Meta-Analyse klärt für die WHO, wie viele und welche Ballaststoffe Herzleiden, Diabetes und Co. am besten vorbeugen

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

24. Januar 2019

Wer viele Vollkornprodukte und Ballaststoffe zu sich nimmt, senkt sein Risiko für eine Vielzahl nicht-übertragbarer Krankheiten. Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle, von der WHO in Auftrag gegebene Meta-Analyse, die ein Team um Dr. Andrew Reynolds von der neuseeländischen University of Otago in Dunedin jetzt im Fachblatt Lancet vorgestellt hat [1].

Die Forscher empfehlen, pro Tag mindestens 25 bis 29 g Ballaststoffe zu verzehren, und gehen zugleich davon aus, dass größere Mengen vermutlich noch positivere Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Weißmehlprodukte sollte man möglichst durch Vollkornvarianten ersetzen, raten die Autoren. Darüber hinaus fänden sich Ballaststoffe in Hülsenfrüchten, Gemüse und Obst. Ungeklärt bleibe hingegen die Wirkung künstlich hergestellter Ballaststoffe, die manchen industriell hergestellten Nahrungsmitteln zugesetzt und auch frei verkäuflich sind.

Die WHO hatte die Erstellung der Übersichtsarbeit veranlasst, um ihre Empfehlungen bezüglich einer wünschenswerten Kohlenhydrat-Qualität auf eine solidere wissenschaftliche Basis zu stellen. Insbesondere wollte die Gesundheitsbehörde ermitteln, welche täglichen Mengen an Ballaststoffen als optimal zu betrachten sind und welche Arten von Kohlenhydraten am besten geeignet sind, um nicht-übertragbaren Krankheiten (non-communicable diseases, kurz NCDs) und Übergewicht vorzubeugen.

Unklar sind die Auswirkungen von glykämischer Last und glykämischem Index

Wenig bis gar keine wünschenswerten Effekte haben Reynolds und seine Kollegen – anders als viele frühere Studien – bei einer Ernährung mit einer geringen glykämischen Last (also einem niedrigen Kohlenhydrat-Anteil, wie er in den seit Jahren populären Low-Carb-Diäten propagiert wird) oder bei Kostformen mit einem niedrigen glykämischen Index (GI) gefunden.

Der GI ist ein Wert, der Auskunft darüber erteilt, wie stark ein Kohlenhydrat-haltiges Nahrungsmittel den Blutzuckerspiegel ansteigen lässt.

Hierzulande werden im Schnitt nur 24 g Ballaststoffe am Tag verzehrt

„Bei der Arbeit von Reynolds und seinen Kollegen handelt es sich um eine große, sehr wichtige Studie, die noch einmal gut belegt, wie nötig es für die meisten Menschen ist, den Ballaststoff-Anteil in ihrer Ernährung zu erhöhen“, kommentiert Prof. Dr. Anette Buyken vom Institut für Ernährung, Konsum und Gesundheit an der Fakultät für Naturwissenschaften der Universität Paderborn im Gespräch mit Medscape.

Prof. Dr. Anette Buyken

„Es könnte jedoch sein, dass die positiven Assoziationen zwischen der Ballaststoffzufuhr und dem Erkrankungsrisiko in der aktuellen Analyse etwas überbewertet werden“, gibt Buyken zu bedenken. „Menschen, die viele Ballaststoffe zu sich nehmen, legen in aller Regel auch viele andere gesunde Verhaltensweisen an den Tag – und diese sind bei derartigen Untersuchungen oft nur schwer herauszurechnen.“ So habe eine im Jahr 2016 publizierte Cochrane-Übersichtsarbeit deutlich weniger positive Wirkungen von Ballaststoffen gefunden.

 
Menschen, die viele Ballaststoffe zu sich nehmen, zeigen oft auch viele andere gesunde Verhaltensweisen – und die sind bei solchen Untersuchungen nur schwer herauszurechnen. Prof. Dr. Anette Buyken
 

Buyken ist Mitglied des Wissenschaftlichen Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), die derzeit eine tägliche Aufnahme von 30 g Ballaststoffen empfiehlt. Damit tun sich viele Deutsche allerdings schwer: Wie die Nationale Verzehrsstudie II herausgefunden hat, kommen nur 25% der Frauen und 32% der Männer auf diesen Richtwert.

Im Schnitt liegt die Zufuhr bei Männern bei 25 g und bei Frauen bei 23 g Ballaststoffen am Tag. Die Empfehlungen der DGE bezüglich der Kohlenhydrate – wie auch die der WHO – werden derzeit allerdings überarbeitet. „Wir werden die aktuelle Studie bei unseren Diskussionen sicherlich berücksichtigen“, sagt Buyken.

