Die WHO zählt die mangelnde Impfbereitschaft zu den größten Gesundheitsrisiken der Gegenwart und hat die Vermeidung oder Verzögerung von Impfungen deshalb in die Top-Ten-Liste der globalen Gesundheitsbedrohungen aufgenommen. Von Impfgegnern geht aus Sicht der WHO-Experten damit ein ähnlich großes Risiko für die weltweite Gesundheit aus wie von Antibiotika-Resistenzen, Ebola und Luftverschmutzung.
Impfungen verhindern laut WHO jedes Jahr weltweit 2 bis 3 Millionen Todesfälle. Weitere 1,5 Millionen könnten vermieden werden, wenn die Impfbereitschaft größer wäre. Als Beispiel verweist die WHO auf einen weltweiten Anstieg von Masern-Infektionen. Die Krankheit sei auch in jenen Ländern wieder aufgetreten, die kurz davor gewesen seien, sie zu eliminieren.
Für Prof. Dr. Karl Lauterbach ist die Einstufung der WHO Grund, über eine Impfpflicht nachzudenken: „Die Masernimpfung sollte in Deutschland Pflicht sein. Eltern, die selbstgerecht als ‚Google-Forscher‘ über den Rat der Kinderärzte weggehend ihren Kindern die Impfung vorenthalten, gefährden ihre Kinder und Ältere“, twittert der SPD-Gesundheitspolitiker.
„Eine Impfpflicht für Masern würde die ständigen gefährlichen Masernausbrüche verhindern. Sie können bei Kindern zu bleibenden Gehirnschäden und Behinderung führen. Hier gefährden wenige rücksichtslose Eltern viele Kinder.“ Das könne so nicht bleiben, betont Lauterbach.

Prof. Dr. Lothar H. Wieler
Impfen ist ein „Akt gesellschaftlicher Solidarität“, stellt auch Kordula Schulz-Asche, Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion für Prävention und Gesundheitswirtschaft gegenüber der WELT klar. Schulz-Asche allerdings hält Vertrauen in unabhängige und gute Beratung statt Zwang und Sanktionen für den richtigen Weg.
„Dass Impfgegner ein großes Gesundheitsrisiko darstellen, ist absolut zutreffend. Dies gilt insbesondere für die Masern“, sagte auch Karin Maag, die gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, der WELT. Maag verwies aber darauf, dass für die Prävention der Krankheit bereits viel getan werde, etwa der zeitweise Ausschluss ungeimpfter Kinder von der Kita. Eltern müssten auch ein hohes Bußgeld befürchten, wenn sie in solchen Fällen keine Impfberatung nachweisen können.
Eine Impfpflicht löst das Problem aus Sicht des RKI nicht
In Deutschland ist die Zahl der Masern-Infektionen gestiegen: von 325 Fällen im Jahr 2016 auf 929 Fälle im Jahr 2017. Ein Mensch starb daran, und mehr als 40% der Erkrankten mussten stationär behandelt werden. Weil die Impfquoten nicht hoch genug sind, kommt es immer wieder zu größeren Krankheitswellen wie 2018 in Köln.
Bis 2020 sollten die Masern eigentlich ausgerottet sein. Doch in den vergangenen Jahren hat die Zahl der Masern-Infektionen um bis zu 30% zugenommen, so die WHO. Als Grund nennt sie die wachsende Zahl von Impfgegnern in Industrieländern und arabischen Ländern.
Eine Pflichtimpfung ist aus Sicht des RKI dennoch keine Lösung. „Eine Impfpflicht bei Masern würde nicht nur nicht weiterhelfen, sie hätte jede Menge Nachteile“, sagt Susanne Glasmacher, Sprecherin des RKI. Denn maßgebliche Ursache der Masern-Ausbrüche der vergangenen Jahre sind die großen Impflücken bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Laut einer Studie des RKI sind bei den 18- bis 44-Jährigen mehr als 40% nicht gegen Masern geimpft. Vielen ist die STIKO-Empfehlung, dass die nach 1970 Geborene die Impfung nachholen oder vervollständigen sollen, nicht bekannt. „Eine Impfpflicht würde diese Erwachsenen gar nicht erreichen“, sagt Glasmacher.
„Bei den Schulanfängern liegt die Quote für die Masernimpfung bei 96 Prozent, daran sieht man schon, dass es sich nicht um ein grundsätzliches Akzeptanzproblem der Impfung handelt“, fährt Glasmacher fort. Sie sieht bei der Masernimpfung weniger ein „generelles Akzeptanzproblem“ als vielmehr einige strukturelle und logistische Probleme.
