Prof. Dr. Dieter Köhler, ehemals Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (DGP), ist derzeit gern gesehener Gast in Talkshows. Geht es nach ihm, sind Stickoxide und Feinstaub in der Atemluft längst nicht so gefährlich wie behauptet und die strengen EU-Grenzwerte wissenschaftlich nicht fundiert.
Gut 100 deutsche Lungenärzte haben die Stellungnahme Köhlers unterzeichnet, die die wissenschaftliche Grundlage der aktuell gültigen Grenzwerte für Feinstaub und NOx in Abrede stellt. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer begrüßte das 2-seitige Papier als „wichtigen Beitrag zur Versachlichung“ der kontroversen Debatte um Diesel-Fahrverbote.
Im ARD-Morgenmagazin sagte Scheuer: „Wenn über 100 Wissenschaftler sich zusammenschließen, ist das schon mal ein Signal.“
Versachlichung? Mit ihrer Unterschrift hätten die Unterzeichner Aussagen unterstützt, die den wissenschaftlichen Erkenntnisstand für einen „Witz“ halten, Forscher, die sich für strenge Grenzwerte einsetzen für „ideologisiert“ bzw. für Angehörige einer „Sekte“ halten und die Debatte um die Grenzwerte auch schon mal mit einer Hexenverfolgung vergleichen, kritisiert Prof. Dr. Kai Michael Beeh in einem Gastbeitrag auf Spiegel Online .
In den vergangenen Tagen wurde eines zumindest deutlich: dass die Unterzeichnenden wohl nicht für die Mehrheit der Lungenärzte sprechen. „Verstörend“ findet es der Bundesverband der Pneumologen, Schlaf- und Beatmungsmediziner (BdP), wenn Ärzte nicht eindeutig für saubere Luft für Patienten und Gesunde eintreten.
„Die Position der jetzt in den Medien als Mehrheitsmeinung dargestellten Gruppe um Prof. Köhler steht in wesentlichen Teilen in deutlichem Widerspruch zur seit langem von der pneumologischen Fachgesellschaften und Berufsverbänden (BdP und DGP) publizierten klaren Stellungnahmen zur Relevanz von Luftschadstoffen für die Gesundheit, wie beispielsweise dem Positionspapier der DGP“, schreibt der Bundesverband der Pneumologen, Schlaf- und Beatmungsmediziner (BdP) in seiner Pressemitteilung.
In dem im vergangenen November erschienenen DGP-Positionspapier heißt es: „Gesundheitsschädliche Effekte von Luftschadstoffen sind sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch bei Patienten mit verschiedenen Grunderkrankungen gut belegt.“ Die DGP fordert deshalb eine weitere deutliche Reduktion der Luftschadstoffbelastung und eine Absenkung der gesetzlichen EU-Grenzwerte.
Blitzumfrage ergibt: Pneumologen wollen Luftbelastung so weit wie möglich herabgesetzt haben
Bezugnehmend auf die Unterzeichner der Stellungnahme stellt der BdP klar, dass diese „keineswegs die Meinung der deutschen Lungenärzte“ repräsentierten und verweist auf die Ergebnisse einer eigenen Blitzumfrage. Für diese sind an 2 Tagen 1.208 Mitglieder des BdP angeschrieben worden. Es antworteten 435 Personen, 93% davon aktuell berufstätig (davon 14% in der Klinik und 86% in einer ambulanten Facharztpraxis):
91% der Befragten halten es für selbstverständlich, dass zum Schutz der Patienten und der Bevölkerung die Luftbelastung so weit wie möglich herabgesetzt werden sollte.
85% stimmen der WHO zu, die kürzlich den Klimawandel und die Luftverschmutzung zu den größten globalen Bedrohungen erklärt hat.
86% stimmen zu, dass eine Diskussion über die Methodik von Studien zur wissenschaftlichen Evidenz von Luftschadstoffen nicht zu einer Bagatellisierung der Auswirkungen von Luftverschmutzung führen darf.
96% finden, dass eine umstrittene Evidenz die Politik dazu verpflichtet, die Verbesserung von Evidenz durch die Wissenschaft zu unterstützen.
77% meinen, dass Stickoxide Marker für schlechte Luft sind: Sie sind Indikatoren für Belastungen der Atemluft und stehen stellvertretend auch für die übrigen, oft wesentlich gefährlicheren Schadstoffe.
Die überwältigende Mehrheit richte ihren Fokus „nicht auf einzelne Grenzwerte, den alleinigen Kampf gegen Dieselabgase oder NO, sondern auf den gemeinsamen sinnvollen Einsatz gegen Luftverschmutzung durch Verbrennungsprodukte im Allgemeinen“, schreibt der BdP.
