Kollegen-Befragung im Prozess gegen Högel: 100 Tote und keiner will etwas gemerkt haben – was machte die Morde möglich? 

Christian Beneker

Interessenkonflikte

30. Januar 2019

Freundlich und ein lustiger Kollege sei er gewesen –  so  beschreiben die Kollegen den ehemaligen Krankenpfleger Niels Högel. Er steht derzeit im größten deutschen Mordprozess der Nachkriegszeit vor dem Landgericht Oldenburg. Ihm werden 100 Tötungen an Patienten der Intensivstationen des Klinikums Oldenburg und des Krankenhauses Delmenhorst (heute St. Josef Stift) vorgeworfen.

Derzeit werden seine damaligen Kollegen vom Gericht vernommen. Die Frage des Gerichts: Wie konnte Högel vor aller Augen und dennoch unbemerkt töten?

 
Da traut man sich nicht, Fehler anzusprechen. Wer es dennoch tut, gilt als Querulant. Dr. Ruth Hecker
 

So weit bekannt, hat Högel seine Tatserie im Jahr 2000 im Klinikum Oldenburg begonnen. Von 2003 bis 2005 arbeitete er im Krankenhaus Delmenhorst. Högel ist bereits wegen Tötungen von Patienten in Delmenhorst zu lebenslanger Haft verurteilt. In neuerlichen Verfahren werden ihm jene 100 Taten vorgeworfen, von denen er bislang 43 zugibt.

Der angeklagte Pfleger Högel hat den schwer kranken Patienten auf der Intensivstation in Oldenburg offenbar vor allem Kalium gespritzt. So brachte er die Patienten in einen lebensgefährlichen Zustand, um sie dann zu reanimieren – eine Maßnahme, die Högel laut Zeugen besonders gut beherrschte und mit der er nach eigenen Aussagen prahlen wollte. Aber mehr als 100 Mal gelang die Reanimation nicht und die Patienten starben. Tötungen aus Eitelkeit. Glaubt man den Kollegen Högels und auch den Ärzten, die bisher im Zeugenstand waren, so ist fast allen von all dem nichts aufgefallen.

„Ich kann mich nicht erinnern“

„Das weiß ich wirklich nicht“, „Ich kann mich nicht erinnern“ – so oder so ähnlich lauteten viele Antworten von Kollegen auf Fragen des vorsitzenden Richters Sebastian Bührmann. Ein Beispiel ist der damals stellvertretende Stationsleiter der herzchirurgischen Intensivstation in Oldenburg.

„Wir reden über Tote, über Todesfälle! Sie müssen die Wahrheit sagen!“, musste Richter Bührmann ihn schließlich ermahnen. Er könne sich nicht erinnern und verwies auf die Arbeitsbedingungen. „Wenn ich an Bettplatz 1 arbeite, fällt mir nicht auf, was an Bettplatz 15 vor sich geht“, verteidigte er sich. Im Übrigen habe er sich, anders als Högel, „nicht um Reanimationen gerissen.“

Was hatte es mit der Strichliste auf sich, die die Todesfälle auf der Station 211 mit der Anwesenheit der verschiedenen Pfleger verglich? 18 Mal sei Högel im Dienst gewesen, als Patienten starben oder reanimiert werden mussten, so die Liste, die der Richter auf eine Leinwand projizieren ließ.

Obwohl auch der stellvertretende Stationsleiter selbst auf dieser Liste aufgeführt war, habe er nicht darauf geachtet, was dort stand. Und dass manchmal viel reanimiert werde, hänge ja nicht von den Pflegern ab, sagt der Zeuge. Und die hohen Kalium-Werte der Patienten hätten auch von „Abnehmefehlern“ herrühren können.

Am Vortag hatte ein anderer Kollege von Niels Högel ausgesagt und schwere Vorwürfe erhoben. Die Verdachtsmomente seien mehrfach Thema unter den Kollegen gewesen auf der Station. Es habe Gerede gegeben, es sei vom „Todes-Högel“ die Rede gewesen.