Andere Studien messen dem glykämischen Index eine größere Bedeutung bei

Dennoch sieht die DGE-Expertin die Untersuchung von Reynolds und seinem Team nicht nur positiv. „Viele andere Studien sind sehr wohl zu dem Schluss gekommen, dass eine geringe glykämische Last und ein niedriger glykämischer Index positive Effekte auf die Gesundheit haben – insbesondere, wenn es um die Prävention von Typ-2-Diabetes geht“, sagt sie. „Von daher halte ich das Fazit der Wissenschaftler um Reynolds für womöglich etwas voreilig.“

Buyken geht vielmehr davon aus, dass bei der Kohlenhydrat-Zufuhr sowohl auf einen hohen Ballaststoff-Anteil als auch auf einen geringen GI geachtet werden sollte. „Ich denke, die Kombination ist wichtig“, sagt sie. Gerade vor dem Hintergrund, dass man etwa in Asien eine riesige Diabetes-Welle auf sich zukommen sehe, sei es nicht sinnvoll, den glykämischen Index von Lebensmitteln zu ignorieren.

 
Gesünder ist es, sich seine Ballaststoffe aus Obst, Gemüse, Hülsenfrüchten, Hafer, Roggen oder Gerste zu holen. Sie lassen den Blutzucker nicht so in die Höhe schießen (wie Reis). Prof. Dr. Anette Buyken
 

Der wichtigste Kohlenhydrat-Lieferant in Asien ist Reis, der meist einen vergleichsweise hohen GI hat. „Gesünder ist es, sich seine Ballaststoffe aus Obst, Gemüse, Hülsenfrüchten, Hafer, Roggen oder Gerste zu holen – also aus Lebensmitteln, die den Blutzucker nicht so in die Höhe schießen lassen, wie es viele Reis-Sorten oder auch die meisten Weizenprodukte tun“, ist Buyken überzeugt.

Analysiert wurden insgesamt mehr als 100 Millionen Probandenjahre

Für die aktuelle Übersichtsarbeit analysierten Reynolds und seine Kollegen 185 prospektive Beobachtungsstudien und 58 randomisierte kontrollierte Studien mit 4.635 erwachsenen Probanden. Insgesamt erhielten sie so Daten aus fast 135 Millionen Personenjahren. Nicht berücksichtigt wurden all jene Studien, bei denen chronisch Kranke miteingeschlossen waren, die auf eine Gewichtsreduktion abzielten oder bei denen Nahrungsergänzungsmittel erlaubt waren.

Wie die Wissenschaftler berichten, wiesen die Probanden mit dem höchsten Anteil an Ballaststoffen in ihrer Ernährung (35-39 g am Tag) gegenüber jenen mit dem niedrigsten Anteil (15-19 g am Tag) ein um 15-30% geringeres Risiko auf, an einem koronaren Herzleiden, Darmkrebs oder Typ-2-Diabetes zu erkranken oder einen Schlaganfall zu erleiden. Auch die Gesamtmortalität war entsprechend reduziert.

Pro 1.000 Teilnehmer führte der hohe Ballaststoff-Verzehr zur Vermeidung von 13 Todesfällen und 6 koronaren Herzerkrankungen. Darüber hinaus zeigte sich, dass eine Erhöhung der Ballaststoff-Zufuhr mit einem geringeren Körpergewicht und niedrigeren Cholesterin-Werten assoziiert war.

Die neue Studie ist eine der umfassendsten zum Thema Kohlenhydrate

„Frühere Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen haben sich fast immer auf einen einzelnen Indikator der Kohlenhydrat-Qualität und auf eine geringe Anzahl an Krankheiten beschränkt – sodass es nicht möglich war, fundierte Empfehlungen für oder gegen bestimmte Lebensmittel abzugeben, mit denen man sich vor einer ganzen Reihe an Erkrankungen schützen könnte“, wird der korrespondierende Autor der Studie, Prof. Dr. Jim Mann vom Department of Medicine der University of Otago in einer Pressemitteilung von Lancet zitiert [2].

