Was ist nur in Deutschland los? Die aktuelle Debatte um die Luftschadstoffe hat viele Ärzte verunsichert und verärgert (Medscape berichtete). Andere sehen Ihre Skepsis endlich bestätigt und applaudieren den Kritikern, die vor einigen Tagen mit einem Brief und einer vorangegangenen Umfrage über ihre Zweifel an Grenzwerten und gesundheitlichen Auswirkungen die Diskussion derart angeheizt hatten, dass sich die Republik scheinbar in zwei Lager gespalten hat, fast wie beim Brexit. Dabei geht es hierzulande um neue Mobilitätskonzepte und eine Politik, die möglicherweise die Bevölkerung nicht ausreichend vor Schadstoffen schützt. Geschürt wird die Kontroverse durch die Angst vor Fahrverboten und einem Abschied vom Dieselauto.

Prof. Dr. Barbara Hoffmann
Nun melden sich die Umweltforscher und Epidemiologen zu Wort und präsentieren wie auf einem Silbertablett einen medizinischen und toxikologischen Faktencheck (siehe Diashow bei Medscape). In wenigen Tagen haben Sie im Namen der Internationalen Gesellschaft für Umweltepidemiologie (ISEE) und der European Respiratory Society (ERS) eine 6-seitige Expertise erstellt, in der sie den aktuellen Forschungsstand zusammengetragen haben. Warum? „Wir erheben die Stimme, um deutlich zu machen, was da gesagt wurde, entbehrt jeder Grundlage“, sagt Prof. Dr. Barbara Hoffmann im Interview mit Medscape über die Expertise und Ihre Eindrücke zu diesem Streit. Die Ärztin und Umweltepidemiologin von der Universität Düsseldorf ist Vorsitzende des Environment and Health Committee der European Respiratory Society und Mitautorin der kurzen und verständlichen Übersicht unter dem Titel „Die Rolle der Luftschadstoffe für die Gesundheit“.
Medscape: Warum haben Sie mit Ihren Forscherkollegen diese Expertise zusammengestellt?
Prof. Hoffmann: Wir wollen damit die Aussagen, die im Moment gestreut werden, explizit entkräften. Die Koautoren dieser Stellungnahme kommen aus der ganzen Welt. Wir erheben die Stimme, um deutlich zu machen: Was da gesagt wurde, entbehrt jeder Grundlage. Wir waren alle der Meinung, dass wir noch einmal genau erklären müssen, wie die Sachlage aussieht.
Medscape: Also eine Reaktion auf die Kritik von Prof. Dieter Köhler und der kleinen Gruppe von Lungenärzten, die mit einer Umfrage Zweifel an den schädlichen Auswirkungen von Luftschadstoffen auf die Gesundheit geäußert haben?
Prof. Hoffmann: Hier steht nicht Meinung gegen Meinung, sondern umfassende Evidenz auf tausenden von Seiten gegenüber einer nicht gestützten Meinung von ungefähr 100 Leuten, die sich auf keine einzige neue Studie oder Datenbasis bezieht. Insofern muss man sie wirklich als private Meinungsäußerung betrachten, die natürlich jedem freisteht. Nur: Das sind klinisch tätige Ärzte, die Patienten diagnostizieren und behandeln können, aber keine Epidemiologen oder Expositionsforscher, die in der Methodik und der Komplexität dieser Studien erfahren sind.
Medscape: Die chemischen Verbindungen, die unterschiedlichen Grenzwerte, die epidemiologischen Hochrechnungen – vielen Leuten ist das zu kompliziert. Können Sie nachvollziehen, dass die Öffentlichkeit anfällig ist für Zweifel und die Suche nach einfachen Wahrheiten?
Prof. Hoffmann: Ja, das kann ich verstehen - die Evidenz, also die tausenden von Studien mit unterschiedlicher Methodik, ist schwer verdaulich und überaus komplex.
Medscape: Liegt es auch daran, dass die Folgen von dreckiger Atemluft nicht sichtbar sind?
Prof. Hoffmann: Ja, natürlich. Genauso wenig sieht man mit bloßem Auge, dass Bewegungsmangel Passivrauchen das Risiko für viele Erkrankungen erhöht. Da muss man schon sehr aufwändige und langwierige Untersuchungen machen, um die Zusammenhänge zu erkennen.
Medscape: Genau diese Berechnungen von Korrelationen werden ja kritisiert.
Prof. Hoffmann: Die Methoden, die wir für die Erforschung von Risikofaktoren benutzen, gehen weit über einfache Korrelationen hinaus, sondern beinhalten Experimente, kontrollierte Expositionsstudien und moderne Beobachtungsstudien in der Bevölkerung. Das sind die Mittel, mit denen wir Fragen nach Risikofaktoren aller Art beantworten. Mit der pauschalen Kritik werden die Grundlagen der Wissensfindung über Risikofaktoren in Frage gestellt.