Dass aber auch unter Pneumologen Uneinigkeit über den richtigen Weg zu sauberer Atemluft besteht, zeigt die Reaktion der Befragten auf folgende Aussage: „Um unsere Atemwegspatienten bestmöglich zu schützen und die Gesundheitsrisiken der Gesamtbevölkerung zu minimieren, bin ich als Pneumologe weiterhin für die Beibehaltung der bestehenden, politisch beschlossenen und gesetzlich festgelegten Grenzwerte“. Nur 47% der Befragten stimmten dieser Aussage zu; 53% lehnten sie ab.
Stickoxid-Tote?
Der in der Stellungnahme Köhlers herangezogene Vergleich mit dem Rauchen hinkt aus Sicht von Fernseh-Arzt Eckart von Hirschhausen mächtig: „Dass man direkt und kurzfristig an den Reizgasen und Feinstaub stirbt, hat ja keiner behauptet. Deshalb ist der Vergleich mit dem Rauchen auch hirnrissig. Raucher tun sich das selber an und zahlen den Preis von 7 bis 9 Jahren kürzerer Lebenserwartung. Wenn die sich selber ihre Stickoxide und Feinstaub reinziehen, ziehen sie mich nur bedingt passiv damit rein.“
Und weiter: „Aber die Luft zum Atmen kann sich kein Mensch aussuchen, das ist ein öffentliches Gut. Ärzte sollten auch fähig sein, Studien zu lesen, den Unterschied von Kausalität und Korrelation zu verstehen und korrekt zu zitieren. Stattdessen wird plump populistisch argumentiert nach dem Motto: ‚Ich habe noch nie einen Stickoxid-Toten gesehen‘“, wird von Hirschhausen deutlich.
„Natürlich steht das nicht auf dem Totenschein drauf. So wenig wie ‚eigene Doofheit‘ oder ‚Versagen der Politik, die Gesundheit über die Ökonomie zu stellen‘ auf einem Totenschein steht, auch wenn das die Ursache gewesen ist“, kommentiert er die Debatte auf Facebook. Grenzwerte, so seine Argumentation, sollten die Schwächsten schützen: Lungenkranke, Alte und Kinder.
Auch die europäischen Pneumologen teilen die Positionen Köhlers nicht
Köhlers Position ist auch international hoch umstritten. In einer Stellungnahme macht Prof. Dr. Tobias Welte von der Medizinischen Hochschule Hannover, derzeit Präsident der europäischen Pneumologen-Gesellschaft und Mitglied des International Forum of Respiratory Societies (FIRS), deutlich, dass die FIRS mit der Position der unterzeichnenden Pulmologen nicht konform geht „und mit den deutschen nationalen Normen, den europäischen Normen und den Normen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) übereinstimmt“.
Laut WHO, so die FIRS-Stellungnahme, verursache die Feinstaubbelastung im Freien (auch „Ruß“ oder PM2,5 genannt) 4,2 Millionen Todesfälle pro Jahr. „Obwohl Luftverschmutzung am stärksten die Lunge schädigt, kann sie auch andere Erkrankungen verursachen oder verschlimmern. Die akuten Auswirkungen der Luftverschmutzung sind dabei am deutlichsten, aber die chronischen Auswirkungen sind am häufigsten tödlich. Krebs, Herzerkrankungen, Geburtsfehler und sogar Demenz sind mit Luftverschmutzung verbunden, wobei PM2,5 und Dieselabgase oft die Schuldigen sind“, heißt es in dem Schreiben.
Dass die schädlichen Auswirkungen unbemerkt bleiben, habe die WHO veranlasst, die gesundheitlichen Auswirkungen der Luftverschmutzung als ‚stille Epidemie‘ zu bezeichnen. Je größer die Belastung und je geringer die Fähigkeit, mit Luftverschmutzung aufgrund eigener Erkrankung fertig zu werden, desto größer der verursachte Schaden.