All das hielt der Richter dem Zeugen vor. Der habe davon nichts gehört, sagt er. Ihm gegenüber hätten Kollegen keine Verdachtsmomente oder Zweifel ausgesprochen. „Wir haben unzählige Zeugen für die Reanimationen und das hohe Kalium – und Sie haben nichts gewusst?“, drängte noch einmal die Staatsanwältin. „Nein ich habe keine Erinnerung daran“, antwortete der Zeuge.

Die Frage des Gerichts blieb letztendlich unbeantwortet, warum niemand bemerkt hat oder bemerkt haben will, was sich abspielte.

Die Angst, als Querulant zu gelten

Dass die Pfleger vor Gericht möglicherweise Dinge verschweigen, sei erklärbar, meint Dr. Ruth Hecker, Leiterin der Stabsstelle Qualitätsmanagement und klinisches Risikomanagement am Universitätsklinikum Essen und stellvertretende Vorsitzende des Bündnisses Patientensicherheit.

Dass die ehemaligen Kollegen nichts von den Taten bemerkt haben oder bemerkt haben wollen, führt sie „auf eine fehlende Sicherheitskultur“ zurück. „Da traut man sich nicht, Fehler anzusprechen. Wer es dennoch tut, gilt als Querulant“, so Hecker.

Möglicherweise wollten die Mitarbeiter auf der Station in Oldenburg lieber den Konflikt vermeiden als das Patientenwohl durchsetzen. „Auf jeden Fall sind die Pflegenden auf manchen Krankenhausstationen derart unter Druck, dass sie manchmal nicht mehr wissen, was sie tun“, meint Hecker.

„Da werden zum Beispiel Pflegeschüler, die frisch aus der Ausbildung kommen, ohne Einarbeitung in die Nachtschichten geschickt.“ Oder im OP werde auf das sonst übliche Team-Time-Out verzichtet. Und die anwesende OP Schwester traut sich nicht, es einzufordern.

Zeitdruck, geringe Bezahlung und Personalnot als Ursache?

Man benötigt laut Hecker in der Pflege eindeutig mehr Zeit, mehr Personal und eine bessere Bezahlung, um eine funktionierende Fehlerkultur installieren zu können.

 
Es fehlt auf vielen Stationen am Fehlermanagement (…) Prof. Dr. Stefan Görres
 

Allerdings sei auch trotz Zeitdruck, geringer Bezahlung und Personalmangel ein anderer Umgang in der Pflege möglich. „Das merkt man sofort, wenn man in ein Krankenhaus mit Fehlerkultur kommt“, erklärt die Qualitätsmanagerin. „Da wird im Fahrstuhl gegrüßt, da unterstützen die Pflegenden einander und da herrscht ein freundlicher Ton.“

Auch Prof. Dr. Stefan Görres, Pflegewissenschaftler an der Universität Bremen, fordert, auf den Stationen nicht tayloristisch nebeneinander her zu arbeiten, sondern achtsam und aufmerksam miteinander umzugehen. „Es fehlt auf vielen Stationen am Fehlermanagement und wenn es am Fehlermanagement fehlt, fehlt es an Führung“, sagt Görres zu Medscape.

Auch in der Ausbildung von Pflegenden und Ärzten werde eine Fehlerkultur nur unzureichend vermittelt. „Man muss sich eingestehen, dass Fehler täglich zu Hauf passieren“, so Görres. „Zwar ist die Patientensicherheit oberstes Gebot, sie wird aber in den Curricula der Ärzte und der Pflegenden kaum vermittelt“.

Deshalb müsse die richtige Haltung zu Fehlern und Fehlerkultur in den Organisationen selbst gelernt werden, meint der Professor. Und genau das hat es im Krankenhaus Oldenburg anscheinend nicht gegeben.

 

Kommentar

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