Auch die Vereinigung der deutschen Epidemiologen macht auf ihrer Internetseite klar, dass die epidemiologischen Methoden, die wir bei der Luftverschmutzung anwenden, genau die gleichen sind, die auch in Studien zu anderen Risikofaktoren eingesetzt werden: Bewegungsmangel, Passivrauchen, Übergewicht, schlechte Ernährung, hoher Blutdruck. Den Einfluss schlechter Ernährung oder eines hohen Blutdrucks auf das Risiko von Erkrankungen wird ohne weiteres akzeptiert, obwohl die Methoden der Wissensfindung die gleichen sind.
Medscape: Was entgegnen Sie auf die Argumente, dass man noch keine Toten durch Luftschadstoffe gesehen hat?
Prof. Hoffmann: Natürlich hat noch niemand einen Toten durch Luftschadstoffe gesehen. Genauso wenig, wie man schon mal einen Toten durch Bewegungsmangel oder schlechte Ernährung gesehen hat. Bei einem einzelnen Todesfall kann man fast nie sagen, wodurch er ausgelöst wurde. Trotzdem wissen wir, dass Risikofaktoren wie Rauchen, Bewegungsmangel oder auch Luftverschmutzung das Risiko für Erkrankungen erhöhen.
Wenn man denkt, weil man noch keinen Toten durch Luftschadstoffe gesehen hat, kann es nicht so schlimm sein zeugt das von Unkenntnis über die Methoden der Forschung. Über dieses Stadium sind wir nach 50 Jahren Risikofaktorenforschung eigentlich schon lange hinaus. Aber solche Äußerungen wirken selbstverständlich aufs Publikum.
Medscape: Es wird auch kritisiert, dass Ingenieure unter den Autoren von Köhlers Positionspapier sind. Was denken Sie über den Vorwurf des Lobbyismus für die Autoindustrie?
Prof. Hoffmann: Ich habe zunächst auf die Inhalte geschaut – wenn diese relevante neue Erkenntnisse liefern, dann ist mir erst mal egal, wer die Autoren sind. Neue Ergebnisse werden in der Wissenschaft immer gerne diskutiert. Aber natürlich wird auch auf die Unabhängigkeit der Forscher geschaut. Wenn z. B. die WHO Experten für die Erstellung von Leitlinien zusammen ruft, dann muss jeder haargenau darlegen, von wo und wem er oder sie unterstützt wird. Leute, die einen offensichtlichen "conflict of interest" haben, werden dann auch vom Stimmrecht bei der finalen Beschlussfassung ausgeschlossen. Aber nur weil jetzt ein Ingenieur dabei ist, der mal von der Autoindustrie bezahlt wurde, ist das für mich kein Kriterium, diese Person wissenschaftlich zu diskreditieren. Für mich lautet die entscheidende Frage: Was legen die Kollegen an wissenschaftlichen Beweisen tatsächlich vor.
Medscape: Und?
Prof. Hoffmann: Da ist nichts! Haben diese Kritiker schon mal irgendwie eine neue Studie zitiert? Ich habe noch keine gesehen. Keine einzige.
Medscape: Wie sehen denn die Reaktionen Ihrer Kollegen im Ausland auf die Debatte in Deutschland aus?
Prof. Hoffmann: Ich wurde von Kollegen aus der ganzen Welt angesprochen, hatte eine kurze Konferenz mit der WHO und mit Mitarbeitern der Europäischen Kommission. Die fragen sich alle, was ist denn da in Deutschland los und schütteln den Kopf. Am verwunderlichsten finde ich, was die Medien daraus gemacht haben. Man hätte mindestens mal nachprüfen müssen, welche Studien der Kritiker zitiert oder ob er überhaupt etwas zitiert, um zu wissen, auf welcher Basis denn die Kritik geäußert wird. Das wurde offensichtlich nicht gemacht.
Medscape: Wenn Sie unseren Verkehrsminister Andreas Scheuer hören, der die Kritik der Pneumologen an den Grenzwerten aufgegriffen hat, bekommen Sie da Wutanfälle?
Prof. Hoffmann: Ich wundere mich schon, dass solche starken Aussagen gemacht werden, ohne zu prüfen, auf welcher Basis sie beruhen. Ich würde mir wünschen, dass die Politik ernstgemeinte Vorsorge und die Bereitstellung von gesunden Lebensbedingungen für die Bevölkerung ins Zentrum ihrer Arbeit stellt.
