keinen einzigen Antrag genehmigt, wie der Berliner Tagesspiegel berichtet: Von 123 Anträgen sind bisher 93 abgelehnt worden, 22 Antragsteller starben während der Bearbeitungszeit.
Grund für diese Praxis ist offenbar eine Mitteilung des Gesundheitsministeriums an das BfArM. Die FDP-Bundestagsfraktion kritisiert Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU): „Er ignoriert die Rechtsprechung und stellt sich damit über den Willen schwerstkranker Menschen“, sagt der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Stephan Thomae: „Die persönliche Weisung des Ministers muss zurückgenommen werden.“
Dagegen warnt die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin erneut vor der Abgabe von Betäubungsmitteln zum Suizid: Betroffene bräuchten stattdessen eine „weitgefächerte“ Palliativversorgung.
Deutlicher Brief des Gesundheitsministers ans BfArM
Die Entscheidung des BVG im Jahr 2017 war letztinstanzlich: Der Erwerb eines Betäubungsmittels für eine Selbsttötung sei mit dem Zweck des Gesetzes „ausnahmsweise vereinbar (…), wenn sich der suizidwillige Erwerber wegen einer schweren und unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befindet“.
Diese sei unter anderem gegeben, wenn die Erkrankung „mit gravierenden körperlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen verbunden ist, die bei dem Betroffenen zu einem unerträglichen Leidensdruck führen und nicht ausreichend gelindert werden können“. Praktisch können die Patienten nun beim BfArM die Abgabe von Natrium-Pentobarbital beantragen.
Nach Informationen des Tagesspiegels ließ Spahn aber eine Mitteilung an das BfArM schicken, dass die Anträge versagt werden sollen. Das Anliegen sollte zwar als Bitte formuliert werden. Der Brief sei jedoch als „Erlass gegenüber dem BfArM zu werten“.
Die Antragsteller haben damit de facto weiter keine Chance, Natrium-Pentobarbital zu erhalten – sie müssten gegen die Ablehnung klagen. „Das ist angesichts ihrer Lebensperspektiven geradezu perfide“, sagt Thomae. Die FDP hat einen Antrag in den Bundestag eingebracht, nach dem „bestehende Wertungswidersprüche“ aufgelöst und Rechtssicherheit für Betroffene geschafft werden soll.
Am vergangenen Mittwoch gab es dazu eine Anhörung im Gesundheitsausschuss. Geladen waren unter anderem die Bundesärztekammer (BÄK), der Deutsche Ethikrat, die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS).
Ärzteverbände sehen ausreichende Alternativen
Der Palliativmediziner und DGP-Präsident Prof. Dr. Lukas Radbruch betont: „Auch in verzweifelten Notlagen kann mit den Mitteln der Palliativversorgung das Leiden spürbar gemindert werden.“ Die Praxis zeige, dass ein Sterbewunsch oft auch den Wunsch nach einem Gespräch ausdrücke, „nach alternativen Angeboten und nach einem gemeinsamen Aushalten der bedrückenden Situation“.
Patientinnen und Patienten hätten zudem ein Recht auf Verzicht oder Abbruch jeder Art von lebensverlängernder Therapie, für viele sei auch der freiwillige Verzicht auf Essen und Trinken eine Option. Auch dies könne ein Arzt begleiten. Bei extremen Schmerzen sei eine palliative Sedierung möglich.
Auch die BÄK lehnt den Antrag der FDP ab: „Ärzte leisten Hilfe beim Sterben, aber nicht zum Sterben“, heißt es in der Stellungnahme: „Es darf keine Option ärztlichen Handelns sein, in schwierigen und hoffnungslosen Situationen einem Patienten eine aktive Tötung zu empfehlen oder daran mitzuwirken.“ Um die Leiden von schwer und unheilbar Erkrankten zu lindern und ihnen beizustehen, bestünden „zumutbare Alternativen“.
Für die DGHS nahm unter anderem Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Birnbacher, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Düsseldorf, Stellung. Zwar wüssten die DGHS-Mitglieder durchaus um die Möglichkeiten der modernen Palliativmedizin. Ihre Motive lägen aber nicht primär in der Unerträglichkeit belastender Symptome, sondern im „Nichtertragenkönnen der durch die jeweilige Erkrankung bedingten Verletzung des Gefühls persönlicher Würde“ sowie im Wunsch nach Selbstbestimmung über Art und Zeitpunkt des Todes.
Vizepräsident Prof. Dr. Robert Roßbruch, Honorarprofessor für Gesundheits- und Pflegerecht an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, fordert: „Die Menschenwürde gebietet es, dass der Staat einem schwerstkranken Suizidwilligen nicht nur keine Lebenspflicht abverlangen darf, sondern dass er positiv verpflichtet ist, dafür Sorge zu tragen, dass ein etwaiger Suizidwunsch auch in menschenwürdiger Weise verwirklicht werden kann.“
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Diesen Artikel so zitieren: Trotz BVG-Urteil: Jens Spahn und Ärzteverbände lehnen Vergabe tödlicher Betäubungsmitteln weiter ab - Medscape - 25. Feb 2019.
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