 
Die Ergebnisse liefern eine überzeugende Evidenz für Empfehlungen, die sich für mehr Ballaststoffe und den Wechsel von raffiniertem Getreide zu Vollkornprodukten aussprechen. Prof. Dr. Jim Mann
 

„Unsere Ergebnisse liefern eine überzeugende Evidenz für Ernährungsempfehlungen, die sich für eine Erhöhung der Ballaststoff-Zufuhr und einen Wechsel von raffiniertem Getreide zu Vollkornprodukten aussprechen“, so Mann. Dies reduziere das Risiko, eine Vielzahl verbreiteter Erkrankungen zu entwickeln oder gar an ihnen zu sterben. Da die Wissenschaftler in ihre Analyse nur Studien mit gesunden Probanden eingeschlossen hatten, lassen sich ihre Schlussfolgerungen allerdings nicht ohne Weiteres auf chronisch kranke Patienten übertragen.

Auch Vollkornprodukte scheinen vor vielen Erkrankungen zu schützen

Konkret fand das Team um Mann und Reynolds heraus, dass sich mit jeder täglichen Erhöhung der Ballaststoff-Zufuhr um 8 g die Gesamtmortalität sowie das Risiko für koronare Herzerkrankungen, Typ-2-Diabetes und Darmkrebs um 5-27% reduzierte. Auch erhöhte sich der Schutz vor Schlaganfällen und Brustkrebs.

Eine tägliche Aufnahme von 25-29 Gramm Ballaststoffen scheint den untersuchten Studien zufolge ausreichend zu sein. Allerdings fanden sich auch Hinweise darauf, dass größere Mengen noch besser vor NCDs schützen könnten. Dies gelte jedoch vermutlich nicht für Menschen mit niedrigen Eisenwerten, schreiben die Forscher.

Pro 15 g mehr Vollkornprodukten am Tag reduzierte sich die Gesamtmortalität sowie das Risiko für koronare Herzerkrankungen, Typ-2-Diabetes und Darmkrebs um 2-19%. Probanden, die die meisten Vollkornprodukte zu sich nahmen, hatten gegenüber denjenigen, die die wenigsten aßen, ein um 13-33% geringeres Risiko für NCDs. Bezogen auf 1.000 Teilnehmer führte dies zu 26 weniger Todesfällen und 7 weniger koronaren Herzleiden. Zudem war eine erhöhte Aufnahme von Vollkornprodukten mit einem geringeren Körpergewicht assoziiert.

Da Vollkornprodukte viele Ballaststoffe enthalten, könnten sie über diese ihre positiven Wirkungen entfalten, mutmaßen die Autoren der Studie. Von Ballaststoffen sei bekannt, dass sie das Sättigungsgefühl erhöhten, somit Übergewicht vorbeugten und darüber hinaus die Blutfett- und Blutzuckerwerte positiv beeinflussten, erläutert der Mitverfasser Mann. Zudem würde ihr Abbau im Dickdarm durch die dort siedelnden Bakterien offenbar vor Darmkrebs schützen.

Die positiven Effekte eines niedrigen GI bleiben vorerst umstritten

Was die glykämische Last und den glykämischen Index betrifft, fanden die Forscher allenfalls Hinweise darauf, dass niedrigere Werte für beide Indikatoren vor Typ-2-Diabetes und Schlaganfällen schützen könnten. Nahrungsmittel mit geringer glykämischer Last oder einem niedrigen GI könnten zugesetzte Zuckerarten, gesättigte Fette oder viel Salz enthalten, was ihre positiven Effekte auf die Gesundheit weniger klar zum Vorschein kommen lassen könnte, spekulieren die Forscher.

„Dieses Argument gilt aber ganz genauso für ballaststoffreiche gesüßte Frühstücks-Cerealien oder Vollkornkekse“, merkt die DGE-Expertin Buyken dazu an.

In einem ebenfalls in Lancet veröffentlichten Kommentar zu der Studie lobt ein Team um den Ernährungsforscher Dr. Edward Chambers vom Imperial College London insbesondere die Kombination von prospektiven Beobachtungsstudien und randomisiert-kontrollierten Studien – die eine gute Evidenz für die Empfehlung lieferten, täglich zwischen 25 und 30 g Ballaststoffe aufzunehmen [3].

Vorsicht mahnen Chambers und seine Kollegen – ähnlich wie Buyken – jedoch an, wenn es darum geht, aus den untersuchten Studien Empfehlungen für den glykämischen Index abzuleiten. Die Zahl der diesbezüglichen Untersuchungen sei klein und deren Ergebnisse seien heterogen, schreiben sie. Buyken plädiert ohnehin dafür, in künftigen Empfehlungen auch den GI von Lebensmitteln trotz den Ergebnissen der jüngsten Analyse angemessen zu berücksichtigen.

 

Kommentar

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