Ausgesprochen deutlich wird auch Prof. Dr. Nino Künzli, Vizedirektor des Schweizerisches Tropen und Public Health Institut Basel (Swiss TPH) und Präsident der Eidgenössischen Kommission für Lufthygiene (EKL) des Bundesrates der Schweiz, gegenüber dem Science Media Center : „Die Grenzwert-Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO beruhen auf der gesamten weltweit verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz zu den Auswirkungen der Luftverschmutzung auf die Gesundheit.“
Diese experimentelle und epidemiologische Forschung schlage sich allein in den letzten 30 Jahren in etwa 70.000 wissenschaftlichen Arbeiten nieder. Diese Literatur wird von großen interdisziplinären Fachgremien regelmäßig neu beurteilt. „Die Herren Köhler, Hetzel (2 der Autoren der Stellungnahme) und ihre Jünger sucht man in dieser Wissenschaftsgemeinde vergeblich. Sie haben noch nie zu diesem Thema geforscht, weshalb sie auch noch nie in wissenschaftlichen Gremien zu diesen Fragestellungen tätig sein durften“, sagt Künzli.
In diesen Gremien werde Sachwissen verlangt. „Köhler, Hetzel und Co. verfügen über keinerlei epidemiologische Ausbildung, die sie dazu befähigen würde, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Umweltepidemiologie sachkundig zu beurteilen. Das sogenannte ‚Positionspapier‘ dieser Ärzte entbehrt jeglicher wissenschaftlicher Grundlage und argumentativer Kohärenz“, betont Künzli.
Auch Prof. Roy M. Harrison, Mitglied der Royal Society und Professor für Umweltmedizin, University of Birmingham, Vereinigtes Königreich, kommentiert die Stellungnahme Köhlers gegenüber dem Science Media Center: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Erklärung von Professor Köhler keine Fragen aufwirft, die von der Forschungsgemeinschaft im Bereich Luftverschmutzung und Gesundheit bisher nicht eingehend untersucht wurden. Sie bietet keine Grundlage, um den derzeitigen Konsens über das Verständnis in diesem Bereich in Frage zu stellen.“
„Trumpisierung“ – die Wissenschaft bleibt beschädigt zurück
Dass die Grenzwerte kritisch unter die Lupe genommen werden, geht für Beeh vollkommen in Ordnung. „Kritik an den Grenzwerten und vor allem der Verhältnismäßigkeit der angedachten Fahrverbote ist durchaus angebracht“, schreibt der Ärztliche Leiter des Instituts für Atemwegsforschung in Wiesbaden in seinem Gastbeitrag.
Unter den Unterzeichnern von Köhlers Stellungnahme befänden sich viele bekannte Kollegen von ihm, so Beeh. „Im Namen dieser Kollegen werden nun Hunderte qualifizierter Wissenschaftler, die sich zum Teil seit Jahrzehnten mit der Materie befassen und deren Arbeiten in hochrangigen medizinischen Zeitschriften mit Gutachterverfahren publiziert wurden, nicht etwa der Über- oder Fehlinterpretation von Daten, sondern schlicht der vorsätzlichen Lüge bezichtigt“, kritisiert er.
Damit hätten sie der wissenschaftlichen Auseinandersetzung einen Bärendienst erwiesen: „Gute – wissenschaftliche – Argumente sucht man in der Stellungnahme vergeblich. Es werden lediglich Behauptungen aufgestellt, ohne dafür auch nur eine einzige Studie zu zitieren, die diese Thesen untermauert“, erklärt Beeh.
Dass es auch anders gehe, zeige das im November 2018 von der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie veröffentlichte Positionspapier, in dem der Stand der Wissenschaft dargestellt und die aktuellen Grenzwerte im Wesentlichen gestützt werden (wie Medscape berichtete ). Das Positionspapier ist 50 Seiten lang und weist 451 Quellenangaben auf. „Man hätte sich gewünscht, die Stellungnahme (von Köhler) würde ihrerseits die eine oder andere Studie nennen, die den aktuellen Stand der Forschung (dass NOx oder Feinstaub in den in Deutschland gemessenen Konzentrationen sehr wohl gesundschädlich sind) widerlegt“, sagt Beeh.
Wie weit die „Trumpisierung‘ unserer Gesellschaft und einzelner Medien bereits fortgeschritten sei, habe man in der öffentlichen Diskussion beobachten können. Reproduzierbare Evidenz, die nicht passt, wird mit dem ‚Fake News‘-Vokabular von ‚Lüge‘, ‚Erfindung‘, ‚Hysterie‘ und ‚Ideologie‘ diffamiert. „Was man nicht widerlegen kann, glaubt man einfach nicht. Das Bild, das nach dieser Kontroverse von der medizinischen Wissenschaft bleiben wird, ist ein schwer beschädigtes“, konstatiert Beeh.
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Diesen Artikel so zitieren: Grenzwert-Diskussion bei Luftschadstoffen: „Gegen die gesamte weltweit verfügbare wissenschaftliche Evidenz“ - Medscape - 30. Jan 2019.
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