Medscape: Wenn die Welle abebbt, bleiben die Zweifel im Raum und das Vertrauen in die Wissenschaft ist beschädigt. Wie können Forscher und Ärzte darauf angemessen reagieren?
Prof. Hoffmann: WHO-Vertreter haben mir erzählt, dass sie dieses Muster kennen. Das Streuen von Zweifeln fand damals auch beim Rauchen und einige Jahre später beim Passivrauchen statt. Dadurch wurden die Gegenmaßnahmen enorm verzögert. Nun besteht die Gefahr, dass das Gleiche wieder geschieht. In der Zwischenzeit atmen wir weiter die Schadstoffe ein, anstatt dass die Politik sich darum kümmert, mit den entsprechenden Maßnahmen gesunde Lebensbedingungen zu schaffen.
Medscape: Als Maßnahmen haben wir existierende Grenzwerte, die auch vor der aktuellen Kritik der 100 Pneumologen heiß diskutiert wurden. Nun besteht die Gefahr, dass diese europäischen Grenzwerte ausgehebelt werden. Angeblich, weil die Länder sehr unterschiedlich genau messen und die deutschen Städte angeblich so schlecht bei der Luftqualität abschneiden, weil sie die Fühler zu nah an den Auspuff halten. Ist die Kritik an den Messstellen berechtigt?
Prof. Hoffmann: Es steht im Gesetz genau beschrieben, wie gemessen werden muss. Umgesetzt werden die EU-Vorgaben von den Ländern. Wenn jetzt tatsächlich eine Messstelle trotz bereits erfolgter Prüfung nicht den Vorgaben des Gesetzes genügen sollte, dann sollte man das natürlich ändern.
Medscape: Stehen die Stationen häufig zu nah an der Straße, wo die Menschen die Abgase schlimmstenfalls nur kurzfristig einatmen?
Prof. Hoffmann: Sie dürfen auch etwas weiter weg von der Straße positioniert werden. Aber wenn da Häuser stehen, kann man sie manchmal nicht weiter wegrücken. In Düsseldorf haben wir eine Messstation am Straßenrand der stark befahrenen Corneliusstraße. Direkt dahinter stehen die Wohnhäuser. Sie erfasst repräsentativ das, was die Leute dort im Mittel über ein Jahr einatmen. Bei dem jetzt kritisierten Wert geht es auch nicht um kurzfristige Belastungen, für Menschen, die kurz die Straße entlanglaufen. Man misst stattdessen einen Mittelwert über ein ganzes Jahr, der auf diejenigen einwirkt, die an solchen Straßen wohnen und arbeiten. Da gehen auch die Messungen in der Nacht ein, die deutlich niedriger sind als 40 µg/m3. Das heißt, um einen Jahresmittelwert von 40 zu erreichen, müssen die Werte am Tag im Schnitt deutlich höher sein.
Ich wüsste ehrlich gesagt auch keinen Grund, warum ausgerechnet die Landesumweltämter ein Interesse daran haben sollten, die Messstationen extra dorthin hinzustellen, wo sie nicht den Vorgaben entsprechen und besonders hohe Werte messen.
Wir brauchen ein umfassendes Konzept, um den Verkehr in den Städten zu reduzieren und die Luft sauberer zu machen. Andere Städte machen uns das vor, z. B. Copenhagen, Basel und Barcelona, die alle mit unterschiedlichen Konzepten den Straßenverkehr reduzieren, die Luft sauberer machen und insgesamt zu einer lebenswerteren Stadt beitragen.
Medscape: In Oberbayern liegt nun seit mehreren Wochen an den Straßenrändern Schnee. Ein Wintermärchen. Wenige Tage nach dem Neuschnee säumt alle Landstraßen eine Art schwarzer Trauerrand, der die Luftverschmutzung durch den Verkehr sehr schön visualisiert. Fehlt vielen das Verständnis für Luftverschmutzung, weil man sie selten sieht?
Prof. Hoffmann: Ja, das ist richtig. Man kann Schadstoffe nicht sehen, nicht spüren, nicht riechen. Aber wir atmen sie jeden Tag ein. Auch unsere Kinder. Das ist ungefähr so, wie wenn wir unseren Babys jeden Tag ein Glas Wasser geben und eine kleine Dosis Gift hinein rühren würden. Das würde niemand machen, selbst wenn die Dosis unter dem Grenzwert liegt. Wir sollten das auch nicht mit unserer Luft machen.
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Diesen Artikel so zitieren: Nur heiße Luft? Jetzt mischen sich im Schadstoff-Streit die Umweltmediziner ein: „Die Kritik entbehrt jeder Grundlage!“ - Medscape - 4. Feb 2019.
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