So erfolge die 2. Masernimpfung oft zu spät: „Zwischen 72 und 73 Prozent der 2-Jährigen sind vorbildlich gegen Masern geimpft“, berichtet Glasmacher. „Das restliche Drittel wird meist noch nachgeimpft, aber eben oft zu spät. „Erinnerungssysteme würden das Impfverhalten verbessern.“
Impfungen müssten niedrigschwelliger angeboten werden
Auch niedrigschwellige Angebote könnten das Impfverhalten verbessern: So könnten z.B. Betriebsärzte Erwachsene mit Impflücken nachimpfen. Das Problem: Bislang kann das nicht abgerechnet werden. Wichtig sei deshalb, Abrechnungshindernisse abzubauen, damit jeder Arztkontakt zum Schließen von Impflücken genutzt werden könne – sodass zum Beispiel der Kinderarzt die anwesenden Eltern mit impfen könne.
Auch Gesundheitsämter müssten personell und finanziell so ausgestattet sein, dass sie als kompetente Taktgeber vor Ort handeln könnten. Dass das funktionieren kann, zeige ein Projekt aus Hessen: In Zusammenarbeit mit niedergelassenen Kinderärzten gingen Mitarbeiter der Gesundheitsämter in die Schulen, um dort über die HPV-Impfung aufzuklären „die haben damit gute Erfolge erzielt“, so Glasmacher.
Auch die 2016 eingeführte verpflichtende Impfberatung vor dem Besuch einer Kindertagesstätte und die Impfstatus-Kontrolle bei den regelmäßigen Vorsorge-Untersuchungen im Kindesalter wie auch die J1-Untersuchung im Jugendalter sind wichtige Bausteine, um die Impfbereitschaft zu erhöhen.
„Der Anteil von Hardcore-Impfgegnern ist relativ gering, allerdings liegt der Anteil von Eltern, die ein Unbehagen gegenüber Impfungen haben, bei 20 bis 30 Prozent. Diese Menschen sind leicht zu verunsichern“, so Glasmacher weiter. „Die Masernimpfung wird schon lange eingesetzt, sie ist bekannt, es gibt kaum Nebenwirkungen – und dennoch ist die Masernimpfung offenbar der Lieblingsgegner vieler Impfverweigerer“, sagt die RKI-Sprecherin.
Impfangst wird in sozialen Netzwerken gezielt geschürt
Teilweise wird die Impfangst auch gezielt geschürt – wie eine Studie im American Journal of Public Health kürzlich bestätigt hat: Die Analyse von Dr. David A. Broniatowski und seinen Kollegen zeigt, dass Twitter-Bots und russische Trolle vor allem impfskeptische Meldungen in den sozialen Medien verbreitet und geteilt haben (wie Medscape berichtete). Die Forscher schätzen, dass ein signifikanter Anteil der gegen Schutzimpfungen gerichteten Tweets von Bots und gekaperten Accounts stammen und so gezielt Impfskepsis geschürt wird.
Konkret ermittelten die Forscher, dass Trolle 22-mal häufiger über Impfthemen twitterten als normale Twitter-Nutzer. Impfskeptische Posts mit den Hashtags #Vaxxed und #CDCWhistleblower erwiesen sich besonders oft als von Bots oder Trollen gepostet. „Solche Accounts, die sich als legitime Nutzer ausgeben, spielen damit die Debatte um das Impfen hoch und erwecken den falschen Eindruck, beide Seiten seien gleich stark vertreten – das untergräbt den öffentlichen Konsens zu Schutzimpfungen“, schreibt Broniatowski.
Impfberatung vor Impfpflicht
Leider zählten nicht nur Argumente und Fakten beim Thema Impfen, betont Glasmacher: „Gerade, wenn Menschen verunsichert sind, handeln sie lieber nicht, weil sie keine Fehler machen möchten.“
RKI-Präsident Prof. Dr. Lothar Wieler sieht hier Ärzte in einer wichtigen Rolle: Sie können jede Gelegenheit nutzen, um ihre Patienten nach dem Impfpass zu fragen. Impfberatung und Aufklärung, niederschwellige Angebote, Abbau von bürokratischen Hürden – Wieler sieht in Deutschland noch eine Menge Luft nach oben, bevor eine Impfpflicht in Erwägung gezogen werden sollte.
Offenbar hat sich trotz bestehender Impflücken die Einstellung zum Impfen gebessert, meint Dr. Heidrun Thaiss, Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). „Lediglich 5 Prozent der befragten 16- bis 85-Jährigen haben eine (eher) ablehnende Haltung, wie die Ergebnisse der bundesweiten Repräsentativbefragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigen. Wir sind grundsätzlich auf einem guten Weg, allerdings ist eine konsequente und zielgerichtete Impfaufklärung weiterhin notwendig. Denn wer geimpft ist, schützt nicht nur sich selbst, sondern auch die Gemeinschaft.“
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Diesen Artikel so zitieren: WHO zählt Impfgegner zu den größten Gesundheitsrisiken der Gegenwart – warum das RKI trotzdem keine Impfpflicht will - Medscape - 23. Jan 2019.
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